Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.589/2001
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1P.589/2001/bmt

Urteil vom 17. April 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Catenazzi, Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiber Forster.

A. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Renzo Guzzi, Bellerivestrasse
45, Postfach 413, 8008 Zürich,

gegen

B.________, Beschwerdegegnerin 1, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christof
Steger, Kriessernstrasse 40, 9450 Altstätten SG,
C.________ AG, private Beschwerdegegnerin 2, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr.iur. Werner Ritter, Auerstrasse 2, Postfach 91, 9435 Heerbrugg,
D.________ AG, private Beschwerdegegnerin 3, vertreten durch Rechtsanwalt Dr.
Peter Dietsche, Eisenbahnstrasse 41, Postfach 228, 9401 Rorschach,
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Spisergasse 15, 9001 St. Gallen,
Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Art. 32 Abs. 3 BV (Strafverfahren)

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St.
Gallen, Strafkammer, vom 6. Juli 2001)
Sachverhalt:

A.
Mit Verfügungen des Kantonalen Untersuchungsrichters für Wirtschaftsdelikte
des Kantons St. Gallen vom 7. März 2000 bzw. des Bezirksamtes Oberrheintal
vom 16. Mai 2000 wurde A.________ wegen Vermögens-, Betreibungs- und
SVG-Delikten zur gerichtlichen Beurteilung an das Kantonsgericht St. Gallen
überwiesen. Auf eine gegen die Überweisungsbestätigung der Staatsanwaltschaft
des Kantons St. Gallen vom 10. Mai 2000 erhobene staatsrechtliche Beschwerde
trat das Bundesgericht mit Entscheid vom 11. September 2000 (mangels nicht
wieder gutzumachenden Nachteils im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG) nicht ein
(Verfahren 1P.384/2000).

B.
Mit Strafurteil vom 6. Juli 2001 sprach das Kantonsgericht (Strafkammer) St.
Gallen A.________ der qualifizierten Veruntreuung, der ungetreuen
Geschäftsbesorgung, des Betruges, des Führens eines Motorfahrzeuges in
angetrunkenem Zustand, der versuchten Vereitelung der Blutprobe sowie des
pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall schuldig, und es verurteilte ihn zu 3 ½
Jahren Zuchthaus.

C.
Gegen das Strafurteil des Kantonsgerichtes gelangte A.________ mit
staatsrechtlicher Beschwerde vom 26. September 2001 an das Bundesgericht. Er
beantragt u.a. die Aufhebung des angefochtenen Strafurteils. Die von ihm
erhobenen Rügen ergeben sich aus den nachfolgenden Erwägungen.

D.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen beantragt mit Eingabe vom 29.
Oktober 2001 die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten ist. Das
Kantonsgericht St. Gallen und die private Beschwerdegegnerin 1 verzichteten
am 5. bzw. 8. Oktober 2001 je ausdrücklich auf eine Vernehmlassung. Die
private Beschwerdegegnerin 2 beantragte am 31. Oktober 2001 die Abweisung der
Beschwerde; im Übrigen verzichtete sie ebenfalls auf eine Stellungnahme. Von
der privaten Beschwerdegegnerin 3 ist keine Vernehmlassung eingegangen.

E.
Gegen das Strafurteil des Kantonsgerichtes erhob der Beschwerdeführer
gleichzeitig kantonale Nichtigkeitsbeschwerde beim Kassationsgericht des
Kantons St. Gallen. Am 8. November 2001 verfügte der Präsident der I.
öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes daher die Sistierung des
Verfahrens bis zum Entscheid des kantonalen Kassationsgerichtes.

F.
Am 12. Februar 2002 erging der Entscheid des Kassationsgerichtes des Kantons
St. Gallen. Darin wurde die kantonale Nichtigkeitsbeschwerde abgewiesen,
soweit auf sie eingetreten wurde. Das vorliegende staatsrechtliche
Beschwerdeverfahren ist daher wieder aufzunehmen. Gegen den Entscheid des
Kassationsgerichtes vom 12. Februar 2002 hat der Beschwerdeführer am 11.
April 2002 selbständig staatsrechtliche Beschwerde eingereicht. Diese wird im
separaten Verfahren (1P.195/2002) behandelt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit der Beschwerde von Amtes wegen und
mit freier Kognition (BGE 127 I 92 E. 1 S. 93 mit Hinweisen).

2.
Im vorliegenden Beschwerdeverfahren (1P.589/2001) ist zu prüfen, ob bzw.
inwieweit die am 26. September 2001 gegen das Strafurteil des
Kantonsgerichtes St. Gallen vom 6. Juli 2001 erhobene Beschwerde zulässig
ist.

2.1 Von hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen, ist die staatsrechtliche
Beschwerde nur gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide zulässig (Art. 86
OG). Soweit das kantonale Kassationsgericht auf die Beschwerde gegen das
Strafurteil des Kantonsgerichtes nicht eintreten konnte, enthält letzteres
einen letztinstanzlichen Entscheid im Sinne von Art. 86 Abs. 1 OG.

2.2 Im Entscheid des Kassationsgerichtes wurden zunächst Rügen der Verletzung
von Parteirechten geprüft (ausreichende Verteidigung, Wiederholung von
Hauptverhandlung und Zeugeneinvernahmen, rechtliches Gehör, Grundsatz von
Treu und Glauben, Anklagegrundsatz). Das Kassationsgericht erwog in dem
Zusammenhang, dass bundesverfassungsrechtliche strafprozessuale
Mindestgarantien und vom Bundesgericht daraus abgeleitete
Verfahrensgrundsätze in der st.gallischen StP "mitenthalten" seien. Da "im
Geltensbereich der StP (...) jede Verletzung einer
bundesverfassungsrechtlichen Mindestgarantie zunächst eine Verletzung der
StP" darstelle, sei diese grundsätzlich "mit der kantonalen
Nichtigkeitsbeschwerde anfechtbar" (Entscheid des Kassationsgerichtes, S. 11
f. E. 1g). Geprüft wurde auch die Rüge der willkürlichen bzw. aktenwidrigen
Tatsachenfeststellung (vgl. ebenda, S. 18 E. 5).

2.3 Soweit das kantonale Kassationsgericht auf die Beschwerde gegen das
Strafurteil des Kantonsgerichtes eingetreten ist (bzw. im Falle einer
entsprechenden Rüge hätte eintreten können), enthält das Strafurteil keinen
letztinstanzlichen Entscheid im Sinne von Art. 86 Abs. 1 OG. Insofern kann
auf die Beschwerde gegen das kantonsgerichtliche Strafurteil nicht
eingetreten werden. Dies betrifft namentlich die (eher beiläufig erhobenen)
Rügen der Verletzung strafprozessualer Parteirechte (ausreichende
Verteidigung, Wiederholung von Hauptverhandlung und Zeugeneinvernahmen,
rechtliches Gehör, Grundsatz von Treu und Glauben, Anklagegrundsatz) und der
willkürlichen Beweiswürdigung. Der Fall einer zulässigen "Mitanfechtung" des
unterinstanzlichen Entscheides liegt nicht vor (vgl. BGE 125 I 492 E. 1a S.
493 f. mit Hinweisen), da das Bundesgericht die im vorliegenden Fall
erhobenen Rügen nicht mit einer weiter gefassten Kognition prüft, als das
Kassationsgericht dies getan hat.

2.4 Zur Hauptsache legt der Beschwerdeführer dar, dass er schon mit
staatsrechtlicher Beschwerde gegen die Überweisungsverfügung geltend gemacht
habe, die Überweisung der Strafsache an das Kantonsgericht verletze (mangels
zweistufiger Prüfung) "Art. 32 Abs. 3 BV, Art. 2 Abs. 1 des 7.
Zusatzprotokolls zur EMRK sowie Art. 14 Ziff. 5 UNO-Pakt II". Das
Bundesgericht sei mit Urteil vom 11. September 2000 auf die Beschwerde nicht
eingetreten, da es sich um einen Zwischenentscheid ohne nicht wieder
gutzumachenden Nachteil gehandelt habe. Im Strafverfahren vor Kantonsgericht
habe er seine Rüge "wiederholt" und dabei die entsprechende "Einrede der
Unzuständigkeit" des Kantonsgerichtes erhoben, bzw. "eine Beurteilung durch
das zuständige Bezirksgericht als erste Instanz" verlangt (Beschwerdeschrift,
S. 6 f. Ziff. 2 - 4). Im Strafurteil des Kantonsgerichtes wird eine
Verletzung von Art. 32 Abs. 3 BV, Art. 2 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur
EMRK sowie Art. 14 Ziff. 5 UNO-Pakt II mit ausführlicher Begründung und unter
Hinweis auf die einschlägige Bundesgerichtspraxis verneint, und die
Zuständigkeit des Kantonsgerichtes bestätigt (vgl. angefochtener Entscheid,
S. 10 E. 3c).

2.5 Diesen Streitpunkt hat der Beschwerdeführer nach eigener Darlegung in der
Beschwerde vom 26. September 2001 nicht zum Gegenstand des kantonalen
Beschwerdeverfahrens gemacht, da das Kassationsgericht - seiner Ansicht nach
- darauf nicht habe eintreten können. Er vertritt die Auffassung, dass er die
fraglichen Rechtsverletzungen im kantonalen Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren
"nicht" habe "rügen" können, "weshalb mit vorliegender staatsrechtlicher
Beschwerde die Unzuständigkeit separat gerügt werden" müsse
(Beschwerdeschrift, S. 4 Ziff. 4).

2.6 Es fragt sich, ob der Beschwerdeführer diesbezüglich den kantonalen
Instanzenzug erschöpft hat (Art. 86 Abs. 1 OG). Nach übereinstimmender Lehre
und Praxis zum st.gallischen Strafprozessrecht können verfassungsmässige
Grundrechte des Angeschuldigten (namentlich wesentliche Parteirechte, etwa
das rechtliche Gehör, oder der Anspruch auf willkürfreie Beweiswürdigung)
grundsätzlich mit kantonaler Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden. Nicht
zulässig ist hingegen die Rüge der Verletzung von materiellem
Bundesstrafrecht, welche mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde zu
erheben ist (GVP 1990 Nr. 84; 1985 Nr. 65; 1983 Nr. 72; vgl. Reinhold Hotz,
Bundesverfassungsrechtliche Verfahrensgrundsätze im st.gallischen Zivil- und
Strafverfahrensrecht, in: Der Kanton St. Gallen und seine Hochschule, St.
Gallen 1989, S. 203; Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts,
Dargestellt am Beispiel des Kantons St. Gallen, Bern 1994, S. 542-548;
derselbe: Grundzüge des st.gallischen Strafprozessrechts, St. Gallen 1988, S.
318-321). Dementsprechend hat auch das Kassationsgericht in seinem Entscheid
vom 12. Februar 2002 (S. 12 oben) erwogen, dass jede (wesentliche)
"Verletzung einer bundesverfassungsrechtlichen Mindestgarantie" mit
kantonaler Nichtigkeitsbeschwerde zu rügen sei.

2.7 Im vorliegenden Fall rief der Beschwerdeführer keine
Zuständigkeitsvorschrift des materiellen Bundesstrafrechts als verletzt an.
Er rügt vielmehr ausdrücklich eine Verletzung von in der Bundesverfassung
(sowie völkerrechtlich) verankerten strafprozessualen Mindestgarantien des
Angeschuldigten. Dafür war nach der dargelegten Lehre und Praxis die
kantonale Nichtigkeitsbeschwerde gegeben. Bei dieser Sachlage hat der
(anwaltlich vertretene) Beschwerdeführer gemäss eigener Darstellung (in der
Beschwerde vom 26. September 2001) den kantonalen Instanzenzug in diesem
Punkt nicht erschöpft, weshalb insofern auf die Beschwerde gegen das Urteil
des Kantonsgerichtes ebenfalls nicht einzutreten ist (Art. 86 Abs. 1 OG).

2.8 Bei dieser Sachlage kann offen bleiben, ob sich der Beschwerdeführer mit
den materiellen Erwägungen des Kantonsgerichtes (angefochtener Entscheid, S.
10 E. 3c) in einer Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise
auseinandergesetzt hätte (insbesondere mit der Erwägung, gemäss
bundesgerichtlicher Rechtsprechung genüge bezüglich Tatfragen grundsätzlich
eine auf Willkür beschränkte Überprüfung des Strafurteils durch eine
Kassationsinstanz).

3.
Nach dem Gesagten ist auf die Beschwerde vom 26. September 2001 gegen das
Urteil des Kantonsgerichtes nicht einzutreten.

Der Beschwerdeführer stellt das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da die
gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 152 OG erfüllt erscheinen, kann dem
Begehren entsprochen werden.
Parteientschädigungen sind nicht zuzusprechen, da sich die privaten
Beschwerdegegnerinnen am Verfahren (materiell) nicht beteiligt haben (Art.
159 OG). Die private Beschwerdegegnerin 2 beantragte lediglich förmlich die
Abweisung der Beschwerde. Im Übrigen verzichtete auch sie ausdrücklich auf
eine inhaltliche Stellungnahme.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Das am 8. November 2001 sistierte staatsrechtliche Beschwerdeverfahren wird
wieder aufgenommen.

2.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichtes vom
6. Juli 2001 wird nicht eingetreten.

3.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
3.1Es werden keine Kosten erhoben.

3.2 Rechtsanwalt Renzo Guzzi, Zürich, wird als unentgeltlicher
Rechtsvertreter ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien sowie der Staatsanwaltschaft, dem
Kantonsgericht, Strafkammer, und dem Kassationsgericht des Kantons St. Gallen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 17. April 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: