Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.601/2001
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1P.601/2001/bie

Urteil vom 7. März 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Leuthold.

X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Monika
Brenner, Paradiesstrasse 4, 9030 Abtwil SG,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz, Postfach 560, 6431 Schwyz,
Kantonsgericht des Kantons Schwyz, Strafkammer, Schmiedgasse 1, 6430 Schwyz.

Strafverfahren; Beweiswürdigung

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil
des Kantonsgerichts des Kantons Schwyz, Strafkammer,
vom 19. Juni 2001)
Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Höfe sprach X.________ mit Urteil vom 21. November 1997
der "fahrlässigen Tötung im Sinne von Art. 117 StGB durch ungenügende
Rücksichtnahme auf den übrigen Verkehr beim Verlassen des Fahrstreifens im
Sinne von Art. 34 Abs. 3 und Art. 44 Abs. 1 SVG" schuldig. Es bestrafte ihn
mit einer Busse von Fr. 1'000.--, bedingt löschbar nach zwei Jahren.
X.________ legte gegen das Urteil des Bezirksgerichts Berufung ein. Das
Kantonsgericht des Kantons Schwyz wies die Berufung am 19. Juni 2001 ab.

B.
Gegen den Entscheid des Kantonsgerichts erhob X.________ mit Eingabe vom 14.
September 2001 beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde. Er beantragt,
das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache sei zur Neubeurteilung
an die kantonale Instanz zurückzuweisen.

C.
Das Kantonsgericht Schwyz stellt den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen,
soweit darauf einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz
verzichtete auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bezirksgericht ging bei seinem Schuldspruch von folgenden Tatsachen und
Überlegungen aus:

Der Beschwerdeführer sei am 3. Juli 1996, um ca. 7.30 Uhr, mit dem Lastwagen
seiner Arbeitgeberfirma auf der Kantonsstrasse A8 von Schindellegi in
Richtung Biberbrugg gefahren. Nach dem sog. "Chaltenbodenrank" habe er die
rechte Spur der dort beginnenden Doppelspur der Fahrbahn benutzt. Auf der
linken Spur sei der Motorradlenker Y.________ gefahren. Der Beschwerdeführer
habe mit dem Lastwagen einen "unvermittelten Schwenker" in die linke Fahrspur
gemacht. In diesem Moment sei der Motorradlenker bereits auf der Höhe des
hinteren Bereichs des Lastwagens (Heck oder Hinterrad) gewesen. Vor dem
Schwenker in die linke Spur habe der Beschwerdeführer nicht genügend geklärt,
ob diese Spur frei gewesen sei. Das Fahrmanöver des Beschwerdeführers habe
dazu geführt, dass der Motorradlenker gestürzt sei und sich dabei tödliche
Verletzungen zugezogen habe.
Das Bezirksgericht stützte sich bei der Feststellung des Sachverhaltes auf
die Aussagen der Zeugen A.________, B.________, C.________ und D.________.
Zur Zeit des Unfalls waren A.________ (als Lenker) und B.________ (als
Beifahrer) im ersten Personenwagen und C.________ im zweiten Auto hinter dem
Lastwagen des Beschwerdeführers gefahren; D.________ war auf der durch die
Leitplanke abgetrennten Gegenfahrbahn mit seinem Lastwagen unterwegs gewesen.

2.
Der Beschwerdeführer stellte in seiner gegen das erstinstanzliche Urteil
erhobenen Berufung verschiedene Begehren um Beweisergänzung. Er beantragte,
der Fahrtschreiber seines Lastwagens sei polizeitechnisch auszuwerten; sodann
seien eine verkehrstechnische Expertise und ein massstabgetreuer Unfallplan
anzufertigen; ausserdem seien die Zeugen B.________ und A.________ nochmals
einzuvernehmen.

Das Kantonsgericht lehnte diese Anträge ab. Es führte eine
Berufungsverhandlung mit Parteivorträgen und Befragung des Beschwerdeführers
durch und bestätigte den Schuldspruch des Bezirksgerichts.

3.
Der Beschwerdeführer wirft dem Kantonsgericht vor, es habe den Anspruch auf
rechtliches Gehör nach "Art. 4 BV" (richtig: Art. 29 Abs. 2 BV), das
Willkürverbot gemäss "Art. 4 BV" (richtig: Art. 9 BV) und den Grundsatz "in
dubio pro reo" nach "Art. 4 BV" (richtig: Art. 32 Abs. 1 BV) verletzt.

3.1 Er erblickt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darin, dass die
Berufungsinstanz seinen Begehren um Beweisergänzung nicht entsprochen habe.

Das Kantonsgericht gelangte in vorweggenommener Beweiswürdigung zum Schluss,
die vom Beschwerdeführer verlangten Beweisergänzungen seien unnötig, da sich
der massgebende Sachverhalt aus den Zeugenaussagen klar ergebe.

Der Sachrichter verfügt im Bereich der Beweiswürdigung über einen weiten
Ermessensspielraum. Das Bundesgericht kann die Beweiswürdigung nur unter dem
Gesichtswinkel des Willkürverbots prüfen. Willkür im Sinne von Art. 9 BV bzw.
der bisherigen Praxis zu Art. 4 aBV liegt vor, wenn die Beweiswürdigung
offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch steht, auf einem offenkundigen Versehen beruht oder in stossender
Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 124
I 208 E. 4a S. 211; 124 IV 86 E. 2a S. 88, je mit Hinweisen). Wird - wie im
vorliegenden Fall - mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung des
Grundsatzes "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel gerügt, so kann das
Bundesgericht nur eingreifen, wenn der Sachrichter den Angeklagten
verurteilte, obgleich bei objektiver Würdigung des ganzen Beweisergebnisses
offensichtlich erhebliche und schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel
an der Schuld des Angeklagten fortbestanden (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 124 IV
86 E. 2a S. 88; 120 Ia 31 E. 2d S. 38).

3.2 Das Kantonsgericht hielt im angefochtenen Entscheid fest, aus den
Aussagen der Zeugen C.________, B.________ und A.________ ergebe sich, dass
der Lastwagen des Beschwerdeführers einen plötzlichen Schwenker auf die
Überholspur gemacht habe, als der Motorradfahrer im Begriff gewesen sei, den
Lastwagen zu überholen. Die Aussagen der drei Zeugen stimmten im Kern nicht
nur untereinander überein, sondern seien auch mit den Angaben des
Beschwerdeführers insoweit vereinbar, als er zugebe, mit dem Lastwagen einen
Schwenker über die Mittellinie gemacht zu haben. Dass der Motorradfahrer -
wie der Beschwerdeführer geltend machen wolle - zu diesem Zeitpunkt noch ein
Stück weit hinter dem Lastwagen gewesen sei, könne aufgrund der überzeugenden
Zeugenaussagen nicht zutreffen. Danach sei der Motorradfahrer auf der
Überholspur bis in den Bereich des Lastwagenhecks bzw. des Hinterrades des
Lastwagens gelangt und dann durch den Schwenker des Lastwagens behindert
worden bzw. zu Fall gekommen. Wenn sich der Motorradfahrer aber im
Heckbereich des Lastwagens auf der Überholspur befunden habe, so hätte der
Beschwerdeführer ihn sehen müssen, sofern er im Spiegel die Überholspur
unmittelbar vor seinem Schwenker aufmerksam beobachtet hätte.

Das Kantonsgericht vertrat die Ansicht, es brauche spurenmässig nicht
ermittelt zu werden, wie weit der Lastwagen des Beschwerdeführers die linke
Spur beansprucht habe. Es genüge die aufgrund der diesbezüglich
übereinstimmenden Zeugenaussagen gesicherte Feststellung, dass der
Motorradfahrer im Heckbereich des Lastwagens infolge des auch vom
Beschwerdeführer zugegebenen Ausschwenkens gestürzt sei. Bei dieser Sachlage
dränge sich auch eine Ermittlung der genauen Geschwindigkeiten des Motorrades
und des Lastwagens durch ein verkehrstechnisches Gutachten bzw. eine
Auswertung des Fahrtschreibers des Lastwagens sowie die Erstellung eines
massstabgetreuen Unfallplanes nicht auf. Die Zeugen hätten unmissverständlich
ausgesagt, dass der Motorradfahrer mit angemessener Geschwindigkeit unterwegs
gewesen und durch den Schwenker des Lastwagens zu Fall gebracht worden sei.

3.3 Der Beschwerdeführer beklagt sich über eine willkürliche Beweiswürdigung,
wobei er vor allem geltend macht, das Kantonsgericht habe übersehen, dass
sich die Aussagen der Zeugen zum Teil untereinander widersprächen und dass
sie zum Teil "in sich selbst nicht konsistent" seien.

3.3.1 Was er in seiner Beschwerde unter dem Titel "Verletzung des
Willkürverbotes" (Ziff. IV/1/1-7) vorbringt, stellt jedoch zum grössten Teil
eine rein appellatorische Kritik dar, auf die in einem staatsrechtlichen
Beschwerdeverfahren nicht eingetreten werden kann (BGE 125 I 492 E. 1b S. 495
mit Hinweisen).

3.3.2 Der Beschwerdeführer bestreitet, dass er bei seinem Fahrmanöver den
Verkehr nicht genügend beobachtet und den Motorradfahrer übersehen habe. Er
behauptet, er habe zweimal in den Aussenspiegel geblickt. Beim ersten Mal sei
vom Motorradfahrer nichts zu sehen gewesen, beim zweiten Mal habe er ihn
bereits stürzen sehen. Für den Umstand, dass er den Motorradfahrer beim
ersten Blick in den Aussenspiegel nicht gesehen habe, gebe es zwei
Erklärungen, die ihn entlasten würden: Entweder sei der Motorradfahrer
zunächst hinter dem Lastwagen, d.h. auf der rechten Spur, gewesen und dann
zum Überholen auf die linke Spur gefahren, oder der Motorradfahrer sei mit so
hoher Geschwindigkeit auf die Überholspur gekommen, dass er - der
Beschwerdeführer - mit ihm nicht habe rechnen müssen.

Hinsichtlich der ersten Möglichkeit macht der Beschwerdeführer geltend, das
Kantonsgericht habe festgehalten, dass keiner der Zeugen angegeben habe, der
Motorradfahrer sei zeitweise auf der rechten Spur gefahren. Diese
Feststellung sei aktenwidrig, denn der Zeuge A.________ habe wörtlich
ausgesagt: "Zuhinterst fuhr ich, vor mir der Motorradfahrer, dann der
Lastwagen". Das Kantonsgericht habe diese Aussage willkürlich
"uminterpretiert", indem es erklärt habe, damit sei die Reihenfolge der
Fahrzeuge auf beiden Spuren gemeint.
Im angefochtenen Entscheid wurde mit Grund betont, der Zeuge A.________ habe
die Frage der Untersuchungsrichterin, ob es zwischen ihm und dem Lastwagen
noch weitere Fahrzeuge gehabt habe, verneint, und er habe bereits bei der
polizeilichen Befragung ausgesagt, dass der Motorradfahrer vor ihm in der
linken Spur gefahren sei. Unter diesen Umständen ist die Ansicht vertretbar,
die vom Beschwerdeführer zitierte Aussage des Zeugen A.________ beziehe sich
auf die Reihenfolge der Fahrzeuge auf beiden Spuren. Verhält es sich so, dann
ist auch die Rüge unzutreffend, das Kantonsgericht habe aktenwidrig
festgestellt, dass keiner der Zeugen angegeben habe, der Motorradfahrer sei
zeitweise auf der rechten Spur gefahren.

Bezüglich der vom Beschwerdeführer erwähnten zweiten Möglichkeit, wonach der
Motorradfahrer zu schnell gefahren sei, wurde im angefochtenen Entscheid
erklärt, die Zeugen hätten den Eindruck gehabt, der Motorradfahrer sei auf
der Überholspur normal und mit angepasster Geschwindigkeit gefahren. In der
staatsrechtlichen Beschwerde wird nichts vorgebracht, was geeignet wäre,
diese Auffassung als verfassungswidrig erscheinen zu lassen.

Das Kantonsgericht konnte mit guten Gründen annehmen, aufgrund der Aussagen
der Zeugen C.________, B.________ und A.________ sei erstellt, dass der
Motorradfahrer bei seiner Fahrt auf der Überholspur im Heckbereich des
Lastwagens des Beschwerdeführers infolge des von diesem vorgenommenen
Schwenkers gestürzt sei. Es verletzte daher Art. 29 Abs. 2 BV nicht, wenn es
die vom Beschwerdeführer gestellten Anträge auf Beweisergänzung ablehnte. Das
Kantonsgericht hat die Beweise nicht willkürlich gewürdigt, wenn es zum
Schluss gelangte, es sei erwiesen, dass der Motorradfahrer auf der
Überholspur durch den vom Beschwerdeführer eingeleiteten Fahrspurwechsel in
seiner Fahrt behindert worden sei bzw. der Beschwerdeführer dabei auf den
Motorradfahrer zu wenig Rücksicht genommen habe. Bei objektiver Würdigung des
ganzen Beweisergebnisses blieben auch keine offensichtlich erheblichen und
schlechterdings nicht zu unterdrückenden Zweifel an der Schuld des
Beschwerdeführers bestehen. Das Kantonsgericht verstiess nicht gegen die
Verfassung, wenn es die Berufung abwies und das Urteil des Bezirksgerichts
bestätigte.

Nach dem Gesagten ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit
darauf eingetreten werden kann.

4.
Die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens sind gemäss Art. 156 Abs. 1 OG
dem Beschwerdeführer aufzuerlegen. Ein Anspruch auf eine Parteientschädigung
besteht nicht (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten
werden kann.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Kantonsgericht des Kantons Schwyz, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. März 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: