Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.362/2001
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1P.362/2001/bie

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
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                       12. Juni  2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung,
Bundesrichter Féraud, Ersatzrichterin Pont Veuthey und
Gerichtsschreiber Steinmann.

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                         In Sachen

M.________, Winterthur, Beschwerdeführerin, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Kurt Alois Pfau, Stadthausstrasse 131,
Postfach 613, Winterthur,

                           gegen

G.________, Zürich, Beschwerdegegner, vertreten durch
Rechtsanwalt Walter Schäppi, Hermann Götz-Strasse 21,
Postfach 508, Winterthur,
Bezirksanwaltschaft  W i n t e r t h u r,
Bezirksgericht  W i n t e r t h u r, Haftrichter,

                         betreffend
                      Haftentlassung,

hat sich ergeben:

     M.________ hatte mit G.________ in der Zeit von
November/Dezember 1998 bis Januar 2000 ein engeres Ver-
hältnis. Im Februar 2000 erstattete M.________ gegen
G.________ Anzeige wegen Tätlichkeiten, einfacher Körper-
verletzung, Drohung und Nötigung; später warf sie ihm
zusätzlich mehrfache Vergewaltigung und sexuelle Nötigung
vor.

     Gegen G.________ wurde von der Bezirksanwaltschaft
Winterthur ein Strafverfahren eröffnet. Der Beschuldigte
wurde in Untersuchungshaft genommen.

     Mit Verfügung vom 2. Mai 2001 hiess der Haftrichter
am Bezirksgericht Winterthur ein Haftentlassungsgesuch von
G.________ gut, liess diesen unverzüglich auf freien Fuss
setzen und verbot ihm, mit der Geschädigten oder ihren
Kindern in irgend einer Form Kontakt aufzunehmen.

     Gegen diesen Entscheid des Haftrichters hat
M.________ am 31. Mai 2001 beim Bundesgericht staatsrecht-
liche Beschwerde eingereicht und beantragt, die Sache sei
zur neuerlichen Inhaftierung von G.________ an den Haft-
richter zurückzuweisen.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Der Urteil des Haftrichters stellt einen kantonal
letztinstanzlichen Endentscheid im Sinne von Art. 86 Abs. 1
OG dar. Im vorliegenden Verfahren ist in erster Linie abzu-
klären, ob die Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 88 OG

zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert ist. Sie selber
beruft sich zur Begründung ihrer Legitimation auf ihre Stel-
lung als Opfer nach Art. 2 OHG und auf die aus Art. 8 OHG
fliessenden Ansprüche.

     2.- a) Nach Art. 88 OG steht Bürgern das Recht zur
staatsrechtlichen Beschwerde bezüglich solcher Rechts-
verletzungen zu, die sie durch allgemeinverbindliche oder
sie persönlich treffende Erlasse oder Verfügungen erlitten
haben. Dabei kann nur eine Verletzung in rechtlich geschütz-
ten eigenen Interessen gerügt werden. Zur Verfolgung bloss
tatsächlicher Vorteile oder zur Geltendmachung allgemeiner
öffentlicher Interessen ist die staatsrechtliche Beschwerde
nicht gegeben. Die eigenen rechtlichen Interessen, auf die
sich der Beschwerdeführer berufen muss, können entweder
durch kantonales oder eidgenössisches Gesetzesrecht oder
aber unmittelbar durch ein angerufenes spezielles Grund-
recht geschützt sein. Das in Art. 9 BV enthaltene Willkür-
verbot verschafft für sich allein noch keine geschützte
Rechtsstellung im Sinne von Art. 88 OG. Die Legitimation
zur Willkürrüge ist nur gegeben, wenn das Gesetzesrecht,
dessen willkürliche Anwendung gerügt wird, dem Beschwerde-
führer einen Rechtsanspruch einräumt oder den Schutz seiner
Interessen bezweckt (BGE 126 I 81 E. 3 S. 85, 121 I 267 E. 2
S. 268, mit Hinweisen).

        Im vorliegenden Fall macht die Beschwerdeführerin
keine Verletzung eines spezifischen Grundrechts geltend. Sie
rügt einzig eine willkürliche Anwendung der kantonalen Straf-
prozessordnung.

        b) Die Untersuchungshaft stellt eine strafprozes-
suale Zwangsmassnahme zur Sicherung der Strafverfolgung, der
Urteilsfindung und der Verbüssung einer allfälligen Frei-
heitsstrafe dar. Solche Zwangsmassnahmen verfolgen demnach

öffentliche Interessen und dienen grundsätzlich nicht den
Interessen von Privaten. Es ist in erster Linie Sache der
Behörden wie der Staatsanwaltschaft, für die Sicherung des
Verfahrens zu sorgen. Dritte werden durch die Anordnung bzw.
Aufhebung von Zwangsmassnahmen gegenüber dem Beschuldigten
nicht in ihren eigenen rechtlich geschützten Interessen
betroffen und sind daher grundsätzlich nicht zur staats-
rechtlichen Beschwerde legitimiert.

        In besonderen Situationen kann die Anordnung oder
Aufhebung einer gegen den Beschuldigten gerichteten sichern-
den Massnahme ausnahmsweise auch Dritte in ihren rechtlich
geschützten Interessen betreffen. So konnte sich etwa bei
gegebener Sachlage der Geschädigte in Anbetracht von Art. 59
Ziff. 1 Abs. 1 und Art. 60 StGB gegen die Aufhebung einer
Beschlagnahme oder Kontosperre zur Wehr setzen (nicht ver-
öffentlichtes Urteil i.S. X. Mode AG vom 21. Juni 2000,
1P.189/2000).

        Im Folgenden ist daher zu prüfen, ob im vorliegen-
den Fall Besonderheiten vorliegen, welche die Zusprechung
der Legitimation für den Bereich der Zwangsmassnahmen zu
rechtfertigen vermögen. Insbesondere gilt es abzuklären, ob
aus dem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten
(Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) entsprechende Ansprüche
abgeleitet werden können und ob die Beschwerdeführerin aus
diesem Grunde zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert
sein könnte.

        c) Der Strafanspruch, um den es im Strafverfahren
geht, steht ausschliesslich dem Staat zu, und zwar unab-
hängig davon, ob der Geschädigte als Privatstrafkläger auf-
tritt oder die eingeklagte Handlung auf seinen Antrag hin
verfolgt wird. Aus diesem Grunde werden Anzeiger, Privat-
strafkläger oder Geschädigte nicht als legitimiert betrach-
tet, gegen einen Freispruch oder eine Einstellung des Straf-

verfahrens staatsrechtliche Beschwerde zu erheben (BGE 125 I
253 E. 1b S. 255, 119 Ia 4 E. 1 S. 5, 108 Ia 97 E. 1 S. 99,
mit Hinweisen).

        Diese Rechtsprechung ist vom Bundesgericht im Hin-
blick auf das Opferhilfegesetz differenziert worden. Gemäss
Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG ist das Opfer im Sinne des Art. 2
Abs. 1 OHG legitimiert, einen kantonalen Entscheid mit
staatsrechtlicher Beschwerde anzufechten, der ein Strafver-
fahren kantonal abgeschlossen hat, sofern es sich bereits
vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid
seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurtei-
lung auswirken kann. Dem Opfer steht in diesem Sinne eine
auf materiellrechtliche Fragen erweiterte Legitimation zur
staatsrechtlichen Beschwerde zu, und Art. 8 Abs. 1 lit. c
OHG geht insofern Art. 88 OG als "lex specialis" vor. Das
Opfer ist daher legitimiert, unter den gegebenen Vorausset-
zungen die Einstellung eines Strafverfahrens oder ein frei-
sprechendes Urteil mit staatsrechtlicher Beschwerde anzu-
fechten (BGE 120 Ia 101 E. 2a S. 105, 120 Ia 157 E. 2c
S. 162). Im vorliegenden Fall kann aufgrund der zur Verfü-
gung stehenden Akten angenommen werden, dass der Beschwerde-
führerin die Opfereigenschaft nach Art. 2 OHG zukommt und
sie sich grundsätzlich auf das Opferhilfegesetz berufen
könnte.

        d) Diese Rechtsprechung bezieht sich auf Entscheide
wie etwa Einstellungen oder Freisprüche, mit denen ein kanto-
nales Verfahren abgeschlossen wird. Sie kann indessen nicht
auf Entscheidungen betreffend sichernde Massnahmen übertra-
gen werden. Insbesondere ergibt sich aus Art. 8 Abs. 1 OHG
keine Berechtigung, die Entlassung des Beschwerdegegners aus
der Untersuchungshaft anzufechten. Es geht in diesem Verfah-
ren nicht um die Geltendmachung von Zivilansprüchen im Sinne
von lit. a dieser Bestimmung. Ebenso wenig handelt es sich
um eine Nichteinleitung oder Einstellung des Verfahrens nach

lit. b. Und schliesslich kann die Beschwerdeführerin aus
lit. c nichts zu ihren Gunsten ableiten. Denn die angefoch-
tene Haftentlassung betrifft ihre Zivilansprüche nicht und
ist auch nicht geeignet, sich auf diese auszuwirken.

        Demnach fehlt es an der Legitimation im Sinne von
Art. 88 OG. Auf die staatsrechtliche Beschwerde kann daher
nicht eingetreten werden.

     3.- Die Beschwerdeführerin ersucht um Gewährung der un-
entgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 152 OG. Ihre
Bedürftigkeit kann aufgrund der Umstände angenommen werden.
Ihr Rechtsbegehren kann nicht von vornherein als aussichts-
los bezeichnet werden. Dem Gesuch kann daher stattgegeben
werden.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht
eingetreten.

     2.- Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche
Rechtspflege gewährt:

        a) Es werden keine Kosten erhoben.

        b) Rechtsanwalt Dr. Kurt Pfau wird für das bundes-
gerichtliche Verfahren als amtlicher Rechtsvertreter be-
zeichnet und aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 800.--
entschädigt.

     3.- Dieses Urteil wird den Parteien sowie der Bezirks-
anwaltschaft und dem Haftrichter am Bezirksgericht Winter-
thur schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 12. Juni 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: