Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.442/2001
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001


1P.442/2001/bmt

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      21. August 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Bundesrichter Féraud und Gerichtsschreiber
Störi.

                         ---------

                         In Sachen

G.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Peter Sutter, Niedern 117, Postfach, Trogen,

                           gegen

Bezirksgericht  A p p e n z e l l, Strafgericht,
Staatsanwaltschaft des Kantons  A p p e n z e l l  I.Rh.,
Kantonsgericht  A p p e n z e l l  I.Rh., Abteilung Zivil-
und Strafgericht,

                         betreffend
                      Strafverfahren,

hat sich ergeben:

     A.- G.________ fuhr am Dienstag, dem 16. Juni 1998, um
ca. 17 Uhr, mit seinem Ferrari F355 Spider von Haslen in
Richtung Appenzell. Nach einer Linkskurve überholte er einen
schwarzen BMW. Im Anschluss an das vor der nachfolgenden
Rechtskurve abgeschlossene Überholmanöver verlor G.________
bei Lank die Beherrschung über sein Fahrzeug. Er geriet über
den rechten Fahrbahnrand, beschädigte 10-15 Betonpfähle und
kam in der angrenzenden Wiese beim Restaurant Rössli zum
Stillstand.

        Mit Strafbefehl vom 21. Oktober 1999 verurteilte
die Untersuchungsrichterin des Kantons Appenzell Innerrhoden
G.________ wegen Missachtens der signalisierten Höchst-
geschwindigkeit von 80 km/h um mindestens 33 km/h im Sinne
von Art. 90 Ziff. 2 SVG i.V.m. Art. 27 Abs. 1 und Art. 32
Abs. 2 SVG sowie Art. 4a Abs. 1 lit. b VRV und Nichtbeherr-
schens des Fahrzeugs im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG i.V.m.
Art. 32 Abs. 1 SVG und Art. 4 Abs. 1 VRV zu einer Busse von
1'000 Franken.

        Mit Urteil vom 13. Juni 2000 sprach das Bezirks-
gericht Appenzell G.________ vom Vorwurf der groben Ver-
kehrsregelverletzung frei und verurteilte ihn wegen mehr-
facher Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 1
SVG zu einer Busse von 1'000 Franken.

        Am 3. April 2001 sprach das Kantonsgericht Appen-
zell I.Rh., an welches sowohl G.________ mit Berufung als
auch die Staatsanwaltschaft mit Anschlussberufung gelangt
waren, G.________ infolge Verjährung vom Vorwurf der
mehrfachen Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90
Ziff. 1 SVG frei, überband ihm indessen die Kosten des Ver-

fahrens und sprach ihm keine Entschädigung zu. Es fand,
G.________ könne entgegen der Auffassung der Staatsanwalt-
schaft keine grobe Verkehrsregelverletzung nachgewiesen wer-
den, und die ihm vom Bezirksgericht zu Recht angelasteten
einfachen Verkehrsregelverletzungen seien verjährt.

     B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 28. Juni 2001
wegen Willkür und Verletzung der Unschuldsvermutung bean-
tragt G.________, das Urteil des Kantonsgerichts aufzuheben,
soweit dieses ihm die Verfahrenskosten auferlegte und keine
Entschädigung zusprach.

     C.- Das Bezirksgericht Appenzell verzichtet auf Ver-
nehmlassung. Das Kantonsgericht und die Staatsanwaltschaft
beantragen, die Beschwerde abzuweisen.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Beim angefochtenen Entscheid des Kantonsgerichts
handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen End-
entscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist
durch die Auferlegung von Gerichtskosten und die Abweisung
seines Entschädigungsgesuchs in seinen rechtlich geschützten
Interessen berührt (Art. 88 OG), und er macht die Verletzung
von Art. 9 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK geltend (Art. 84
Abs. 1 lit. a OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen
sind erfüllt, sodass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt
gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; 125 I
492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c), grundsätzlich einzutreten ist.

     2.- Der Beschwerdeführer wirft dem Kantonsgericht
eine Verletzung der Unschuldsvermutung vor, weil es ihm
die Verfahrenskosten auferlegte und eine Parteientschädi-
gung verweigerte mit der Begründung, er habe, wie das
Bezirksgericht zu Recht angenommen habe, verschiedene
Verkehrsregeln verletzt.

        a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dür-
fen einem Angeschuldigten bei Einstellung des Verfahrens nur
dann Kosten auferlegt werden, wenn er durch ein unter recht-
lichen Gesichtspunkten vorwerfbares Verhalten die Einleitung
des Strafverfahrens veranlasst oder dessen Durchführung er-
schwert hat. Bei der Kostenpflicht des aus dem Verfahren
entlassenen Angeschuldigten handelt es sich nicht um eine
Haftung für ein strafrechtliches Verschulden, sondern um
eine zivilrechtlichen Grundsätzen angenäherte Haftung für
ein fehlerhaftes Verhalten, durch das die Einleitung oder
Erschwerung des Prozesses verursacht wurde. Gemäss Art. 41
Abs. 1 OR ist zum Ersatz verpflichtet, wer einem anderen
widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es
aus Fahrlässigkeit. Im Zivilrecht wird demnach eine Haftung
dann ausgelöst, wenn jemandem durch ein widerrechtliches
und - abgesehen von den Fällen der Kausalhaftung - schuld-
haftes Verhalten ein Schaden zugefügt wird. Widerrechtlich
im Sinne von Art. 41 Abs. 1 OR ist ein Verhalten dann, wenn
es gegen Normen verstösst, die direkt oder indirekt Schädi-
gungen untersagen bzw. ein Schädigungen vermeidendes Ver-
halten vorschreiben. Solche Verhaltensnormen ergeben sich
aus der Gesamtheit der schweizerischen Rechtsordnung, unter
anderem aus Privat-, Verwaltungs- und Strafrecht, gleich-
gültig, ob es sich um eidgenössisches oder kantonales, ge-
schriebenes oder ungeschriebenes Recht handelt. Es ist mit
der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK festgeleg-
ten Unschuldsvermutung vereinbar, einem nicht verurteilten
Angeschuldigten die Kosten dann zu überbinden, wenn er in

zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine solche Verhal-
tensnorm klar verstossen und dadurch das Strafverfahren
veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 119
Ia 332 E. 1b mit Hinweisen). Unzulässig ist es dagegen, die
Kostenauflage damit zu begründen, der Angeschuldigte habe
sich strafbar gemacht bzw. ihn treffe ein strafrechtliches
Verschulden (BGE 116 Ia 162 E. 2e S. 175)

        b) Das Kantonsgericht führt im angefochtenen Ent-
scheid zur Kostenauflage aus:

        "Der Angeklagte hat anlässlich der fraglichen Fahrt
         im Sinne obiger Ausführungen verschiedene einfache
         Verkehrsregelverletzungen begangen und damit durch
         ein unter rechtlichen Gesichtspunkten vorwerfbares
         Verhalten (prozessuales Verschulden im weiteren
         Sinn) die Einleitung der Strafuntersuchung verur-
         sacht (vgl. BGE 116 Ia 162 Erw. 2a). Auch die erst-
         instanzliche Verurteilung vom 13. Juni 2000 erfolg-
         te im Sinne obiger Ausführungen zu Recht, war doch
         in jenem Zeitpunkt die absolute Verjährung noch
         nicht eingetreten.  Die entsprechenden Kosten sind
         deshalb grundsätzlich im Sinne von Art. 86 Abs. 1
         StPO dem freigesprochenen Angeklagten aufzuerlegen
         (S. 7 E. 6a)."

        c) Damit begründet das Kantonsgericht die Kosten-
auflage klarerweise mit der strafrechtlichen Schuld des Be-
schwerdeführers, der einer Verurteilung nur wegen der nach
dem bezirksgerichtlichen Urteil eingetretenen Verjährung
entgangen sei. Daran würde im Übrigen auch die vom Kantons-
gericht in der Vernehmlassung nachgeschobene Begründung
nichts ändern, wonach sich der Beschwerdeführer, indem er
bei seinem Unfall mehrere Betonpfeiler beschädigt habe, ein
auch unter zivilrechtlichen Gesichtspunkten vorwerfbares
Verhalten habe zu Schulden kommen lassen. Diese Argumenta-
tion verkennt, dass der angerichtete Schaden bloss die Folge
des verkehrswidrigen, strafrechtlich vorwerfbaren Verhaltens
darstellt. Das ist nach der dargelegten Rechtsprechung mit

der Unschuldsvermutung von Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 2 EMRK nicht vereinbar, die Rüge ist begründet.

        d) Die Ausrichtung einer Parteientschädigung an
den Beschwerdeführer verweigerte das Kantonsgericht aus den
gleichen Gründen, aus denen es ihm Verfahrenskosten aufer-
legte. Demzufolge erweist sich auch die Abweisung des Ge-
suchs um Parteientschädigung als verfassungs- und konven-
tionswidrig.

     3.- Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der
angefochtene Entscheid, soweit dem Beschwerdeführer damit
Verfahrenskosten auferlegt und die Ausrichtung einer Par-
teientschädigung verweigert werden, aufzuheben.

        Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten
zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen hat der Kanton
Appenzell dem obsiegenden Beschwerdeführer für das bundes-
gerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die Beschwerde wird gutgeheissen und der ange-
fochtene Entscheid des Kantonsgerichts Appenzell I.Rh. vom
3. April 2001 aufgehoben.

     2.- Es werden keine Kosten erhoben.

     3.- Der Kanton Appenzell I.Rh. hat dem Beschwerdeführer
für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädi-
gung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.

     4.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem
Bezirksgericht Appenzell (Strafgericht), der Staatsanwalt-
schaft des Kantons und dem Kantonsgericht (Abteilung Zivil-
und Strafgericht) Appenzell I.Rh. schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 21. August 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: