Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.607/2001
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1P.607/2001/sta

Urteil vom 11. Januar 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Nay, Féraud,
Gerichtsschreiber Störi.

X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Peter-René Wyder,
Bollwerk 21, Postfach 6624, 3001 Bern,

gegen

Untersuchungsrichter 1 für den Kanton Bern, Abteilung
Wirtschaftskriminalität, Speichergasse 12, 3011 Bern,
Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Abteilung Wirtschaftskriminalität,
Amthaus, 3011 Bern,
Obergericht des Kantons Bern, Anklagekammer, Hochschulstrasse 17, 3012 Bern.

Strafverfahren; Verweigerung der Mitteilung der erhobenen Anschuldigungen und
Verweigerung der vollumfänglichen Akteneinsicht.

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Bern vom 30. August 2001)

Sachverhalt:

A.
Der Kantonale Untersuchungsrichter 1 des Kantons Bern führt gegen X.________
ein Strafverfahren wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation,
Diebstahls, Hehlerei und Geldwäscherei. Er verdächtigt ihn, zusammen mit
A.________ in grossem Stil - die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons
Bern spricht im angefochtenen Entscheid von Umsätzen "in mehrfach
dreistelliger Millionenhöhe" - Geld gewaschen zu haben, indem sie über
verschiedene Gesellschaften aus dem Ausland Gelder in die Schweiz eingeführt,
es hier ohne ersichtlichen wirtschaftlichen Grund über verschiedene Konten
hin- und hergeschoben und anschliessend zum grossen Teil wieder ins Ausland
transferiert hätten. Ausserdem verdächtigt er X.________, an dem am 27.
Oktober 1978 u.a. von seinem langjährigen Bekannten B.________ im
Ikonen-Museum Schloss Autenried im Landkreis Günzburg/D durchgeführten
Einbruchdiebstahl beteiligt gewesen zu sein oder die gestohlenen Ikonen
übernommen zu haben.

Im Zuge dieses Strafverfahrens wurde X.________ am 18. September 2000 in
Untersuchungshaft genommen und am 20. Dezember 2000 gegen Leistung einer
Kaution von einer halben Million Franken unter weiteren Auflagen
(Schriftensperre, Meldepflicht, Kontaktverbot mit verschiedenen Personen) auf
freien Fuss gesetzt.

B.
Am 26. Juli 2001 verfügte der Kantonale Untersuchungsrichter 1:
"1. Der Antrag, dem Angeschuldigten X.________ sei mitzuteilen, welche
konkreten Straftaten ihm zur Last gelegt werden und auf welche Tatsachen sich
die Anschuldigungen stützen, wird, soweit nicht gegenstandslos geworden,
abgewiesen.

2.  Der Antrag um vollumfängliche Akteneinsicht wird insoweit gutgeheissen,
als die nachstehend aufgeführten Untersuchungsakten dem Angeschuldigten
X.________, vgt., vertreten durch Fürsprecher Peter-René Wyder, zur Einsicht
geöffnet werden: (Liste mit 9 Aktenstellen).

Soweit weitergehend wird der Antrag abgewiesen.

3. (Eröffnung)."
Zur Begründung führte er im Wesentlichen an, die Dichte, mit der die
Untersuchungsbehörde den Angeschuldigten über die gegen ihn erhobenen
Vorwürfe zu unterrichten habe, hänge vom Stand des Verfahrens ab: Zu Beginn
des Verfahrens genüge eine mehr summarische Information, während ihm im
Stadium der Anklageerhebung die Vorwürfe in allen Einzelheiten bekannt
gegeben werden müssten. Vorliegend sei angesichts des aktuellen
Verfahrensstandes die durch die EMRK gebotene Informationspflicht erfüllt;
der Beschwerdeführer habe aufgrund des bisherigen Verfahrens, der Eingaben an
das Haftgericht sowie der durchgeführten Einvernahmen hinreichend Kenntnis
der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen. Ein weiter gehender Anspruch bestehe
nicht. Was die Akteneinsicht betreffe, so könne dem Antrag teilweise
entsprochen werden. Hingegen habe die Prüfung der übrigen Unterlagen -
namentlich Akten im Zusammenhang mit den an verschiedene deutsche
Staatsanwaltschaften gestellten Rechtshilfebegehren - noch nicht
abgeschlossen werden können. Da bisher weder die Angeschuldigten noch
allfällige weitere beteiligte Personen hätten dazu befragt werden können,
bestehe weiterhin Kollusionsgefahr, weshalb die Einsichtnahme in diese
Unterlagen zur Zeit zu verweigern sei.

Die Anklagekammer der Obergerichts des Kantons Bern wies die Beschwerde und
den Rekurs von X.________ gegen diese untersuchungsrichterliche Verfügung am
30. August 2001 ab.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 19. September 2001 wegen Verletzung von
Art. 5 Ziff. 2 und Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK, Art. 31 Abs. 2 BV und Art. 26
Abs. 2 der Verfassung des Kantons Bern vom 6. Juni 1993 (KV) beantragt
X.________, den Entscheid der Anklagekammer vom 30. August 2001 aufzuheben
und den Kantonalen Untersuchungsrichter 1 anzuweisen, ihm vollumfängliche
Akteneinsicht in der Voruntersuchung zu gewähren und ihm "schriftlich den
konkreten Grund der Beschuldigung mitzuteilen, d.h. Ort, Zeit und Gegenstand
der strafbaren Handlung(en) inkl. Namen der angeblichen Opfer und
Deliktsbetrag und der Beweismittel".

Der Kantonale Untersuchungsrichter 1 beantragt in seiner Vernehmlassung, die
Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Die Anklagekammer und
die Staatsanwaltschaft verzichten unter Verweis auf die Vernehmlassung des
Untersuchungsrichters 1 sowie den angefochtenen Entscheid auf weitergehende
Stellungnahme.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der angefochtene Entscheid der Anklagekammer schliesst das Verfahren nicht
ab. Es handelt sich daher um einen letztinstanzlichen kantonalen
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG, gegen den die
staatsrechtliche Beschwerde nur zulässig ist, wenn er einen nicht
wiedergutzumachenden Nachteil bewirken kann. Nach ständiger Rechtsprechung
muss es sich dabei um einen Nachteil rechtlicher Natur handeln, der auch mit
einem späteren günstigen Entscheid nicht gänzlich behoben werden kann (BGE
126 I 207 E. 2 mit Hinweisen).
Soweit Mängel bei der Durchführung eines Strafverfahrens durch die
Wiederholung des Verfahrens behebbar sind, bewirken sie keine nicht
wiedergutzumachende Nachteile rechtlicher Natur. Hingegen anerkennt die
Rechtsprechung namentlich, dass durch die Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung zumeist ein nicht wiedergutzumachender
Nachteil rechtlicher Natur droht, da die Nachteile, die einem nicht
verbeiständeten Angeschuldigten in einem Strafverfahren drohen können, durch
die Wiederholung des Verfahrens nach einem erfolgreichen
Rechtsmittelverfahren wegen der Verweigerung der unentgeltlichen
Verbeiständung kaum je gänzlich zu beheben sind (BGE 126 I 207 E. 2a).

1.1 Der angefochtene Entscheid schützt einerseits die (vorläufige) Weigerung
des Untersuchungsrichters, dem Beschwerdeführer Einsicht in alle Akten zu
gewähren. Der Beschwerdeführer legt nicht oder jedenfalls nicht in einer den
gesetzlichen Anforderungen von Art. 90 Ziff. 1. lit. b OG genügenden Weise
(BGE 127 I 38 E. 3c; 125 I 492 E. 1b) dar, inwiefern ihm dadurch ein nicht
wiedergutzumachender Nachteil im dargelegten Sinne drohen könnte, und das ist
auch nicht ersichtlich. Auf die Beschwerde ist somit in diesem Punkt nicht
einzutreten.

1.2 Anderseits schützt der angefochtene Entscheid die (vorläufige) Weigerung
des Untersuchungsrichters, die gegen den Beschwerdeführer bestehenden
Vorwürfe näher zu konkretisieren. In diesem Punkt droht dem Beschwerdeführer
ein nicht wiedergutzumachender Nachteil. Nach Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6
Ziff. 3 lit. a EMRK hat eine beschuldigte Person Anspruch, möglichst rasch
und umfassend über die gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu
werden. Dieser Anspruch besteht während der ganzen Verfahrensdauer und kann
somit grundsätzlich jederzeit geltend gemacht werden. Eine allfällige
Verletzung kann bloss festgestellt und sanktioniert, aber nicht
wiedergutgemacht werden: selbst wenn die beschuldigte Person in einem
späteren Zeitpunkt des Verfahrens über die gegen sie erhobenen Vorwürfe
vollumfänglich informiert wird, wird dadurch die vorher erfolgte Verfassungs-
bzw. Konventionsverletzung nicht behoben.

1.3 Die Anklagekammer hat im angefochtenen Entscheid ausgeführt, der
Beschwerdeführer sei während seiner Inhaftierung vom 14. September 2000 bis
zum 18. Dezember 2000 fünfmal vom Untersuchungsrichter und siebenmal von der
Polizei, nach seiner Entlassung noch zweimal vom Untersuchungsrichter und
einmal von der Polizei befragt worden, wobei praktisch jedesmal sein
Verteidiger anwesend gewesen sei und er ausführlich befragt und mit
Vorhalten, erhobenen Dokumenten und den Ergebnissen der Telefonabhörungen
konfrontiert worden sei. Aus den dabei erstellten umfangreichen
Befragungsprotokollen werde ohne weiteres klar, um was es bei der
Untersuchung konkret gehe. Dies ergebe sich im Übrigen schon aus der
Begründung des Haftantrags des Untersuchungsrichters und dem Haftentscheid
des Haftgerichts III Bern-Mittelland vom 18. September 2000; die Einvernahmen
durch die Polizei und den Untersuchungsrichter hätten sich immer - und immer
vertiefter - um den gleichen Themenkreis bewegt. Es treffe daher keineswegs
zu, dass der Beschwerdeführer nicht wisse, was ihm konkret vorgeworfen werde,
der Vorwurf sei unbegründet.

1.4 Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, ist nicht geeignet, diese
plausiblen Ausführungen in Frage zu stellen. Soweit er ausführt, auf die
belastende Aussage C.________, welche ihn beschuldigt habe, in illegale
Geschäfte in Russland verwickelt gewesen zu sein, dürfe nicht abgestellt
werden, weil die Zeugin diese Aussage später widerrufen habe, bestätigt er
damit gerade, dass er über die gegen ihn gestützt auf diese Aussagen
erhobenen Vorwürfe unterrichtet war. Ob diese Belastungen glaubhaft sind oder
nicht, ist eine andere Frage, die in diesem Zusammenhang keine Bedeutung hat.
Das Gleiche gilt, wenn er ausführt, es seien ihm bis anhin in Bezug auf die
angeblich verdächtigen Banktransaktionen nie Belege gezeigt worden, die seine
Unterschrift trügen: damit bestätigt er, dass er sehr wohl darüber ins Bild
gesetzt wurde, welche Transaktionen der Untersuchungsrichter als
möglicherweise strafrechtlich relevant ansieht. An der Sache vorbei geht
schliesslich der Vorwurf, er sei nicht darüber informiert worden, gegen wen
alles der Untersuchungsrichter noch ermittle und welche Anschuldigungen er
gegen diese Personen erhebe. Sein verfassungs- und konventionsrechtlicher
Informationsanspruch bezieht sich nur auf das gegen ihn gerichtete Verfahren,
und er macht nicht geltend, diese Ermittlungen gegen unbekannte Personen
würden ihn selber belasten, sodass er allenfalls aus diesem Grund im jetzigen
Zeitpunkt Anspruch hätte, darüber informiert zu werden. Soweit die Rüge
überhaupt in einer den gesetzlichen Anforderungen von Art. 90 Ziff. 1 lit. b
OG genügenden Weise begründet ist, ist sie daher unbegründet.

2.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 156
Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten
werden kann.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Untersuchungsrichter 1 für den
Kanton Bern, Abteilung Wirtschaftskriminalität, sowie der Staatsanwaltschaft,
Abteilung Wirtschaftskriminalität, und dem Obergericht des Kantons Bern,
Anklagekammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. Januar 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: