Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.385/2001
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1P.385/2001/bie

             I. ÖFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             *********************************

                       29. Juni 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung,
Bundesrichter Nay, Bundesrichter Féraud und Gerichts-
schreiberin Widmer.

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                         In Sachen

A.________, z.Zt. Kantonales Gefängnis Schaffhausen,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas
Josephsohn, Lutherstrasse 4, Postfach, Zürich,

                           gegen

D.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechts-
anwältin Dr. Michèle Hubmann Trächsel, Vordergasse 18,
Schaffhausen (gleichzeitig Zustelladresse),
Staatsanwaltschaft des Kantons  S c h a f f h a u s e n,
Obergericht des Kantons  S c h a f f h a u s e n,

                         betreffend
               Art. 10 Abs. 2 BV, Art. 5 EMRK
                (Haftprüfung; Fluchtgefahr),

hat sich ergeben:

     A.- A.________ wurde am 22. November 1999 auf dem Weg
in seine Arztpraxis wegen des Verdachts, gegen die sexuelle
Integrität seiner Patientin D.________ zuwidergehandelt zu
haben, angehalten und für einige Tage in Untersuchungshaft
gesetzt. Am 26. Mai 2000 wurde er erneut inhaftiert, wobei
ihm zusätzlich vorgeworfen wurde, unter Beizug von
H.________ und R.________ Anstrengungen unternommen zu
haben, D.________ ausfindig zu machen und zu töten. Ent-
sprechend weiteten sich die Verdachtsgründe auf Anstiftung
und Vorbereitungshandlungen zu Mord aus. Am 13. September
2000 erhob die Staatsanwaltschaft beim Kantonsgericht
Schaffhausen Anklage wegen mehrfacher Schändung und versuch-
ter Anstiftung zu Mord, Freiheitsberaubung und Entführung,
eventuell wegen strafbarer Vorbereitungshandlungen zu Mord,
Freiheitsberaubung und Entführung.

        Der Präsident der II. Strafkammer des Kantonsge-
richts verlängerte am 18. September 2000 die Untersuchungs-
haft wegen dringenden Tatverdachts sowie Flucht-, Kollusions-
und Wiederholungsgefahr bis zur Hauptverhandlung. Das Kan-
tonsgericht Schaffhausen sprach A.________ mit Urteil vom
21. Dezember 2000 der wiederholten Schändung sowie der ver-
suchten Anstiftung zu Mord, Freiheitsberaubung und Entfüh-
rung schuldig und bestrafte ihn mit zwölf Jahren Zuchthaus.
Gleichzeitig erteilte es ihm ein unbedingtes Berufsverbot
für die Dauer von fünf Jahren, verpflichtete ihn zur Leis-
tung einer Genugtuung an D.________ und ordnete die Aufrecht-
erhaltung der Haft an. Gegen dieses Urteil erhob A.________
am 23. Dezember 2000 Berufung an das Obergericht des Kantons
Schaffhausen. Auf Aufforderung des Obergerichts, sich zur
Frage der Haft zu äussern, beantragte A.________ seine un-
verzügliche Entlassung. Am 8. März 2001 verfügte der Vize-
präsident des Obergerichts die Aufrechterhaltung der Haft

wegen Flucht- und Wiederholungsgefahr. Am 22. März 2001 er-
hob A.________ Einsprache gegen diese Verfügung und bean-
tragte erneut, aus der Haft entlassen zu werden.

        Das Obergericht wies mit Beschluss vom 27. April
2001 die Einsprache ab und bestätigte die Verfügung des
Haftrichters vom 8. März 2001.

     B.- Gegen den Beschluss des Obergerichts führt
A.________ staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht
wegen Verletzung seiner persönlichen Freiheit (Art. 10
Abs. 2 BV, Art. 5 EMRK). Er beantragt die Aufhebung des
angefochtenen Urteils und die umgehende Haftentlassung.

        Die Beschwerdegegnerin, die Staatsanwaltschaft und
das Obergericht beantragen in ihren Stellungnahmen die Ab-
weisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer äussert sich in
seiner Replik zu den Vorbringen der Beschwerdegegnerin. Wei-
ter nimmt er Bezug auf die Vernehmlassung des Obergerichts
im gleichzeitig hängigen staatsrechtlichen Beschwerdeverfah-
ren betreffend Ausstand des Vizepräsidenten des Obergerichts
(1P.363/2001). Dieser ist zu entnehmen, dass dem Bundesge-
richt nur ein Auszug der Akten in Kopie zugestellt wurde.
Der Beschwerdeführer beantragt auch für dieses Verfahren,
das Bundesgericht möge sämtliche Vorakten einholen.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Der Beschwerdeführer ist als Inhaftierter legi-
timiert, gegen die Haftanordnung staatsrechtliche Beschwerde
zu erheben (Art. 88 OG) und, in Abweichung vom Grundsatz der

kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde, über
die Aufhebung des angefochtenen Entscheids hinaus die Anord-
nung seiner Entlassung zu beantragen (BGE 124 I 327 E. 4a
und b S. 332 f.; 115 Ia 293 E. 1a). Da auch die übrigen Sach-
urteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde
einzutreten.

        b) Nach Art. 95 Abs. 1 OG ordnet der Instruktions-
richter die zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen
Beweisaufnahmen an. Um über die streitige Sache befinden zu
können, muss das Bundesgericht über alle entscheidrelevanten
Unterlagen verfügen. Vorliegend hat das Obergericht nicht
sämtliche Akten des Strafverfahrens eingereicht, sondern im
Wesentlichen diejenigen Unterlagen, die es seinem Entscheid
zu Grunde gelegt hat. Der Beschwerdeführer bestreitet die
Sachverhaltsdarstellung des Obergerichts nicht, sondern be-
anstandet allein die daraus gezogenen rechtlichen Schluss-
folgerungen. Er beruft sich auch nicht auf Umstände, die um-
stritten und aktenmässig nicht belegt wären. Es erweist sich
daher nicht als erforderlich, sämtliche Akten beizuziehen,
die das Haftprüfungsverfahren nicht direkt betreffen. Dem
Antrag des Beschwerdeführers auf Beizug aller Vorakten ist
daher nicht zu entsprechen.

     2.- a) Die Anordnung und Aufrechterhaltung einer Haft
ist als Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit
(Art. 10 Abs. 2 und 31 BV) nur zulässig, wenn sie auf einer
ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen
Interesse liegt und verhältnismässig ist. Zudem darf sie den
Kerngehalt der persönlichen Freiheit nicht antasten: Diese
darf weder völlig unterdrückt noch ihres Gehalts als Insti-
tution der Rechtsordnung entleert werden (Art. 10 Abs. 2
i.V.m. Art. 36 BV; vgl. BGE 125 I 361 E. 4a; 124 I 80 E. 2c;
je mit Hinweisen). Art. 5 EMRK geht in seinem Gehalt nicht

über den verfassungsmässigen Anspruch auf persönliche Frei-
heit hinaus. Indessen berücksichtigt das Bundesgericht bei
der Konkretisierung dieses Anspruchs auch die Rechtsprechung
der Konventionsorgane (BGE 114 Ia 281 E. 3; 108 Ia 64 E. 2c
mit Hinweisen).

        Angesichts der Schwere des mit einem Freiheitsent-
zugs verbundenen Eingriffs in die persönliche Freiheit prüft
das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung der kantonalen
Eingriffsnormen mit freier Kognition (BGE 124 I 80 E. 2;
123 I 31 E. 3a). Auf eine Willkürprüfung beschränkt es sich,
soweit Sachverhaltsfeststellungen sowie Fragen der Beweis-
würdigung in die Beurteilung miteinzubeziehen sind (BGE 123
I 31 E. 3a und 268 E. 2d; 117 Ia 72 E. 1; je mit Hinweisen;
zum Begriff der Willkür: BGE 125 I 492 E. 1b S. 495 mit Hin-
weisen).

        b) Nach Art. 149 Abs. 1 und 2 der Strafprozess-
ordnung für den Kanton Schaffhausen vom 15. Dezember 1986
(StPO/SH) kann Untersuchungshaft angeordnet oder aufrechter-
halten werden, wenn und solange der Beschuldigte eines Ver-
brechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und zudem
Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr besteht.

        Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen eines
dringenden Tatverdachts nicht. Hingegen wehrt er sich gegen
die Vermutung von Flucht- und Wiederholungsgefahr.

     3.- a) Für die Annahme von Fluchtgefahr wird nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts eine gewisse Wahrschein-
lichkeit gefordert, dass sich der Betreffende, in Freiheit
belassen, der Strafverfolgung durch Flucht entziehen würde.
Die Schwere der drohenden Strafe darf als Indiz für Flucht-
gefahr gewertet werden. Sie genügt für sich allein jedoch
nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die ge-

samten Lebensverhältnisse des Angeschuldigten in Betracht
gezogen und konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht
nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen
lassen. Die Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann
immer nur neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tat-
sachen herangezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a; 117 Ia 69
E. 4a; 108 Ia 64 E. 3).

        b) Der Beschwerdeführer ist in erster Instanz we-
gen wiederholter Schändung sowie versuchter Anstiftung zu
Mord, Freiheitsberaubung und Entführung zu zwölf Jahren
Zuchthaus verurteilt worden und muss trotz Weiterzugs der
Sache mit einer langjährigen Freiheitsstrafe rechnen. Das
Obergericht legt zutreffend dar, dass neben diesem Umstand
insbesondere die mit einem Schuldspruch verbundene Beein-
trächtigung der beruflichen und gesellschaftlichen Stellung
des Beschwerdeführers für eine Fluchtgefahr sprechen. Der
Einwand des Beschwerdeführers, er habe trotz der im Jahr
1991 wegen mehrfacher Schändung erfolgten Verurteilung nach
Verbüssen der damals ausgesprochenen Freiheitsstrafe die
Tätigkeit als Arzt wieder aufgenommen, ist angesichts der
zwischenzeitlich bedeutend massiveren Tatvorwürfe nicht ge-
eignet, die für Fluchtgefahr sprechenden Argumente zu ent-
kräften. Die hohe Publizitätswirkung der vorliegenden Ange-
legenheit sowie das dem Beschwerdeführer drohende langjäh-
rige Berufsverbot lassen vielmehr eine spätere Wiederauf-
nahme der Arzttätigkeit in der Schweiz als unwahrscheinlich
erscheinen. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer seinen
Beruf gerne ausübt und heute knapp 52 Jahre alt ist, stellt
bei dieser Ausgangslage nur ein zusätzliches Indiz dafür
dar, dass er versuchen könnte, im Ausland eine neue beruf-
liche Existenz aufzubauen. Dass der Beschwerdeführer nach
Einleitung der Strafuntersuchung wegen Schändung im November
1999 nicht die Flucht ergriffen hat, obwohl er dazu bis zu
seiner Inhaftierung Ende Mai 2000 Gelegenheit gehabt hätte,
ist angesichts der erst später erfolgten Ausweitungen des

Tatverdachts nicht als gewichtiges, gegen Fluchtgefahr spre-
chendes Argument zu sehen. Unbegründet ist auch die Rüge,
das Obergericht hätte unter dem Gesichtspunkt der Fluchtge-
fahr nicht berücksichtigen dürfen, dass der Beschwerdeführer
zu den konspirativen Treffen mit H.________ verkleidet und
unter falschem Namen erschien. Diesem Einwand ist entgegen-
zuhalten, dass der Beschwerdeführer mit diesem Vorgehen
immerhin zum Ausdruck brachte, dass er gewillt ist, einigen
Aufwand zu betreiben, um nötigenfalls seine Identität zu
verbergen. Ob er dabei über grosses Geschick resp. "organi-
satorische Gewohnheit und Gewandtheit" verfügt, wie die kan-
tonalen Behörden ausführen, ist gegenüber der Bereitschaft,
solche Massnahmen zwecks Verhinderung einer Strafverfolgung
überhaupt zu treffen, von untergeordneter Bedeutung. Das
Obergericht durfte schliesslich auch die ungünstige finan-
zielle Situation, in der sich der Beschwerdeführer nach eige-
nen Angaben befindet, als Anreiz zur Flucht mitberücksich-
tigen. Nach dem vorstehend Ausgeführten vermag auch die per-
sönlich und familiär bedingte Verwurzelung des Beschwerde-
führers in der Schweiz keine ausreichende Gewähr zu bieten,
dass er bei Entlassung aus der Haft nicht ins Ausland flie-
hen würde.

        c) Erweist sich die Aufrechterhaltung der Haft
wegen Fluchtgefahr als zulässiger Eingriff in die persön-
liche Freiheit, kann offen bleiben, wie es sich mit der An-
nahme von Wiederholungsgefahr verhält.

     4.- Demnach ist die staatsrechtliche Beschwerde abzu-
weisen. Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die
bundesgerichtlichen Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen
(Art. 156 Abs. 1 OG). Er hat der Beschwerdegegnerin eine an-
gemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 159 Abs. 2
OG).

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

     2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem
Beschwerdeführer auferlegt.

     3.- Der Beschwerdeführer hat die Beschwerdegegnerin für
das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu ent-
schädigen.

     4.- Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwalt-
schaft und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schrift-
lich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 29. Juni 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                  Die Gerichtsschreiberin: