Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.29/2001
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1P.29/2001/boh

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      25. Januar 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Bundesrichter Aeschlimann und Gerichtsschrei-
berin Leuthold.

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                         In Sachen

M.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Roland Egli-Heine, Bahnhofstrasse 4, Postfach 344, Bülach,

                           gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons  Z ü r i c h,
Präsidentin der I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons
Z ü r i c h,

                         betreffend
                 Art. 31 BV und Art. 5 EMRK
                     (Haftentlassung),

hat sich ergeben:

     A.- Das Bezirksgericht Zürich sprach M.________ am
19. Dezember 1997 (Schuldinterlokut) der mehrfachen sexuel-
len Handlungen mit Kindern, der mehrfachen sexuellen Nöti-
gung sowie der unzüchtigen Veröffentlichungen schuldig und
bestrafte ihn am 13. Mai 1998 mit 5 Jahren und 10 Monaten
Zuchthaus, wovon 1'155 Tage durch Haft und vorzeitigen
Strafvollzug erstanden waren. Es erklärte, diese Strafe sei
zusammen mit den vom Crown Court in Leeds/GB am 4. Januar
1988 und vom Pariser Appellationsgericht am 16. Juni 1995
verhängten Freiheitsstrafen von 18 bzw. 8 Monaten Teil einer
Gesamtstrafe von 8 Jahren Zuchthaus. Gegen das Urteil des
Bezirksgerichts legten sowohl die Staatsanwaltschaft als
auch der Angeklagte Berufung ein. Das Obergericht des Kan-
tons Zürich bestätigte am 30. November 1998 den erstinstanz-
lichen Entscheid im Schuldpunkt. Es bestrafte den Angeklag-
ten mit 5 Jahren und 10 Monaten Zuchthaus, wovon 1'386 Tage
durch Haft und vorzeitigen Strafantritt erstanden waren. Das
Obergericht schob den Vollzug dieser Strafe auf und ordnete
die Verwahrung des Angeklagten im Sinne von Art. 43 Ziff. 1
Abs. 2 StGB an. M.________ focht das Urteil des Obergerichts
mit einer kantonalen und einer eidgenössischen Nichtigkeits-
beschwerde an. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich
hiess mit Beschluss vom 18. November 2000 die Nichtigkeits-
beschwerde gut, hob das obergerichtliche Urteil auf und wies
die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurück.

        Mit Eingabe vom 6. Dezember 2000 stellte M.________
beim Obergericht das Gesuch, er sei unverzüglich aus der
Haft zu entlassen. Die Präsidentin der I. Strafkammer des
Obergerichts wies das Haftentlassungsgesuch mit Verfügung
vom 14. Dezember 2000 ab.

     B.- Gegen diesen Entscheid liess M.________ durch
seinen Anwalt am 15. Januar 2001 staatsrechtliche Beschwerde
erheben. Er beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzu-
heben und er sei sofort aus der Haft zu entlassen; eventuell
sei die Sache an das Obergericht zur neuen Beurteilung zu-
rückzuweisen. Ausserdem ersucht er um Gewährung der unent-
geltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfah-
ren.

     C.- Die Staatsanwaltschaft und die Präsidentin der
I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich haben auf
eine Vernehmlassung verzichtet.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde, die sich
gegen die Abweisung eines Haftentlassungsgesuchs richtet,
kann in Abweichung vom Grundsatz der kassatorischen Natur
der Beschwerde nicht nur die Aufhebung des angefochtenen
Entscheids, sondern ausserdem die Entlassung aus der Haft
verlangt werden (BGE 124 I 327 E. 4b/aa S. 332 f.; 115
Ia 293 E. 1a S. 297, je mit Hinweisen). Die mit der vorlie-
genden Beschwerde gestellten Anträge sind daher zulässig.

     2.- Der Beschwerdeführer macht in materieller Hinsicht
geltend, die kantonale Instanz habe in verfassungs- und kon-
ventionswidriger Weise den dringenden Tatverdacht sowie Wie-
derholungs- und Kollusionsgefahr bejaht und das Vorliegen

einer Überhaft verneint. Ausserdem beklagt er sich über
einen Verfahrensmangel. Er wirft der Präsidentin der
I. Strafkammer des Obergerichts vor, sie habe den ihm
aufgrund von Art. 5 Ziff. 4 EMRK und von Art. 31 Abs. 4 BV
zustehenden Anspruch auf Replik im Haftprüfungsverfahren
verletzt, weil sie ihm keine Gelegenheit gegeben habe, zur
Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft vom 11. Dezember 2000
Stellung zu nehmen. Diese Rüge ist vorab zu behandeln, denn
falls der angefochtene Entscheid wegen eines Verfahrens-
mangels aufgehoben werden müsste, würde sich eine Prüfung
der materiellen Rügen erübrigen.

        a) Art. 5 Ziff. 4 EMRK garantiert das Recht auf ein
Verfahren, in welchem die Rechtmässigkeit der Haft durch ein
Gericht geprüft wird. Der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte (EGMR) hielt im Fall Sanchez-Reisse gegen die
Schweiz fest, das Haftprüfungsverfahren müsse kontradikto-
risch ausgestaltet sein. Mit Rücksicht darauf müsse der An-
geschuldigte die Möglichkeit haben, zur Vernehmlassung der
Strafverfolgungsbehörde Stellung zu nehmen, denn die Behörde
könne tatsächliche oder rechtliche Argumente vorbringen, die
Reaktionen, Kritik oder Fragen des Angeschuldigten auslösen
könnten, und davon müsse das Gericht vor seiner Entscheidung
Kenntnis haben (Urteil vom 21. Oktober 1986, Serie A, Band
107, S. 19, Ziff. 51 = EuGRZ 1988, S. 526). Nach diesem
Urteil hat der Angeschuldigte im Haftprüfungsverfahren auf-
grund von Art. 5 Ziff. 4 EMRK das Recht, zu jeder Vernehm-
lassung der Strafverfolgungsbehörde zu replizieren, unbeküm-
mert darum, ob die Behörde neue Argumente vorbrachte oder
nicht. Das Bundesgericht hat sich dieser Rechtsprechung des
EGMR angeschlossen (BGE 114 Ia 84 E. 3 S. 87 f.; 115 Ia 293
E. 4b S. 301; 125 I 113 E. 2a S. 115).

        Gemäss Art. 31 Abs. 4 BV hat jede Person, der die
Freiheit nicht von einem Gericht entzogen wurde, das Recht,
jederzeit ein Gericht anzurufen, welches so rasch wie mög-
lich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs ent-
scheidet. Wie das Bundesgericht im Urteil BGE 126 I 172
E. 3d S. 176 erklärte, ist auch nach Inkrafttreten dieser
Vorschrift an der erwähnten Praxis zu Art. 5 Ziff. 4 EMRK
betreffend das Recht auf Replik im Haftprüfungsverfahren
festzuhalten.

        b) Im hier in Frage stehenden Haftprüfungsverfahren
vor der I. Strafkammer des Zürcher Obergerichts liess sich
die Staatsanwaltschaft in einer Eingabe vom 11. Dezember
2000 zum Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers vom
6. Dezember 2000 vernehmen. Sie legte darin dar, weshalb sie
die Abweisung des Gesuchs beantrage, und ihre Ausführungen
werden im angefochtenen Entscheid (Ziff. II/2, S. 5/6) wie-
dergegeben. Wie den Akten zu entnehmen ist, entschied die
Präsidentin der I. Strafkammer am 14. Dezember 2000 über das
Haftentlassungsgesuch vom 6. Dezember 2000, ohne dass sie
zuvor dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben hatte, sich
zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft vom 11. Dezember
2000 zu äussern. Damit hat sie den dem Beschwerdeführer
aufgrund von Art. 5 Ziff. 4 EMRK zustehenden Anspruch auf
Replik verletzt. Wegen dieses Verfahrensmangels ist die
staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und der angefoch-
tene Entscheid aufzuheben, unbekümmert darum, ob die Präsi-
dentin der I. Strafkammer des Obergerichts nach Gewährung
des Replikrechts zu einem anderen Ergebnis kommt.

        c) Dies bedeutet indessen nicht, dass der Be-
schwerdeführer nun aus der Haft entlassen werden müsste
(vgl. BGE 116 Ia 60 E. 3b S. 65). Die Gutheissung der Be-

schwerde hat bloss zur Folge, dass die Präsidentin der
I. Strafkammer des Obergerichts dem Beschwerdeführer das
Recht gewähren muss, zur Vernehmlassung der Staatsanwalt-
schaft vom 11. Dezember 2000 Stellung zu nehmen, und nachher
nochmals über das Haftentlassungsgesuch zu befinden hat. Die
staatsrechtliche Beschwerde ist daher abzuweisen, soweit
darin die Haftentlassung des Beschwerdeführers verlangt
wird.

     3.- Bei diesem Ausgang des bundesgerichtlichen Verfah-
rens rechtfertigt es sich, keine Kosten zu erheben und dem
Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu Lasten des
Kantons Zürich zuzusprechen (Art. 156 Abs. 2 und Art. 159
Abs. 2 OG). Damit wird das Gesuch des Beschwerdeführers um
unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor Bundes-
gericht gegenstandslos.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen
und die Verfügung der Präsidentin der I. Strafkammer des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 14. Dezember 2000 auf-
gehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

     2.- Es werden keine Kosten erhoben.

     3.- Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädi-
gen.

     4.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der
Staatsanwaltschaft und der Präsidentin der I. Strafkammer
des Obergerichts des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 25. Januar 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                  Die Gerichtsschreiberin: