Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.42/2001
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001


1P.42/2001/boh

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                       10. April 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Bundesrichter Féraud und Gerichtsschreiber
Störi.

                         ---------

                         In Sachen

X.________, Beschwerdeführer,

                           gegen

A.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecher
Sven Marguth, Genfergasse 3, Postfach 7217, Bern,
Generalprokurator des Kantons  B e r n,
Obergericht des Kantons  B e r n, 2. Strafkammer,

                         betreffend
       Art. 9, 29 und 32 Abs. 1 BV (Strafverfahren),

hat sich ergeben:

     A.- X.________ fuhr am frühen Morgen des 12. Juni 1997
mit seinem Personenwagen auf der Hofenstrasse von Hofen in
Richtung Hinterkappelen und bog nach rechts zur Wohleibrücke
hin ab. Ausgangs der unübersichtlichen Kurve kollidierte er
mit der von der Wohleibrücke her kommenden Motorradlenkerin
A.________, welche sich beim Unfall erhebliche Verletzungen
(u.a. mehrfache, z.T. offene Beinbrüche) zuzog.

        Der Gerichtspräsident 13 des Gerichtskreises VIII
Bern-Laupen verurteilte am 8. März 2000 X.________ wegen
fahrlässiger Körperverletzung und Nichtanpassens der Ge-
schwindigkeit an die Sichtverhältnisse beim Fahren mit einem
Personenwagen (Art. 41 Abs. 1, 63 und 125 Abs. 2 StGB sowie
Art. 32 Abs. 1 SVG) zu 20 Tagen Gefängnis bedingt. Er hielt
für erwiesen, dass X.________ zu schnell in die Kurve einge-
fahren war, einen Teil der linken Fahrspur beansprucht und
so den Unfall verursacht hatte.

        Auf Berufung von X.________ hin bestätigte das
Obergericht des Kantons Bern mit Urteil vom 22. August 2000,
welches es am 27. Dezember 2000 zustellte, das erstinstanz-
liche Urteil im Schuldpunkt, reduzierte jedoch die Strafe
auf Fr. 2'500.-- Busse.

     B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. Januar
2001 wegen willkürlicher Beweiswürdigung, Verletzung des
Grundsatzes "in dubio pro reo" und des rechtlichen Gehörs
beantragt X.________, das Urteil des Obergerichts vom
22. August 2000 aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung
ans Obergericht zurückzuweisen.

        Der Generalprokurator beantragt in der Vernehmlas-
sung, die Beschwerde abzuweisen. Das Obergericht verzichtet
unter Hinweis auf sein Urteil und die Vernehmlassung des
Generalprokurators auf Vernehmlassung.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Beim angefochtenen Urteil des Obergerichts handelt
es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid
(Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch die
strafrechtliche Verurteilung in seinen rechtlich geschützten
Interessen berührt (Art. 88 OG) und er macht die Verletzung
von verfassungsmässigen Rechten geltend (Art. 84 Abs. 1
lit. b OG). Da diese und auch die übrigen Sachurteilsvoraus-
setzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde unter dem
Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b
OG; BGE 126 I 81 E. 1; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c) ein-
zutreten.

     2.- Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht vor, es
sei ohne nachvollziehbare Begründung vom Gutachten Löhle ab-
gewichen, indem es davon ausgegangen sei, seine Sichtweite
habe unmittelbar vor dem Unfall 12 m betragen, nicht 20 -
22 m, wie der Gutachter angenommen habe. Damit habe es unter
Verletzung seiner Begründungspflicht eine willkürliche Sach-
verhaltsfeststellung getroffen.

        a) Willkürlich handelt ein Gericht, wenn es seinem
Entscheid Tatsachenfeststellungen zugrunde legt, die mit den
Akten in klarem Widerspruch stehen. Im Bereich der Beweis-
würdigung besitzt der Richter einen weiten Ermessensspiel-

raum. Das Bundesgericht greift im Rahmen einer staatsrecht-
lichen Beschwerde nur ein, wenn die Beweiswürdigung offen-
sichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in
klarem Widerspruch steht oder auf einem offenkundigen Ver-
sehen beruht (BGE 124 I 208 E. 4a; 117 Ia 13 E. 2c; 18 E. 3c
je mit Hinweisen). Die in Art. 6 Ziff. 2 EMRK garantierte
Rechtsregel "in dubio pro reo", auf die sich der Beschwerde-
führer in diesem Zusammenhang beiläufig ebenfalls beruft,
geht in ihrer Funktion als Beweiswürdigungsregel nicht über
das Willkürverbot von Art. 9 BV hinaus.

        b) Aus dem von Art. 29 Abs. 2 BV garantierten An-
spruch auf rechtliches Gehör ergibt sich für den Richter die
Pflicht, seinen Entscheid zu begründen. Er muss wenigstens
kurz die wesentlichen Überlegungen darlegen, von denen er
sich dabei hat leiten lassen, sodass der Betroffene den Ent-
scheid in voller Kenntnis der Sache anfechten kann. Dabei
muss sich der Richter nicht mit allen tatsächlichen Behaup-
tungen und rechtlichen Einwänden auseinander setzen. Er kann
sich vielmehr auf die für seinen Entscheid erheblichen Ge-
sichtspunkte beschränken (BGE 122 IV 8 E. 2c; 121 I 54 E. 2c
zu Art. 4 aBV).

     3.- a) Nach den Feststellungen und Folgerungen des ge-
richtlichen Gutachters Löhle hat sich der Beschwerdeführer
mit einer Geschwindigkeit von 40 - 45 km/h bei erstellter
Bremsbereitschaft der unübersichtlichen Abzweigung zur
Wohleibrücke genähert. 1,05 sec. vor der Kollision bzw.
11,10 m vor der Kollisionsstelle entschloss er sich zur
Vollbremsung. In diesem Zeitpunkt war das mit einer Ge-
schwindigkeit von rund 35 km/h entgegenkommende Motorrad
A.________ 10,10 m von der Kollisionsstelle bzw. 21,2 m vom
Personenwagen des Beschwerdeführers entfernt. Im Zeitpunkt
der Kollision ragte dessen Personenwagen 30 cm in die linke

Fahrbahnhälfte hinein; A.________ fuhr ganz in ihrer Fahr-
bahnhälfte, hätte die Kollision allerdings vermeiden können,
wenn sie besser rechts gefahren wäre. Der Beschwerdeführer
hätte die Kollision vermeiden können, wenn seine Ausgangs-
geschwindigkeit 33 km/h statt 42,5 km/h betragen hätte.

        Die erste Instanz stellte vollumfänglich auf dieses
Gutachten ab; einzig der Einschätzung, dass A.________ die
Kollision durch besseres Rechtsfahren hätte vermeiden kön-
nen, schloss sie sich nicht an, weil dies wegen der dem Gut-
achter nicht bekannten, in die Fahrbahn hineinragenden Ge-
büsche nicht möglich gewesen sei.

        b) Das Obergericht hat im angefochtenen Urteil aus-
geführt, wegen der Veränderung der Vegetation nach dem Un-
fall - die Strassenrandbestockung wurde radikal zurückge-
schnitten - könne nicht mehr genau festgestellt werden,
"welche Sichtbarkeitsdistanz dem Angeschuldigten beim Befah-
ren der Verzweigung Hofenstrasse/Brückenzufahrt tatsächlich
zur Verfügung stand". Nach dem Grundsatz "im Zweifel zu
Gunsten des Angeschuldigten" sei auf Grund des Unfallplanes
und der dort eingezeichneten Sichtlinie sowie aus der Extra-
polation der Brems- und Blockierspuren des Pw X.________
davon auszugehen, dass er den ihm von der Brücke entgegen-
kommenden Verkehr auf höchstens 10 - 12 m habe erkennen kön-
nen.

        c) Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, diese An-
nahme des Obergerichts sei aktenwidrig, da sie sich mit den
übrigen, unbestritten gebliebenen Untersuchungsergebnissen
nicht vereinbaren lasse. Hätte der Beschwerdeführer bei
einer Geschwindigkeit von 42,5 km/h bzw. 11,8 m/sec die ihm
mit einer Geschwindigkeit von rund 35 km/h bzw. 9,7 m/sec
entgegenkommende Motorradfahrerin erst auf eine Distanz von
12 m gesehen, so wäre es bereits vor Ablauf der für die Ein-
leitung des Bremsvorganges notwendigen Reaktionszeit von

0,6 sec und damit ungebremst zur Kollision gekommen, da der
innerhalb dieser Reaktionszeit zurückgelegte Weg (0.6 x
11.8 m + 0.6 x 9.7 m = 13 m) der beiden Fahrzeuge diese
Sichtdistanz übersteigt. Aus der sichergestellten Brems- und
Blockierspur des Beschwerdeführers, die bis zur Kollisions-
stelle 3,6 m beträgt, ergibt sich zweifelsfrei, dass er be-
reits deutlich vor der Kollision eine Vollbremsung eingelei-
tet hatte. Die Annahme des Obergerichts, der Beschwerdefüh-
rer habe die ihm entgegenkommende Motorradlenkerin erst auf
eine Distanz von 10 - 12 m sehen können, ist daher offen-
sichtlich unhaltbar und damit willkürlich.

        d) Eine willkürliche tatsächliche Feststellung im
angefochtenen Entscheid führt nur dann zu dessen Aufhebung,
wenn sie geeignet ist, das Ergebnis zu beeinflussen, mithin
rechtserheblich ist. Das ist hier der Fall. Der Beschwerde-
führer behauptet zwar zu Recht nicht, seine Verurteilung sei
wegen dieser aktenwidrigen Feststellung des Obergerichts zu
Unrecht erfolgt. Er macht nur geltend, das Strafmass sei zu
hoch ausgefallen, da es für die Frage des Verschuldens und
damit der Strafzumessung einen erheblichen Unterschied aus-
mache, ob er bei einer Sichtweite von 10 - 12 m oder 20 -
22 m mit einer Geschwindigkeit von rund 40 km/h in Richtung
Wohleibrücke abgezweigt sei. Das trifft offensichtlich zu,
wiegt doch die ihm vorgeworfene Verkehrsregelverletzung um
so schwerer, je kürzer seine Sichtweite war. Damit braucht
die in diesem Zusammenhang ebenfalls erhobene Gehörsverwei-
gerungsrüge nicht weiter geprüft zu werden.

     4.- Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der ange-
fochtene Entscheid aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Ver-
fahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG).
Eine Parteientschädigung steht dem nicht anwaltlich vertre-
tenen Beschwerdeführer praxisgemäss nicht zu.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen
und der angefochtene Entscheid aufgehoben.

     2.- Es werden keine Kosten erhoben.

     3.- Dieses Urteil wird den Parteien sowie dem General-
prokurator und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Straf-
kammer, schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 10. April 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: