Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.554/2001
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1P.554/2001/mks

Urteil vom 21. Januar 2002

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Nay, Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiber Dreifuss.

X.________, 8105 Regensdorf, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Hans Ludwig Müller, Schifflände 6, Postfach 310, 8024 Zürich,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, Postfach, 8023 Zürich,
Kassationsgericht des Kantons Zürich, Postfach 4875, 8022 Zürich.

Art. 5, 9 und 29 BV, Art. 6 EMRK (Strafverfahren)

(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Kassationsgerichts des
Kantons Zürich vom 7. Juni 2001)

Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde vom Bezirksgericht Zürich am 23. Februar 1999 der
mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gesprochen
und mit 7 ½ Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Landesverweisung bestraft. Das
Gericht erachtete es als erwiesen, dass er sich in den Monaten März und April
1997 als Mitglied einer Bande in grösserem Umfang am illegalen
Betäubungsmittelhandel beteiligt habe.

Hiergegen erhob X.________ erfolglos Berufung beim Obergericht des Kantons
Zürich, welches das Urteil des Bezirksgerichts am 10. Februar 2000 im
Wesentlichen bestätigte.

Eine von X.________ gegen das Urteil des Obergerichts erhobene kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich mit
Beschluss vom 7. Juni 2001 ab.

B.
X.________ führt gegen diesen Beschluss mit Eingabe vom 27. August 2001
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 5, 9, und 29 BV sowie
Art. 6 EMRK. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und das
Verfahren an das Kassationsgericht zurückzuweisen. Weiter ersucht er für das
bundesgerichtliche Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege,
unter Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes.

C.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und das Kassationsgericht haben auf
Stellungnahmen zur Beschwerde verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Sachurteilsvoraussetzungen der staatsrechtlichen Beschwerde sind
vorliegend erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde
ist  grundsätzlich (vgl. aber die nachfolgende Erwägung 3.3) einzutreten.

2.
Am 1. April 1997 wurde u.a. der Mitbeschuldigte Y.________ verhaftet, als er
mit einem weiteren Beteiligten 5 Kilogramm Heroin übernehmen wollte, die von
zwei Drogentransporteuren nach Zürich gebracht worden waren. Dem
Beschwerdeführer wurde von der Anklage unter anderem vorgeworfen, zusammen
mit Y.________ den Verkauf dieser 5 Kilogramm Heroin geplant zu haben.

2.1 Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe bei der Verurteilung in
diesem Anklagepunkt auf die Aussage von Y.________ gemäss Seite 8 des
Protokolls der Konfrontationseinvernahme vom 4. Mai 1998 abgestellt, obwohl
diese Seite von Y.________ nicht unterschrieben sei. Er habe bereits vor
Kassationsgericht geltend gemacht, dass das Obergericht Art. 29 Abs. 2 BV
verletzt habe, indem es die Aussage trotz diesem Mangel verwertet habe. Das
Kassationsgericht habe dazu ausgeführt, dass es bei mehrseitigen Protokollen
genüge, wenn die Unterzeichnung durch den Einvernommenen am Ende des
Protokolls erfolge; er, der Beschwerdeführer, rüge nicht, der Mitbeschuldigte
Y.________ habe die letzte Seite des Protokolls nicht unterschrieben, sondern
lediglich die Seiten 8 und 9; die Rüge erweise sich deshalb als unbegründet.
Indessen, so der Beschwerdeführer weiter, könne dem Kassationsgericht die
Tatsache nicht entgangen sein, dass nicht nur die Seiten 8 und 9 des
Protokolls, auf denen Aussagen Y.________s festgehalten würden, nicht
unterschrieben seien, sondern auch die letzten Protokollseiten, 10 und 11.
Indem es trotzdem verlange, dass auch die Nichtunterzeichnung dieser Seiten
hätte geltend gemacht werden müssen, stelle es rigorose und sachlich nicht
begründbare Anforderungen an die Rügepflicht. Mit seinem Vorgehen habe es
einen überspitzten Formalismus praktiziert und gegen Art. 29 Abs. 1, Art. 5
und Art. 9 BV verstossen. Ferner habe es den Anspruch auf rechtliches Gehör
(Art. 29 Abs. 2 BV) und den Grundsatz des "fair trial" (Art. 6 EMRK)
verletzt. Zudem sei das Kassationsgericht damit in Willkür verfallen: Nach
Praxis und Lehre genüge es, bei mehrseitigen Einvernahmeprotokollen, wenn der
Einvernommene "seine Einvernahme" unterzeichne. Z.B. Protokollnotizen des
Bezirksanwalts müssten dagegen nicht unterschrieben werden. Indem er
vorgebracht habe, die Seite 9 sei nicht unterschrieben, habe er daher
sinngemäss geltend gemacht, die letzte Protokollseite sei nicht
unterschrieben.

2.2 Das Kassationsgericht erwog, dass es bei mehrseitigen Protokollen genüge,
wenn die Unterzeichnung durch den Einvernommenen am Ende des Protokolls
erfolge. Es wies die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ab, weil der
Beschwerdeführer nicht geltend mache, der Mitbeschuldigte Y.________ habe am
Ende des Protokolls nicht unterzeichnet. Da die Unterzeichnung jedes Blattes
nicht erforderlich sei, erweise sich die Rüge als unbegründet.

2.3 Das aus Art. 29 Abs. 1 BV fliessende Verbot des überspitzten Formalismus
wendet sich gegen prozessuale Formenstrenge, die als exzessiv erscheint,
durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen
Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer
Weise erschwert oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft frei, ob eine
solche Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 127 I 31 E. 2a/bb S. 34; 125 I 166 E.
3a S. 170, je mit weiteren Hinweisen).

Die Ausfertigung des Protokolls bildet Beweis für die Richtigkeit der darin
enthaltenen Verurkundungen (§ 154 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes des
Kantons Zürich vom 13. Juni 1976). Daher sind an die Einhaltung der
Formerfordernisse strenge Anforderungen zu stellen (Vgl. Niklaus Schmid,
Strafprozessrecht, 3.A., Zürich 1997, Rz. 564; Robert Hauser/Erhard Schweri,
Schweizerisches Strafprozessrecht, 4.A., Basel 1999, S. 174). Die für die
Einvernahme von Zeugen und Beschuldigten aufgestellten Formvorschriften
dienen der Rechtssicherheit, insbesondere dem Schutz des Beschuldigten gegen
unzulässige Einvernahmemethoden und gegenüber ungenauer Wiedergabe von
Aussagen in Protokollen, deren Verfasser keine genügende Gewähr für
qualifizierte und unvoreingenommene Befragung und Niederschrift gewähren.
Protokollen, die diesen Voraussetzungen nicht genügen, kommt daher nicht der
Charakter rechtsgültiger Einvernahmeprotokolle zu. Damit ist jedoch noch
nicht gesagt, dass solchen Aktenstücken keine Bedeutung zukomme. Vielmehr
kann sie der Richter im Rahmen der freien Beweiswürdigung berücksichtigen,
wobei er sie einer besonders kritischen Würdigung zu unterziehen hat (BGE 98
Ia 250 E. 1c S. 253).

Der Beschwerdeführer hat im kantonalen Verfahren nicht vorgebracht und es
sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die auf den Seiten 8 und 9
des Protokolls vom 4. Mai 1998 verurkundeten Aussagen Y.________s nicht so
erfolgt seien oder nicht richtig festgehalten worden wären. Der
Beschwerdeführer beschränkte sich während des ganzen Verfahrens darauf, die
Nichtverwertbarkeit der Protokollseiten aus formellen Gründen geltend zu
machen. Das Kassationsgericht durfte unter diesen Umständen das Rügeprinzip
streng anwenden und sich strikt auf die Prüfung der geltend gemachten
Formmängel beschränken. Der Beschwerdeführer rügte nicht, die letzte Seite
des Protokolls oder die letzte Seite mit Aussagen von Y.________ seien von
diesem nicht unterschrieben. Auch auf entsprechende Rüge hin hätte das
Kassationsgericht nicht ohne weiteres auf Unverwertbarkeit der Aussagen
schliessen müssen: Die fehlende Unterschrift beruht nicht auf einer
Verweigerung Y.________s, sondern auf einem Versehen, wie auch der
Beschwerdeführer selber aufgrund einer fehlenden entsprechenden Aktennotiz
des Bezirksanwalts anerkennt. Es kann dem Kassationsgericht daher weder
überspitzter Formalismus noch Willkür vorgeworfen werden, wenn es den
Vorbringen des Beschwerdeführers keine entsprechende Rüge entnahm, konnte
diese nach dem Gesagten doch durchaus zu Recht unterlassen worden sein. Es
hat damit die geltend gemachten verfassungsmässigen Rechte nicht verletzt.
Die vorliegend erhobenen Rügen erweisen sich als unbegründet.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer bestreitet, dass der in den abgehörten Telefonaten
auftretende "X.________" mit ihm identisch sei. Er habe deshalb vor
Kassationsgericht gerügt, dass das Obergericht wie auch das Bezirksgericht
die entsprechenden Tonbandaufnahmen, der zürcherischen Praxis folgend, selber
hätten abhören müssen, den Akten aber kein Hinweis auf ein solches Vorgehen
der beiden Gerichte zu entnehmen sei; er habe geltend gemacht, es sei daher
davon auszugehen, dass die Gerichte sich die Aufnahmen nicht angehört hätten,
worin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) liege. Das
Kassationsgericht habe eine entsprechende Verfassungsverletzung zu Unrecht
verneint. In der Argumentation des Kassationsgerichts, das Gericht müsse
nirgends aufzeichnen, ob es die Tonbänder abgehört habe, aber es reiche nicht
aus, wenn der Beschwerdeführer dies bloss behaupte, liege eine Verweigerung
des rechtlichen Gehörs, ein überspitzter Formalismus, ein Verstoss gegen die
sich aus § 32 Abs. 1 StPO und Art. 6 Ziff. 3 lit. b ergebende
Dokumentationspflicht und eine Verletzung des Grundsatzes des "fair trial"
nach Art. 6 EMRK.

3.2 Das Kassationsgericht negierte eine Pflicht der kantonalen Gerichte ihre
Anhörung von Tonaufzeichnungen zu dokumentieren. Eine solche Pflicht ergebe
sich weder aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör noch aus kantonalen
Verfahrensvorschriften. Entsprechend lasse sich aus dem Umstand, dass sich
den Akten kein Hinweis auf eine Anhörung entnehmen lasse, nicht auf deren
Unterlassung schliessen.

3.3 Mit dieser Begründung hat das Kassationsgericht die vom Beschwerdeführer
angerufenen Rechte und Grundsätze nicht verletzt. Der Beschwerdeführer
beanstandete vor Obergericht nicht, dass das Bezirksgericht die richterliche
Abhörung der Tonbänder nicht verurkundet habe. Ebenso wenig stellte er den
ausdrücklichen Antrag auf Abhörung der Aufnahmen durch das Obergericht. Es
bestand für dieses daher kein Anlass, die Abhörung im Verfahrensprotokoll zu
verurkunden oder in der Urteilsbegründung speziell zu erwähnen. Unter diesen
Umständen musste das Kassationsgericht aus der fehlenden obergerichtlichen
Äusserung über die Abhörung der Tonbandaufnahmen nicht schliessen, dass das
Obergericht sich diese nicht selber angehört hätte. Es hat daher eine
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu Recht verneint. Weitere
Rügen hinsichtlich der Pflicht, sich die Tonbänder anzuhören, hat der
Beschwerdeführer vor Kassationsgericht nicht vorgebracht, weshalb sie im
vorliegenden Verfahren nicht zulässig sind (Art. 86 Abs. 1 OG). Diesen ist
auch der Boden entzogen, wenn das Kassationsgericht zu Recht eine mangelnde
Anhörung der Tonbänder verneinte. Die staatsrechtliche Beschwerde ist auch
insoweit unbegründet, soweit darauf einzutreten ist.

4.
Nach dem Ausgeführten ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit
darauf eingetreten werden kann. Da die Beschwerde von vornherein aussichtslos
war, sind die Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege nicht erfüllt
und kann das entsprechende Gesuch nicht bewilligt werden (Art. 152 Abs. 1
OG). Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die bundesgerichtlichen
Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht :

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Kassationsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. Januar 2002

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: