Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.368/2001
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1P.368/2001/kra

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      10. August 2001

Es wirken mit: Bundesrichter Nay, präsidierendes Mitglied
der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter
Féraud, Bundesrichter Catenazzi und Gerichtsschreiber Störi.

                         ---------

                         In Sachen

C.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans-Jürg
Tarnutzer, Hartbertstrasse 1, 7002 Chur,

                           gegen

Stadt  C h u r,
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Benz, Talstrasse 42 D,
Postfach 18, 7270 Davos Platz,
Verwaltungsgericht des Kantons  G r a u b ü n d e n,
1. Kammer,

                         betreffend
          Polizeibusse wegen Verstosses gegen die
               Taxiverordnung der Stadt Chur,

hat sich ergeben:

     Der Stadtrat von Chur verurteilte C._______ am
18. September 2000 wegen "Übertretung gegen die Taxiverord-
nung infolge Führens eines Taxibetriebes ohne die erforder-
liche Bewilligung" zu einer Busse von 500 Franken.

     Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wies den
von C._______ gegen seine Verurteilung erhobenen Rekurs am
6. Februar 2001 ab.

     Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 29. Mai 2001 wegen
Verletzung von Art. 9 und Art. 30 BV sowie von Art. 6
Ziff. 1 EMRK beantragt C._______, diesen Entscheid des
Verwaltungsgerichts aufzuheben.

     Die Stadt Chur und das Verwaltungsgericht beantragen in
ihren Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen bzw. abzu-
weisen, soweit darauf eingetreten werden könne.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Beim angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts
handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen End-
entscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist
durch die Verurteilung zu einer Busse in seinen rechtlich
geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG) und er macht die
Verletzung von verfassungsmässigen Rechten geltend (Art. 84
Abs. 1 lit. b OG). Da diese und auch die übrigen Sachur-
teilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde
grundsätzlich einzutreten.

     2.- In formeller Hinsicht wirft der Beschwerdeführer
dem Verwaltungsgericht vor, seinen in Art. 30 Abs. 3 BV und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK garantierten Anspruch auf eine öffent-
liche Verhandlung verletzt zu haben.

        a) Die Berufung auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK setzt vor-
aus, dass gegen den Beschwerdeführer eine strafrechtliche
Anklage erhoben wurde. Da der erstinstanzlich verfügende
Stadtrat kein Gericht im Sinne dieser Bestimmung ist, hatte
der Beschwerdeführer in diesem Fall Anspruch darauf, dass
das Verwaltungsgericht über deren Stichhaltigkeit in einem
öffentlichen Verfahren entschied.

        Was eine strafrechtliche Anklage ist, wird von den
Organen der Europäischen Menschenrechtskonvention autonom
ausgelegt. Nach der vom Bundesgericht übernommenen Praxis
des Europäischen Gerichtshofes ist zunächst zu prüfen, ob
die Massnahme nach innerstaatlichem Recht dem Disziplinar-
oder dem Strafrecht zuzuordnen ist. Weiter sind - unter
Berücksichtigung der Gesetzgebungen anderer Vertrags-
staaten - die Natur der Widerhandlung und deren Folgen zu
untersuchen; wird mit der angewendeten Norm ein präventiver
oder repressiver Zweck verfolgt und mithin von jedermann ein
bestimmtes Verhalten erzwungen, liegt grundsätzlich eine
strafrechtliche Angelegenheit vor. Schliesslich ist in einem
letzten Schritt die Natur und die Schwere der angedrohten
Strafe zu berücksichtigen (BGE 125 I 104 E. 2a; 121 I 379
E. 3a; 121 II 22 E. 2a je mit Hinweisen auf die Rechtspre-
chung der Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention).

        b) Der Beschwerdeführer wurde bestraft, weil er
eine nach Art. 1 der kommunalen Taxiverordnung vom 4. Novem-
ber 1983 (TVO) bewilligungspflichtige Tätigkeit - die Ver-
wendung von Personenwagen für den gewerbsmässigen Personen-
transport ohne festen Fahrplan - ausgeführt habe, ohne über
die erforderliche Bewilligung zu verfügen. Diese Norm ver-

bietet jedermann, ohne Bewilligung ein Taxi zu betreiben und
kann dementsprechend grundsätzlich auch von jedermann, nicht
nur von einem beschränkten, einer besonderen staatlichen
Aufsichtspflicht unterliegenden Personenkreis, übertreten
werden. Bei der gegen den Beschwerdeführer ausgefällten
Busse kann es sich daher entgegen der von der Stadt Chur in
der Vernehmlassung vertretenen Auffassung von vornherein
nicht um eine Disziplinarstrafe handeln. Da eine derartige
Sanktion nur strafrechtlichen oder disziplinarrechtlichen
Charakter haben kann, steht damit die strafrechtliche Natur
der umstrittenen Busse bereits fest.

        Dies ergibt sich im Übrigen klarerweise auch aus
Art. 60 ff. des Polizeigesetzes der Stadt Chur vom 12. Juni
1977 (PolG), wo von "Strafbestimmungen" die Rede ist, aus der
Schwere der angedrohten Sanktion: Busse bis Fr. 5'000.--,
bei Gewinnsucht Busse in unbeschränkter Höhe (Art. 60 Abs. 1
und 2 PolG), sowie aus der Möglichkeit, nicht einbringliche
Bussen "unter Hinweis auf Art. 292 StGB in Arbeitsleistung"
umzuwandeln, "wobei Fr. 30.-- einem Tag Arbeitsleistung
gleichgesetzt" werden (Art. 65 PolG). Überdies sind gemäss
Art. 7 in Verbindung mit Art. 1 StPo/GR die allgemeinen Be-
stimmungen des schweizerischen StGB anwendbar.

        c) Die gegen den Beschwerdeführer ausgesprochene
Busse ist somit nach dem massgebenden kantonalen Recht
strafrechtlicher Natur. Damit fällt sie ohne weiteres unter
den Anwendungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, da dessen
Verfahrensgarantien auch für "strafrechtliche Anklagen" von
relativ geringer Tragweite gelten (vgl. die Beispiele in BGE
121 II 22 E. 2c). Damit hatte der Beschwerdeführer (u.a.)
Anspruch auf eine öffentliche Hauptverhandlung, sofern er
eine solche ausdrücklich oder konkludent verlangte (BGE 127
II 44 E. 2a; 125 II 417 E. 4f S. 426; 123 I 87 E. 2c; 121 I
30 E. 5f).

        Das Verwaltungsgericht macht in der Vernehmlassung
geltend, der Beschwerdeführer habe kein konkretes Rechtsbe-
gehren auf Durchführung einer öffentlichen Hauptverhandlung
gestellt und damit konkludent darauf verzichtet.

        d) Der Beschwerdeführer hat in seinem Rekurs unter
dem Titel "III. Beweismittel" folgenden Antrag gestellt:

        "2. Für den Fall, dass das Verwaltungsgericht die
            Taxiverordnung in allen Teilen als rechtens
            erachtet, beantrage ich gestützt auf Art. 6 EMRK
            die Durchführung einer mündlichen und öffentli-
            chen Gerichtsverhandlung."

        Dem Verwaltungsgericht ist zwar sowohl darin zuzu-
stimmen, dass es sich bei diesem Antrag nicht um einen Be-
weisantrag im eigentlichen Sinn handelt und er eher unter
den Rechtsbegehren hätte aufgeführt werden sollen, als auch
darin, dass er besser unbedingt gestellt worden wäre. Das
ändert aber nichts daran, dass sich ihm ohne weiteres ent-
nehmen lässt, dass der Beschwerdeführer vom Verwaltungsge-
richt eine öffentliche Hauptverhandlung verlangte, falls es
die umstrittene Busse nicht von vornherein mangels genügen-
der gesetzlicher Grundlage aufheben sollte. Es machte auch
durchaus Sinn, wenn sich der Beschwerdeführer, wie er dar-
legt, mündlich in einer öffentlichen Verhandlung vor dem
Gericht nur wollte verteidigen können, falls überhaupt eine
Bestrafung mit einer Busse in Frage kam. Das Verwaltungs-
gericht verletzte daher dessen in Art. 6 Ziff. 1 EMRK ver-
ankerten Anspruch auf eine öffentliche Hauptverhandlung,
indem es sich über diesen Antrag stillschweigend hinweg-
setzte und sein Urteil im schriftlichen Verfahren fällte.
Die Rüge ist begründet.

     3.- Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und das ange-
fochtene Urteil aufzuheben. Damit kann offen bleiben, ob
auch Art. 30 Abs. 3 BV verletzt ist. Ebenfalls nicht zu prü-
fen ist die materielle Rüge des Beschwerdeführers, wonach
seine Verurteilung auf einer willkürlichen Anwendung der TVO
beruhe.

        Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten
zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen hat die Stadt Chur
dem obsiegenden Beschwerdeführer eine angemessene Parteient-
schädigung zu bezahlen (Art. 159 OG).

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen
und der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts vom
6. Februar 2001 aufgehoben.

     2.- Es werden keine Kosten erhoben.

     3.- Die Stadt Chur hat dem Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von
Fr. 1'500.-- zu bezahlen.

     4.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Stadt
Chur und dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden,
1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 10. August 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
  Das präsidierende Mitglied:       Der Gerichtsschreiber: