Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.599/2001
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001


1P.599/2001/mks

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                     16. November 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Aeschlimann, Ersatzrichterin Pont Veuthey und
Gerichtsschreiber Steinmann.

                         ---------

                         In Sachen

X.________, z.Zt. in der Strafanstalt Pöschwies, Regensdorf,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Max
Birkenmaier, Walchestrasse 17, Zürich,

                           gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons  T h u r g a u,
Präsident der Anklagekammer des Kantons  T h u r g a u,

                         betreffend
   Art. 9 und 29 BV sowie Art. 13 EMRK (Haftbedingungen),

hat sich ergeben:

     A.- X.________ befand sich vom 11. März 1999 bis zum
21. Dezember 1999 im Bezirksgefängnis Frauenfeld in Haft
(vorerst Untersuchungshaft, ab 3. Dezember 1999 Sicherheits-
haft). Danach wurde er in die Kantonale Strafanstalt Pösch-
wies zum Vollzug einer auf Urteile des Geschworenengerichts
des Kantons Zürich und des Obergerichts des Kantons Zug zu-
rückgehenden Verwahrung verlegt.

        Mit Eingabe vom 5. Juni 1999 beanstandete
X.________ seine Haftbedingungen; am 10. September 1999
liess er die Eingabe ergänzen. Er bemängelte insbesondere,
dass er keinen Zugang zu einem Computer und Drucker habe,
ihm die Möglichkeit einer Arbeitsverrichtung verwehrt werde,
er keinen Zugang zu Tageszeitungen und einem Fernsehgerät
habe und ihm ein Hofgang von lediglich 60 Minuten pro Tag
gewährt werde. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau
wies die Beschwerde mit Ausnahme der den Zugang zu Tages-
zeitungen betreffenden Beanstandung am 19. November 1999 ab.

        Am 2. Dezember 1999 liess X.________ bei der
Anklagekammer des Kantons Thurgau Beschwerde erheben. Deren
Präsident schrieb die Beschwerde indessen mit Entscheid vom
3. August 2001 zufolge Gegenstandslosigkeit ab, verzichtete
auf eine Verfahrensgebühr und entschädigte den Rechtsver-
treter.

     B.- Gegen diesen Entscheid des Präsidenten der Anklage-
kammer hat X.________ am 17. September 2001 beim Bundes-
gericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er beantragt
die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und ersucht um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Zur Begründung

macht er eine Verletzung von Art. 9 und 29 BV sowie von
Art. 13 EMRK geltend.

        Die Staatsanwaltschaft beantragt mit materiellen
Erwägungen und dem Hinweis, dass der Beschwerdeführer eine
Verlegung ins Kantonalgefängnis mit günstigeren Haftbedin-
gungen und Einrichtungen abgelehnt hatte, Nichteintreten
auf die Beschwerde. Der Präsident der Anklagekammer
schliesst auf deren Abweisung.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Der Präsident der Anklagekammer hat die Beschwerde
betreffend die Haftbedingungen im Bezirksgefängnis Frauen-
feld materiell nicht geprüft, sondern wegen Gegenstands-
losigkeit abgeschrieben. Bei dieser Sachlage ist der Be-
schwerdeführer ohne weiteres legitimiert, den Abschreibungs-
beschluss wegen formeller Rechtsverweigerung anzufechten.
Hierfür kann er sich auf Art. 29 BV (in Verbindung mit
Art. 9 BV) sowie auf Art. 13 EMRK berufen.

        Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist einzig
die Frage, ob der Präsident der Anklagekammer die bei ihm
erhobene Beschwerde wegen Gegenstandslosigkeit abschreiben
durfte. Hingegen sind die Haftbedingungen im Bezirksgefäng-
nis Frauenfeld als solche nicht zu prüfen. Auf die Ausfüh-
rungen materieller Natur sowohl des Beschwerdeführers als
auch der Staatsanwaltschaft ist daher nicht einzugehen.
Ebenso wenig stehen die Verlegung des Beschwerdeführers in
die Strafanstalt Pöschwies und die damit zusammenhängenden
Verfahrensumstände (rechtliches Gehör) zur Diskussion.

     2.- Im angefochtenen Entscheid wird die Gegenstands-
losigkeit der Beschwerde nicht auf ausdrücklich genanntes
kantonales Prozessrecht gestützt, sondern mit einer all-
gemeinen Erwägung und einem Verweis auf die bundesgericht-
liche Rechtsprechung (Art. 88 OG) begründet. In gleicher
Weise setzt sich der Beschwerdeführer nicht mit der Anwen-
dung bestimmter Normen des kantonalen Verfahrensrechts aus-
einander. Demnach ist die vorliegende Beschwerde einzig vor
dem Hintergrund der Verfassung zu prüfen.

        a) Im angefochtenen Entscheid führt der Präsident
der Anklagekammer aus, die Haftbeschwerde sei zum einen
gegenstandslos geworden, weil der Beschwerdeführer nur bis
zum 3. Dezember 1999 in Untersuchungshaft und ab diesem
Datum in Sicherheitshaft war. Nach § 114 Abs. 2 der Straf-
prozessordnung des Kantons Thurgau (StPO) kann die Sicher-
heitshaft in einer Strafanstalt vollzogen werden. Für den
vorliegenden Fall ist nun aber kaum ersichtlich, inwiefern
die Möglichkeit eines andern Vollzugs eine Beschwerde wegen
beanstandeter Haftbedingungen dahinfallen lassen könnte.
Denn der Beschwerdeführer ist - bis zu seiner Verlegung in
die zürcherische Strafanstalt am 21. Dezember 1999 - tat-
sächlich im Bezirksgefängnis Frauenfeld verblieben. Dass mit
der Anordnung der Sicherheitshaft die Haftbedingungen ge-
ändert worden wären und aus diesem Grunde die Beschwerde
gegenstandslos geworden wäre, wird im angefochtenen Ent-
scheid nicht dargelegt.

        Wie es sich damit verhält, kann indessen offen
bleiben. Denn der Präsident der Anklagekammer hat die Be-
schwerde zum andern auch deshalb als gegenstandslos be-
zeichnet, weil der Beschwerdeführer am 21. Dezember 1999
in die Strafanstalt Pöschwies verlegt wurde. Im Folgenden
ist zu prüfen, ob der angefochtene Entscheid unter diesem
Gesichtswinkel vor der Verfassung standzuhalten vermag.

        b) Nach der Rechtsprechung zu Art. 88 OG verlangt
das Bundesgericht, dass ein Beschwerdeführer ein aktuelles
praktisches Interesse an der Behandlung einer Beschwerde
hat. Hinsichtlich von Beschwerden, mit denen die Anordnung
oder Fortführung von Untersuchungshaft angefochten wird,
nimmt das Bundesgericht an, dass mit der Entlassung aus der
Haft kein aktuelles praktisches Interesse an deren Behand-
lung mehr besteht. Ein praktisches Interesse bestehe ins-
besondere auch nicht im Hinblick auf ein allfälliges späte-
res Entschädigungsbegehren (BGE 125 I 394 E. 4a S. 397, mit
Hinweisen auf 110 Ia 140). Ausnahmsweise könne hingegen auf
das Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses ver-
zichtet werden, wenn sich die aufgeworfenen Fragen jederzeit
unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen kön-
nen, an deren Beantwortung wegen der grundsätzlichen Bedeu-
tung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht und
sie im Einzelfall kaum je verfassungsgerichtlich geprüft
werden können. An diesen Voraussetzungen fehle es indessen
bei der Mehrzahl der Haftbeschwerden (BGE 125 I 394 E. 4a
S. 397, mit Hinweisen). Diese Rechtsprechung zum aktuellen
Interesse an Haftbeschwerden hat das Bundesgericht auch in
kantonalen Verfahren zur Anwendung gebracht (Urteil vom
2. September 1994 i.S. B.).

        c) Es ist verfassungsrechtlich haltbar, diese
Rechtsprechung auch auf Beschwerden zu übertragen, mit denen
die konkreten Haftbedingungen beanstandet werden. Mit der
Entlassung aus der Haft - welches auch der Grund hierfür
sein mag - verliert die betroffene Person ein aktuelles
praktisches Interesse an deren Anfechtung. Darüber hinaus
erscheinen auch die Voraussetzungen für einen Verzicht auf
ein solches nicht gegeben. Im Allgemeinen ist es durchaus
möglich, die Haftbedingungen während der Haft in wirksamer
Weise überprüfen zu lassen. Sollte der Beschwerdeführer
erneut in demselben Bezirksgefängnis Frauenfeld in Unter-

suchungs- oder Sicherheitshaft versetzt werden - wofür zur
Zeit keinerlei Anhaltspunkte bestehen -, könnte er die dann-
zumal geltenden Haftbedingungen erneut anfechten. Die vom
Beschwerdeführer angesprochene Entschädigung nach § 65 StPO
bezieht sich vor allem auf die Freiheitsentziehung als sol-
che; soweit er in diesem Rahmen Schadenersatz oder Genug-
tuung verlangt, bedarf es ebenso wenig einer abschliessenden
Beurteilung im jetzigen Moment wie im Falle von gegenstands-
los gewordenen Haftbeschwerden (vgl. BGE 125 I 394 E. 4a
S. 397). Schliesslich ist das Vorbringen, Beschwerden wegen
der Haftbedingungen beträfen in gleichem Umfange auch andere
in Haft gehaltene Personen, unerheblich, weil die Beschwerde
ausschliesslich in eigenem Namen erhoben worden ist.

        Daraus ergibt sich, dass die Abschreibung der Be-
schwerde wegen Gegenstandslosigkeit durch den Präsidenten
der Anklagekammer vor Art. 29 BV standhält.

        d) Der Beschwerdeführer macht weiter geltend,
Art. 13 EMRK verlange im vorliegenden Fall eine materielle
Prüfung seiner Beschwerde durch den Präsidenten der Anklage-
kammer. Die Haftbedingungen als solche fallen weder in den
Bereich von Art. 5 EMRK noch in denjenigen von Art. 6 EMRK.
Aus der Systematik der Europäischen Menschenrechtskonvention
bedürfen Beanstandungen wegen Verletzungen von Art. 8 EMRK
(und allenfalls Art. 3 EMRK) einer wirksamen Überprüfung
durch eine nationale Instanz. Die nationale Instanz in
diesem Sinne braucht indessen kein Gericht zu sein; viel-
mehr kann es sich dabei um eine Verwaltungsbehörde handeln
(vgl. Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechts-
konvention und die Schweiz, 2. Aufl. 1999, S. 333). In
dieser Hinsicht verfügte der Beschwerdeführer tatsächlich
über eine Prüfung durch eine nationale Instanz: Die Staats-
anwaltschaft hatte die Beschwerde des Beschwerdeführers
mit Entscheid vom 19. November 1999 eingehend geprüft. Bei

dieser Sachlage erweist sich die Rüge, der Präsident des
Anklagekammer habe mit dem angefochtenen Abschreibungsent-
scheid Art. 13 EMRK verletzt, von vornherein als unbegrün-
det.

        e) Schliesslich schildert der Beschwerdeführer in
seiner Beschwerde eingehend, dass er sich mehrmals und ohne
Erfolg um eine Verbesserung seiner Haftbedingungen bemüht
habe. Er unterlässt es indessen, eine Verfahrensverzögerung
im Sinne von Art. 29 Abs. 1 BV zu rügen und begnügt sich
damit, darauf hinzuweisen, dass er im kantonalen Verfahren
Rechtsverzögerungsbeschwerden angedroht habe. Bei dieser
Sachlage ist mangels entsprechender Rüge nicht zu prüfen,
ob das kantonale Verfahren hinreichend rasch geführt worden
ist (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG).

     3.- Demnach ist die Beschwerde abzuweisen, soweit
darauf eingetreten werden kann.

        Der Beschwerdeführer ersucht um Gewährung der un-
entgeltlichen Rechtspflege nach Art. 152 OG. Die Mittel-
losigkeit des Beschwerdeführers kann ohne weiteres angenom-
men werden. Die gesamten Umstände lassen die Beschwerde
nicht von vornherein als aussichtslos erscheinen. Dem Er-
suchen kann daher stattgegeben werden.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

     2.- Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche
Rechtspflege gewährt:

        a) Es werden keine Kosten erhoben.

        b) Rechtsanwalt lic. iur. Max Birkenmaier wird als
amtlicher Vertreter bestimmt und für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'000.-- ent-
schädigt.

     3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der
Staatsanwaltschaft und dem Präsidenten der Anklagekammer des
Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 16. November 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: