Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.538/2001
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1P.538/2001/zga

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      5. November 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung,
Bundesrichter Nay, Bundesrichter Féraud und Gerichts-
schreiber Störi.

                         ---------

                         In Sachen

X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat
Dr. Nicolas Roulet, Rebgasse 1, Postfach 321, Basel,

                           gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons  B a s e l - S t a d t,
Appellationsgericht des Kantons  B a s e l - S t a d t,

                         betreffend
                         Art. 9 BV
                      (Strafverfahren),

hat sich ergeben:

     A.- Das Strafgericht Basel-Stadt verurteilte X.________
am 10. Oktober 2000 wegen Widerhandlung gegen das Be-
täubungsmittelgesetz zu 10 Monaten Gefängnis und 5 Jahren
Landesverweisung, beides mit bedingtem Vollzug. Es hielt
für erwiesen, dass er am 4. März 2000 Y.________ rund
40 g Kokain verkauft hatte.

        Der Ausschuss des Appellationsgerichts des Kantons
Basel-Stadt, bei welchem X.________ seine Verurteilung an-
focht, bestätigte das erstinstanzliche Urteil am 14. März
2001.

     B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. August
2001 wegen Willkür und Verletzung von Art. 6 EMRK beantragt
X.________, das Urteil des Appellationsgerichts aufzuheben
und es anzuweisen, die Sache ans Strafgericht zurückzuwei-
sen. Er macht im Wesentlichen geltend, das Strafgericht habe
das Unmittelbarkeitsprinzip verletzt, weil es seinen Antrag
abgelehnt habe, den Hauptbelastungszeugen Y.________ an der
Hauptverhandlung einzuvernehmen.

     C.- Appellationsgericht und Staatsanwaltschaft ver-
zichten auf Vernehmlassung.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Beim angefochtenen Urteil des Appellations-
gerichts handelt es sich um einen letztinstanzlichen

kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerde-
führer ist durch die strafrechtliche Verurteilung in seinen
rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG) und er
macht die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten geltend
(Art. 84 Abs. 1 lit. b OG). Da diese und die übrigen Sachur-
teilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde
einzutreten.

     2.- Der Beschwerdeführer wirft dem Appellationsgericht
Willkür vor, weil es das Vorgehen des Strafdreiergerichts
schützte, welches die Einvernahme des Hauptbelastungszeugen
Y.________ an der Hauptverhandlung entgegen dem in § 121
Abs. 3 und § 125 Abs. 3 der Strafprozessordnung des Kantons
Basel-Stadt vom 8. Januar 1997 (StPO) verankerten Unmittel-
barkeitsprinzip abgelehnt habe.

        a) Willkürlich ist ein Entscheid, der mit der tat-
sächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm
oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt
oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwider-
läuft. Dabei genügt es nicht, dass die Begründung unhaltbar
ist, der Entscheid muss sich vielmehr im Ergebnis als will-
kürlich erweisen (BGE 125 I 166 E. 2a; 125 II 10 E. 3a; 129
E. 5b; 122 I 61 E. 3a je mit Hinweisen).

        b) Nach § 121 Abs. 3 StPO erhebt das Gericht "alle
für die Entscheidfindung wesentlichen Beweise unmittelbar",
wobei § 125 Abs. 3 StPO vorbehalten bleibt. Nach dieser letz-
teren Bestimmung hat der Präsident oder die Präsidentin dem
Gericht alle für die Entscheidfindung wesentlichen Beweise
unmittelbar zur Kenntnis zu bringen; "ist dies mit unverhält-
nismässigem Aufwand verbunden, bringt sie oder er die Beweise
durch andere geeignete Massnahmen zur Kenntnis".

        Das Strafgericht hat im Urteil vom 10. Oktober
2000 den Antrag des Beschwerdeführers, ihn an der Hauptver-
handlung mit dem Hauptbelastungszeugen Y.________ zu kon-
frontieren, mit der Begründung abgelehnt, "in den vorlie-
genden Einvernahmen und der direkten Konfrontation" seien
"sämtliche strittigen Fragen zur Sprache gekommen. Eine
erneute Einvernahme Y.________s ist daher zur Klärung des
Sachverhaltes nicht erforderlich" (S. 3).

        Das Appellationsgericht hat im angefochtenen
Entscheid dazu ausgeführt, die Frage nach dem "unverhältnis-
mässigen Aufwand" im Sinne von § 125 Abs. 3 StPO sei jeweils
im Einzelfall nach den konkreten Umständen zu beantworten.
Dabei erscheine "eine Auslegung des genannten Begriffs als
sinnvoll und angezeigt, die es dem erstinstanzlichen Gericht
erlaubt, zumindest in beweismässig klaren Fällen von der un-
mittelbaren Befragung eines Zeugen in der Verhandlung abzu-
sehen und seine Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren zu ver-
lesen, weil die erneute Einvernahme zu einer blossen Wieder-
holung der früheren Befragung und damit zu einem Leerlauf
führte. Wesentliche Voraussetzung für ein solches Vorgehen
ist allerdings, dass die frühere Einvernahme den Anforde-
rungen der EMRK entsprochen hat und die damaligen Aussagen
eindeutig, widerspruchsfrei und lückenlos sind" (angefoch-
tener Entscheid S. 4 f.).

        Vorliegend sei die Konfrontationseinvernahme zwi-
schen Y.________ und dem Beschwerdeführer vom 31. März 2000,
abgesehen von einem unzulässigen Flüstern zwischen einem
Vernehmungsbeamten und Y.________, das aber nicht geeignet
sei, die Gültigkeit der Einvernahme in Frage zu stellen,
EMRK-konform gewesen. Die Aussagen Y.________s seien in den
wesentlichen Punkten klar, widerspruchsfrei und schlüssig
gewesen und zudem durch verschiedene objektive Umstände
gestützt worden. Von einer Wiederholung der Konfrontations-
einvernahme vor dem Strafgericht wäre daher nichts Neues zu

erwarten gewesen, weshalb deren Durchführung vom Strafge-
richt trotz der offensichtlichen Verfügbarkeit Y.________s
als unverhältnismässiger Aufwand habe abgelehnt werden
dürfen.

        c) Es erscheint zwar aufgrund des Wortlautes von
§ 125 Abs. 3 StPO verfassungsrechtlich nicht von vornherein
ausgeschlossen, die unmittelbare Abnahme von leicht verfüg-
baren und damit ohne unverhältnismässigen Aufwand zu erhe-
benden Beweisen an der Hauptverhandlung in Fällen zu unter-
lassen, in denen dies einer leeren Formalität gleichkäme,
etwa wenn ein Angeschuldigter geständig ist. Nach dem Sinn
und Zweck von § 125 Abs. 3 StPO darf das Unmittelbarkeits-
prinzip grundsätzlich nur ausnahmsweise durchbrochen werden,
wenn die unmittelbare Erhebung von Beweisen durch das Gericht
in dem Sinne mit einem unverhältnismässigen Aufwand verbunden
wäre, dass z. B. ein Belastungszeuge im fernen Ausland wohnt
oder sonstwie schwer greifbar ist. Andernfalls würde der
wichtige Grundsatz der unmittelbaren Beweiserhebung seines
Gehaltes entleert, und die kantonalen Gerichte sind selbst-
verständlich an die Vorschriften der StPO auch dann gebunden,
wenn sie den Angeschuldigten über die verfassungs- und kon-
ventionsrechtlichen Verfahrensgarantien hinausgehende Rechte
einräumen.

        d) Der Zeuge Y.________ war auch nach Auffassung
des Appellationsgerichts für das Strafgericht offensichtlich
verfügbar und hätte mithin ohne besonderen Aufwand vorgela-
den werden können. Seine Aussage war für die Verurteilung
des Beschwerdeführers entscheidend. Die Beweislage war, wenn
überhaupt, nur unter Berücksichtigung dieser Zeugenaussage
"klar"; es erscheint fraglich, ob der Beschwerdeführer ohne
deren Verwertung hätte überführt werden können. Es lässt
sich somit nicht sagen, die gerichtliche Vorladung Y.________s
hätte mangels Erheblichkeit dieses Beweismittels unterbleiben
können oder hätte eine leere Formalität dargestellt.

        Dazu kommt, dass die Konfrontation Y.________s
mit dem Beschwerdeführer vom 31. März 2000, wie das Appel-
lationsgericht selber festhält, keineswegs über jeden Zwei-
fel erhaben ist. So ist es in der Tat mehr als ungewöhnlich,
dass sich der Belastungszeuge und ein Vernehmungsbeamter
während der Konfrontationseinvernahme flüsternd verständi-
gen. Das Appellationsgericht führt zwar aus, dieses Geflüs-
ter habe sich nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers aus-
gewirkt, und dieser mache solches bezeichnenderweise auch
gar nicht geltend. Da jedoch der Inhalt des Geflüsters un-
bekannt ist, können dies weder das Appellationsgericht noch
der Beschwerdeführer wissen. Es kann daher dem Beschwerde-
führer auch nicht zum Vorwurf gereichen, dass er darüber
nicht spekulierte. Unter diesen Umständen war es umso mehr
geboten, die Beweisabnahme nach dem Unmittelbarkeitsprinzip
an der Hauptverhandlung zu wiederholen.

        Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass
offensichtlich keine sachlich haltbaren Gründe gegeben
sind, aus welchen der Hauptbelastungszeuge Y.________
entgegen der Regel von § 121 Abs. 3 und § 125 Abs. 3 StPO
ausnahmsweise nicht unmittelbar an der gerichtlichen Haupt-
verhandlung hätte einvernommen werden müssen. Das Straf-
dreiergericht ist daher in Willkür verfallen, indem es
Y.________ nicht als Zeugen zur Hauptverhandlung vorlud,
und das Appellationsgericht, indem es dieses Vorgehen
schützte.

     3.- Die Willkürrüge ist somit gutzuheissen und der
angefochtene Entscheid aufzuheben, ohne dass die weiteren
Rügen geprüft zu werden bräuchten. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2
OG). Hingegen hat der Kanton Basel-Stadt dem Beschwerde-
führer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 159 Abs. 2 OG).

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefoch-
tene Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-
Stadt vom 14. März 2001 aufgehoben.

     2.- Es werden keine Kosten erhoben.

     3.- Der Kanton Basel-Stadt wird verpflichtet, dem
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine
Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

     4.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der
Staatsanwaltschaft und dem Appellationsgericht des Kantons
Basel-Stadt schriftlich mitgeteilt

                       ______________

Lausanne, 5. November 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: