Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.452/2001
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1P.452/2001/boh

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                       16. Juli 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Aeschlimann, Féraud, Catenazzi und Gerichts-
schreiber Störi.

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                         In Sachen

X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Jean-Christophe Schai, Auf der Mauer 2, Zürich,

                           gegen

Bezirksanwaltschaft  Z ü r i c h, Büro C-12,
Bezirksgericht  Z ü r i c h, Haftrichter,

                         betreffend
         persönliche Freiheit, Art. 8, 9 und 10 BV
            Entlassung aus der Untersuchungshaft,

hat sich ergeben:

     A.- Die Bezirksanwaltschaft Zürich führt gegen
X.________ eine Strafuntersuchung wegen Raubes sowie Gewalt
und Drohung gegen Beamte. Sie verdächtigt ihn, am 14. April
2000 versucht zu haben, A.________ mit einem Taschenmesser
zu überfallen und auszurauben. Zudem soll er am 23. August
2000 im Rückführungszentrum in Zürich einen Polizeibeamten
mit einem heftigen Stoss verletzt haben.

        X.________ wurde am 25. August 2000 in Untersu-
chungshaft genommen.

        Am 8. Juni 2001 stellte X.________ ein Haftentlas-
sungsgesuch. Die Bezirksanwaltschaft Zürich entsprach diesem
Gesuch nicht und stellte gleichentags dem Haftrichter Antrag
auf Fortsetzung der Untersuchungshaft.

        Mit Verfügung vom 13. Juni 2001 wies der Haftrich-
ter des Bezirksgerichts Zürich das Haftentlassungsgesuch von
X.________ ab und erstreckte die Haftfrist bis zum 20. Sep-
tember 2001. Er hielt dafür, dass dringender Tatverdacht und
Wiederholungsgefahr bestehe.

     B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 6. Juli 2001
wegen Verletzung von Art. 8, 9 und 10 Abs. 2 BV beantragt
X.________, den Entscheid des Haftrichters vom 13. Juni 2001
aufzuheben; er sei aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Ver-
beiständung.

     C.- Vernehmlassungen wurden keine eingeholt, nachdem
Bezirksanwaltschaft und Bezirksgericht im Verfahren 1P.412/
2001, in welchem auf eine praktisch wörtlich gleiche Be-
schwerde von X.________ aus formellen Gründen nicht einge-
treten wurde, auf Vernehmlassung verzichtet haben.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Der Beschwerdeführer wirft dem Haftrichter die
Verletzung von verfassungsmässigen Rechten vor, wozu er be-
fugt ist (Art. 88 OG). Da diese und die übrigen Sachurteils-
voraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde grund-
sätzlich einzutreten.

        b) Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen die
Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft kann, ausser der
Aufhebung des angefochtenen Entscheids, auch die sofortige
Entlassung aus der Haft verlangt werden (BGE 115 Ia 293
E. 1a). Der entsprechende Antrag des Beschwerdeführers ist
daher zulässig.

        c) Der inhaftierte Beschwerdeführer steht in erster
Linie unter dem Schutz der von Art. 10 Abs. 2 BV garantier-
ten persönlichen Freiheit. Der Berufung auf das Willkürver-
bot kommt keine selbständige Bedeutung zu.

        Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf
das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit gegen
die Haftanordnung erhoben werden, prüft das Bundesgericht
die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts grundsätz-
lich frei (BGE 117 Ia 72 E. 1; 114 Ia 281 E. 3).

     2.- a) Untersuchungshaft kann im Kanton Zürich (u.a.)
angeordnet werden, wenn der Angeschuldigte eines Vergehens
oder Verbrechens dringend verdächtig ist und aufgrund be-
stimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, er
werde, "nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen oder erheb-
liche Vergehen verübt hat, erneut solche Straftaten begehen"
(§ 58 Abs. 1 Ziff. 3 Satz 1 der Zürcher Strafprozessordnung
vom 4. Mai 1919; StPO). Liegt ausser dem allgemeinen Haft-
grund des dringenden Tatverdachts Fortsetzungsgefahr vor,
steht einer Inhaftierung auch unter dem Gesichtswinkel der
persönlichen Freiheit von Art. 10 Abs. 2 BV und von Art. 5
Ziff. 1 lit. c EMRK grundsätzlich nichts entgegen (BGE 125
I 361 E. 4c; 123 I 268 E. 2c).

        b) Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer
dringend verdächtig ist, die ihm vorgeworfenen beiden Straf-
taten begangen zu haben. Umstritten ist einzig, ob Fortset-
zungsgefahr bestehe. Der Haftrichter hat dies mit der Be-
gründung angenommen, der Beschwerdeführer habe zahlreiche,
erhebliche und gleichgelagerte Vergehen begangen. Das psy-
chiatrische Gutachten führe zwar aus, dass er grundsätzlich
nicht zu schweren Gewalttaten neige, dass aber der Vorfall
vom 14. April 2000 eindrücklich zeige, dass er in gewissen
speziellen Situationen sich zu nicht ungefährlichen Gewalt-
taten hinreissen lassen könne. Der Beschwerdeführer macht
geltend, weder habe er "zahlreiche Verbrechen oder erhebli-
che Vergehen" im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 Satz 1 StPO
verübt, noch bestünden konkrete Anhaltspunkte für die An-
nahme einer Rückfallgefahr.

        c) Die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Fort-
setzungsgefahr soll den Angeschuldigten daran hindern, wei-
tere Straftaten zu begehen, dient somit in erster Linie der
Spezialprävention. Sie stellt einen schwerwiegenden Eingriff
in die persönliche Freiheit dar, weshalb bei der Annahme,

der Angeschuldigte könnte weitere Straftaten begehen, Zu-
rückhaltung geboten ist. Eine solche Anordnung ist verhält-
nismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr un-
günstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte schwerer
Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung
weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur ge-
ringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht
aus, um eine Präventivhaft zu begründen. Schliesslich gilt
auch bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten -
dass sie nur als ultima ratio angeordnet oder aufrechter-
halten werden darf. Wo sie durch mildere Massnahmen (wie
z.B. ärztliche Betreuung, regelmässige Meldung bei einer
Amtsstelle, Anordnung von anderen evtl. stationären Betreu-
ungsmassnahmen etc.) ersetzt werden kann, muss von der An-
ordnung oder Fortdauer der Haft abgesehen und an ihrer
Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen angeordnet werden
(BGE 123 I 268 E. 2c mit Hinweisen).

     3.- a) Laut Strafregister wurde der Beschwerdeführer
bisher fünfmal verurteilt:

   - am 22. Juni 1981 wegen wiederholtem und fortgesetztem,
     teilweise bandenmässigem Diebstahl zu 6 Monaten Gefäng-
     nis;
   - am 15. September 1982 wegen Raub und wiederholtem und
     fortgesetztem Diebstahl zu 8 Monaten Gefängnis;
   - am 14. Januar 1986 wegen Betäubungsmitteldelikten zu
     18 Monaten Gefängnis, wobei der Vollzug zunächst zu
     Gunsten einer stationären, dann einer ambulanten Mass-
     nahme aufgeschoben wurde;
   - am 3. Juli 1997 wegen Fahrens trotz Entzug des Führer-
     ausweises zu 10 Tagen Haft und Fr. 100.-- Busse;
   - am 20. August 1999 wegen Sachbeschädigung, Hausfriedens-
     bruchs und Drohung zu 30 Tagen Gefängnis.

        Es trifft somit zwar durchaus zu, dass der Be-
schwerdeführer keineswegs unbescholten ist, sondern ver-
schiedene Vorstrafen erwirkt hat, die teilweise in Zusammen-

hang mit seiner Drogensucht stehen und die, jedenfalls in
einem Fall, ein Gewaltdelikt (Raub) betreffen. Immerhin ist
ihm zu Gute zu halten, dass die letzte Verurteilung zu einer
erheblichen, mehrmonatigen Freiheitsstrafe über 14 Jahre vor
der Begehung der hier zur Diskussion stehenden Taten erfolg-
te. Die beiden seitherigen Verurteilungen vom 3. Juli 1997
und vom 20. August 1999 sind zwar keineswegs leicht zu neh-
men, sind aber im Vergleich zu den drei ersten Verurteilun-
gen von untergeordneter Bedeutung.

        Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die
schweren Delikte des Beschwerdeführers lange zurückliegen
und die 1997 und 1999 erwirkten Vorstrafen vergleichsweise
leicht wiegen. Es erscheint daher fraglich, ob diese fünf
Verurteilungen als "zahlreiche Verbrechen oder erhebliche
Vergehen" im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 Satz. 1 StPO an-
gesehen werden können, was Voraussetzung für die Annahme von
Fortsetzungsgefahr ist.

        b) Als weitere Voraussetzung für die Annahme von
Fortsetzungsgefahr verlangt die dargelegte bundesgerichtli-
che Rechtsprechung eine sehr ungünstige Rückfallprognose in
Bezug auf schwer wiegende Delikte.

        Die beiden dem Beschwerdeführer im vorliegenden
Verfahren vorgeworfenen Taten sind ganz unterschiedlich ge-
lagert, auch wenn er bei beiden Vorfällen Gewalt gegen Per-
sonen angewendet haben soll. Beim (mit Abstand am schwersten
wiegenden) Vorfall vom 14. April 2000 soll er einen Passan-
ten mit einem Taschenmesser überfallen und erheblich ver-
letzt haben. Beim Vorfall vom 23. August 2000 wollte er of-
fenbar anlässlich einer Leibesvisitation ein Minigrip-Säck-
lein mit Drogen verschlucken und griff die Polizeibeamten,
die dies verhindern wollten, verbal und tätlich an. Entgegen
der Auffassung des Haftrichters lässt sich aus diesen unter-

schiedlich gelagerten Vorfällen weder für sich allein noch
in Verbindung mit den Vorstrafen eine besondere Wahrschein-
lichkeit dafür ableiten, dass der Beschwerdeführer weitere
schwere (Gewalt-)Delikte begehen werde.

        c) Die Bezirksanwaltschaft hat denn die Rückfallge-
fahr auch weniger aufgrund der vom Beschwerdeführer begange-
nen bzw. diesem vorgeworfenen Delikte allein angenommen,
sondern vor allem auch deshalb, weil sie Zweifel an dessen
geistiger Gesundheit hegte und befürchtete, dass dieser
wegen seiner (möglicherweise) beeinträchtigten psychischen
Verfassung schwere Gewaltdelikte begehen könnte. In dieser
Beziehung hat indessen das vom Bezirksanwalt eingeholte Gut-
achten insofern Klarheit gebracht, als der Gutachter jeden-
falls bei der Beantwortung der Ergänzungsfragen des Vertei-
digers klar festgehalten hat, dass er aus forensisch-psy-
chiatrischer Sicht keine Gefahr sehe, dass der Beschwerde-
führer gemeingefährliche Delikte begehe, bzw. dass sich aus
den bei diesem festgestellten psychischen Störungen keine
solche hohe Gefahr ableiten lasse. "Bezüglich solcher Delik-
te stelle ich dem Exploranden eine günstige Prognose". Der
Haftrichter begründet nicht spezifisch, weshalb er sich
letztlich über diese eindeutige gutachterliche Folgerung
hinwegsetzt.

        d) Unter diesen Umständen lässt sich dem Beschwer-
deführer in Bezug auf schwerwiegende (Gewalt-)Delikte offen-
sichtlich keine "sehr ungünstige Rückfallprognose" stellen,
was nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Vorausset-
zung für die Annahme von Fortsetzungsgefahr wäre. Die Rüge
der Verletzung der persönlichen Freiheit ist begründet.

     4.- Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der ange-
fochtene Entscheid aufzuheben.

        Dass die Untersuchungshaft aufgrund eines anderen
Haftgrundes - Flucht- oder Kollusionsgefahr - fortgesetzt
werden könnte, erscheint ausgeschlossen. Dass Fluchtgefahr
bestehen könnte, wurde, soweit ersichtlich, während des gan-
zen Verfahrens nie ernsthaft in Betracht gezogen. Kollu-
sionsgefahr anzunehmen erscheint ausgeschlossen, da in Bezug
auf den ersten Vorfall die Konfrontation mit A.________ und
die Schlusseinvernahmen beider durchgeführt wurden und in
Bezug auf den zweiten Vorfall nicht ernsthaft befürchtet
werden kann, dass der Beschwerdeführer die ihn belastenden
Polizeibeamten zu entlastenden Falschaussagen bewegen könn-
te. Demzufolge ist auch das Haftentlassungsgesuch gutzu-
heissen.

        Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten
zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen hat der Kanton
Zürich dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschä-
digung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 2 OG), womit dessen Gesuch
um unentgeltliche Prozessführung gegenstandslos wird.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefoch-
tene Entscheid des Bezirksgerichts Zürich vom 13. Juni 2001
aufgehoben.

     2.- Der Beschwerdeführer ist umgehend aus der Untersu-
chungshaft zu entlassen.

     3.- Es werden keine Kosten erhoben.

     4.- Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von
Fr. 1'800.-- zu bezahlen.

     5.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der
Bezirksanwaltschaft Zürich, Büro C-12, und dem Bezirksge-
richt Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 16. Juli 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: