Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.529/2001
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1P.529/2001/sta

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      25. Oktober 2001

Es wirken mit: Bundesrichter Nay, präsidierendes Mitglied
der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter
Féraud, Bundesrichter Catenazzi und Gerichtsschreiberin
Widmer.

                         ---------

                         In Sachen

X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprech und
Notar Dr. Aristide Roberti, Baslerstrasse 44, Postfach 126,
Olten,

                           gegen

Firma Y.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch
Z.________, Geschäftsführer,
Staatsanwaltschaft des Kantons  S o l o t h u r n,
Obergericht des Kantons  S o l o t h u r n, Strafkammer,

                         betreffend
        Art. 9 und 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK
            (Beweiswürdigung; in dubio pro reo),

hat sich ergeben:

     A.- X.________ wird vorgeworfen, am Sonntag, dem
11. Januar 1998, an seinem damaligen Arbeitsort, der Firma
Y.________ in Olten, Fr. 700.-- aus einer Schrankschublade
der Werkstatt in der ersten Etage des Gebäudes, in der das
Stockgeld der Betriebskasse aufbewahrt wurde, entnommen zu
haben. Die Gerichtspräsidentin Olten-Gösgen befand
X.________ des Diebstahls für schuldig und bestrafte ihn mit
zwei Wochen Gefängnis, bedingt vollziehbar bei einer Probe-
zeit von zwei Jahren; weiter verpflichtete sie ihn, dem Ge-
schäftsinhaber den Schaden von Fr. 700.-- zu ersetzen. Auf
Appellation hin bestätigte die Strafkammer des Obergerichts
des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 21. Juni 2001 das
erstinstanzliche Urteil.

     B.- Gegen das Urteil des Obergerichts führt X.________
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des verfas-
sungsmässigen Grundsatzes "in dubio pro reo" (Art. 6 Ziff. 2
EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV) bzw. Verletzung des Willkürverbots
(Art. 9 BV) bei der Beweiswürdigung. Er beantragt, das ange-
fochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zum Freispruch
an das Obergericht zurückzuweisen. Für die Dauer des bundes-
gerichtlichen Verfahrens ersucht er darum, seiner Beschwerde
die aufschiebende Wirkung zu gewähren.

        Die Staatsanwaltschaft, das Obergericht und die Be-
schwerdegegnerin schliessen in ihren Stellungnahmen auf Ab-
weisung der Beschwerde.

     C.- Der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abtei-
lung des Bundesgerichts hat der Beschwerde mit Verfügung vom
11. September 2001 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit der ihm
eingereichten Beschwerden von Amtes wegen und mit freier
Kognition (BGE 127 III 41 E. 2a; 126 I 81 E. 1; 126 III 274
E. 1).

        b) Der Beschwerdeführer beantragt, die Sache sei an
das Obergericht zurückzuweisen, damit es ihn freispreche.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist von hier nicht zutref-
fenden Ausnahmen abgesehen indessen rein kassatorischer Na-
tur (BGE 127 II 1 E. 2c; 125 I 104 E. 1b, mit Hinweisen).
Soweit der Antrag des Beschwerdeführers über die Aufhebung
des angefochtenen Entscheids hinausgeht, kann auf die Be-
schwerde nicht eingetreten werden. Die übrigen Sachurteils-
voraussetzungen sind erfüllt.

     2.- Die verfassungsmässigen Anforderungen an die Be-
weiswürdigung im Strafprozess ergeben sich aus der Un-
schuldsvermutung (in dubio pro reo), die in Art. 32 Abs. 1
BV und in Art. 6 Ziff. 2 EMRK gewährleistet ist. Nach dem
Grundsatz "in dubio pro reo" ist bis zum gesetzlichen Nach-
weis der Schuld zu vermuten, dass der wegen einer strafbaren
Handlung Angeklagte unschuldig ist (BGE 120 Ia 31 E. 2b
S. 35). Als Beweiswürdigungsregel besagt der Grundsatz, dass
sich der Strafrichter nicht von der Existenz eines für den
Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären
darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, dass
sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Der Grundsatz ist
verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklag-
ten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und
theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer
möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden

kann (BGE 127 I 38 E. 2a; 124 IV 86 E. 2a; 120 Ia 31 E. 2c
S. 37). Bei der Beurteilung von Fragen der Beweiswürdigung
beschränkt sich das Bundesgericht auf eine Willkürprüfung.
Es kann demnach nur eingreifen, wenn der Sachrichter den An-
geklagten verurteilte, obgleich bei objektiver Würdigung des
ganzen Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche und
schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an der
Schuld fortbestanden. Willkür in der Beweiswürdigung liegt
vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen aus-
geht, die zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch
stehen, auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stos-
sender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen
(BGE 127 I 38 E. 2a mit Hinweisen).

     3.- Das Obergericht geht gestützt auf die Aussagen des
Geschäftsinhabers davon aus, dass das Geld in der Zeit zwi-
schen Samstag, dem 10. Januar 1998, kurz vor 16.30 Uhr und
Montag, dem 12. Januar 1998, ca. 10.30 Uhr gestohlen wurde.
Am Montag zwischen 10.30 und 11.00 Uhr soll dieser das Geld
nachgezählt haben. Da im Gebäude keine Einbruch- oder Such-
spuren und am Montagmorgen kein offenes Fenster festgestellt
worden seien, deute alles darauf hin, dass es sich beim Tä-
ter um einen Angestellten des Geschäfts handle, der vom auf-
bewahrten Geld, nicht aber von der Videoaufzeichnung gewusst
und zum Laden Zugang gehabt habe. Die Videoaufzeichnung im
Bereich des Ladeneingangs habe gemäss dem Visionierungsbe-
richt ergeben, dass zwischen dem 10. Januar 1998 um 16.00
Uhr bis am 12. Januar 1998 um 10.00 Uhr ausser dem Beschul-
digten und dem Geschäftsinhaber keine weiteren Personen
festgestellt worden seien. Auch seien die Bänder jeweils ge-
wechselt worden, bevor sie bis zum Ende durchgelaufen gewe-
sen seien.

        Gegen einen Aussenstehenden als Täter spricht so-
dann nach Auffassung des Obergerichts, dass nicht die ganzen
in der Schublade vorhandenen Fr. 1'600.--, sondern bloss ein
Teil davon entwendet wurde. Vermutlich habe mit diesem Vor-
gehen der Diebstahl verdeckt werden sollen. Da die Ange-
stellten über die Installation des Aufnahmegeräts nicht in-
formiert worden seien, habe sich der Beschwerdeführer nicht
veranlasst sehen müssen, auf anderem Weg in das Geschäft zu
gelangen. Der Tatverdacht werde auch nicht dadurch entkräf-
tet, dass es im Geschäft auch noch zu Diebstählen gekommen
sei, nachdem der Beschwerdeführer bereits nicht mehr dort
gearbeitet habe. Auszuschliessen sei auch, dass ihm der Ge-
schäftsinhaber etwas habe "anhängen" wollen. Jedenfalls sei
der Beschwerdeführer bis August 1998 weiter dort tätig gewe-
sen. Schliesslich habe sich der Beschwerdeführer durch sein
Verhalten nach der Tat zusätzlich verdächtig gemacht.

        Zusammenfassend hält das Obergericht fest, dass
durch die lückenlose Überwachung des Geschäfts und den Aus-
schluss der übrigen Möglichkeiten des Betretens des Ge-
schäfts feststehe, dass in der fraglichen Tatzeit nur der
Beschuldigte neben dem Geschäftsinhaber die Firma Y.________
betreten habe. Dies genüge, um Zweifel an der Täterschaft in
der Person des Beschuldigten auszuräumen.

     4.- Der Beschwerdeführer macht zu Recht geltend, es be-
stünden bei einer willkürfreien Beweiswürdigung offensicht-
lich schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an sei-
ner Täterschaft, weshalb sein Schuldspruch den Grundsatz "in
dubio pro reo" und damit seine verfassungsmässigen Rechte
verletze.

        a) Gemäss den Feststellungen im angefochtenen Ur-
teil war die Videoaufzeichnung am Montag bis um 10.00 Uhr in
Betrieb. Die mögliche Tatzeit gibt das Obergericht mit bis

um ca. 10.30 Uhr an. Es trifft daher offensichtlich nicht
zu, dass die Videoaufzeichnung lückenlos ausschliesst, dass
eine andere Person als der Geschäftsinhaber und der heutige
Beschwerdeführer die Firma Y.________ innerhalb der Tatzeit
betreten haben. Das Stockgeld wurde nach den Angaben des Ge-
schäftsinhabers auch erst zwischen 10.30 und 11.00 Uhr nach-
gezählt, weshalb nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" zudem
nicht zu Ungunsten des Beschuldigten von einer möglichen
Tatzeit bis ca. 10.30 Uhr ausgegangen werden darf, sondern
zu seinen Gunsten eine solche bis um 11.00 Uhr anzunehmen
ist.

        b) Das Obergericht geht weiter davon aus, es sei
kein offenes Fenster im ersten Stock des Geschäftes, über
welches ein Ein- und Ausstieg eines Diebes möglich gewesen
wäre, festgestellt worden. Auch dadurch ist eine Dritttäter-
schaft jedoch offensichtlich nicht mit genügender Sicherheit
ausgeschlossen. Dies wäre nur der Fall, wenn der Geschäfts-
inhaber unmittelbar nach dem Ende der Videoaufzeichnung um
10.00 Uhr und damit bevor weitere Personen das Geschäft be-
treten konnten, kontrolliert hätte, ob alle diese Fenster
verschlossen seien. Dass er und später die Polizei bloss
nicht festgestellt haben, dass ein Fenster nicht verschlos-
sen gewesen wäre, genügt nicht, da ohne eine entsprechende
Kontrolle nicht ohne weiteres auffällt, ob ein Fenstergriff
geschlossen ist oder nicht. Überdies ist nicht ausgeschlos-
sen, dass eine Person nach 10.00 Uhr das Geschäft betrat und
ein offen gelassenes Fenster im ersten Stock schloss, bevor
der Geschäftsinhaber und die Polizei dies feststellen konn-
ten.

        c) Die Videoaufzeichnung kann aus diesen Gründen
nicht als unumstösslicher Beweis für die Schuld des Be-
schwerdeführers betrachtet werden, weil sie das eigentliche
Tatgeschehen nicht erfasst und - entgegen der Annahme des

Obergerichts - den relevanten Zeitraum nicht lückenlos ab-
deckt. Weiter ist ein Einstieg eines Dritten über ein Fens-
ter im ersten Stock ebenfalls nicht mit genügender Sicher-
heit ausgeschlossen. Damit bestehen offensichtlich erhebli-
che und schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an
der Täterschaft des Beschwerdeführers.

        Daran ändert nichts, dass ein Aussenstehender nicht
als Täter in Frage kommen soll, zumal andere Angestellte und
Familienmitglieder den gleichen Zugang zum Geschäft hatten
wie der Beschwerdeführer. Das Gleiche gilt in Bezug darauf,
ob der Beschwerdeführer sich mit seinem Verhalten, als er
mit dem Videoprint konfrontiert wurde, verdächtig gemacht
habe. Dass er im Wissen darum, dass er eines Diebstahls ver-
dächtigt werde, zunächst spontan einräumte, er sei auf dem
Videoprint zu sehen, spricht eher für sein gutes Gewissen,
und es erscheint als verständlich, dass er, als er gewahr
wurde, welche Bedeutung das Video gegen ihn als Beweismittel
haben könnte, die berechtigten Zweifel - wie sie auch die
anderen befragten Personen zu Recht äusserten - anmeldete,
ob das Videoprint tatsächlich seine Person erkennen lasse.
Auch dass er sich rund ein halbes Jahr nach dem Vorfall
nicht mehr daran erinnerte, am fraglichen Wochenende im Ge-
schäft gewesen zu sein, kann ihm, wie er zu Recht einwendet,
nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn als er nachträglich
hatte rekonstruieren können, eine gekaufte und im Geschäft
vergessene Computerdiskette geholt und das neue Programm an
jenem Wochenende bei sich zu Hause installiert zu haben, be-
stritt er nicht weiter, die auf dem Videoprint und dem Video
zu sehende Person zu sein.

        Ob es willkürlich ist, allein aufgrund der Aussagen
des Geschäftsinhabers und ohne Belege über die behauptete
genaue Buchführung über den Stand des Stockgeldes davon aus-
zugehen, in der in Frage stehenden Tatzeit seien Fr. 700.--
entwendet worden, kann unter diesen Umständen offen bleiben.

     5.- Danach ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzu-
heissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.

        Bei diesem Ausgang des bundesgerichtlichen Verfah-
rens sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerde-
gegnerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Diese hat den
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren ange-
messen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 OG).

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen
und der Entscheid der Strafkammer des Obergerichts des Kan-
tons Solothurn vom 21. Juni 2001 wird aufgehoben.

     2.- Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Be-
schwerdegegnerin auferlegt.

     3.- Die Beschwerdegegnerin wird verpflichtet, den Be-
schwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit
Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

     4.- Dieses Urteil wird den Parteien sowie der Staatsan-
waltschaft und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Straf-
kammer, schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 25. Oktober 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                Das präsidierende Mitglied:

                  Die Gerichtsschreiberin: