Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.253/2001
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1P.253/2001/boh

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                        3. Mai 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Féraud, Ersatzrichterin Pont Veuthey und Gerichts-
schreiberin Widmer.

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                         In Sachen

X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Adrian Klemm, Ankerstrasse 24, Postfach, Zürich,

                           gegen

Bezirksamt  L e n z b u r g, vertreten durch Bezirksamtmann
R. Schärli,
Obergericht des Kantons  A a r g a u, Beschwerdekammer in
Strafsachen, Präsidium,

                         betreffend
          persönliche Freiheit, rechtliches Gehör
        (Haftprüfung; Kollusions- und Fluchtgefahr),

hat sich ergeben:

     A.- Das Bezirksamt Lenzburg führt gegen X.________ eine
Strafuntersuchung wegen des Verdachts, er habe als Notar
Klientengelder veruntreut und ein Tötungsdelikt begangen.
X.________ befindet sich seit 3. April 2000 in Untersu-
chungshaft. Konkret wird ihm vorgeworfen, in der Tiefgarage
seiner Liegenschaft mit einer Pistole A.________ erschossen
zu haben. Dieser hatte X.________ für die Errichtung eines
Vertrags über einen Aktienverkauf beigezogen. X.________
wird der Veruntreuung von Fr. 800'000.-- zu Lasten von
A.________ verdächtigt. Die Untersuchungshaft wurde vom Prä-
sidenten der Beschwerdekammer in Strafsachen des Oberge-
richts des Kantons Aargau am 14. April 2000 bis Ende Mai
2000 und, mit einer weiteren Verfügung, vom 17. Mai 2000 bis
zum Eingang der Anklage beim Gericht verlängert. Zwei weite-
re Haftentlassungsgesuche wies der Präsident der Beschwerde-
kammer am 11. April und 9. August 2000 ab, wobei er neben
dem unbestrittenen dringenden Tatverdacht Kollusions- und
Fluchtgefahr bejahte. Dem von X.________ gestellten Antrag
auf Anhörung und Gewährung der vollständigen Akteneinsicht
entsprach der Haftprüfungsrichter nicht.

        Die von X.________ gegen den erwähnten Haftprü-
fungsentscheid vom 8. August 2000 erhobene staatsrechtliche
Beschwerde wurde vom Bundesgericht am 7. September 2000 ab-
gewiesen.

        Am 28. Februar 2001 stellte X.________ ein weiteres
Haftentlassungsgesuch. Gleichzeitig beantragte er eine Anhö-
rung sowie Einsicht in die Haftakten. Das Haftentlassungsge-
such wurde vom Präsidenten der Beschwerdekammer am 7. März
2001 wegen Kollusions- und Fluchtgefahr abgewiesen.

     B.- X.________ führt gegen diesen Haftprüfungsentscheid
staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht wegen Verlet-
zung der persönlichen Freiheit, des rechtlichen Gehörs und
des Willkürverbots. Er beantragt die Aufhebung des angefoch-
tenen Entscheids und die unverzügliche Entlassung aus der
Untersuchungshaft, allenfalls unter Bestellung einer Sicher-
heitsleistung. Eventualiter ersucht er um Rückweisung der
Sache an den Präsidenten der Beschwerdekammer zu neuer Ent-
scheidung, wobei er vorher anzuhören und ihm Akteneinsicht
zu gewähren sei. Für das bundesgerichtliche Verfahren er-
sucht X.________ um Bewilligung der unentgeltlichen Rechts-
pflege.

        Das Bezirksamt Lenzburg und das Obergericht bean-
tragen Abweisung der Beschwerde. X.________ hält in seiner
Replik an den Beschwerdeanträgen fest.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Die Anordnung und Aufrechterhaltung einer Haft
ist als Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit
(Art. 10 Abs. 2 und 31 BV, Art. 5 EMRK) nur zulässig, wenn
sie auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht,
im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist.
Zudem darf sie den Kerngehalt der persönlichen Freiheit
nicht antasten (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 36 BV; vgl.
BGE 125 I 361 E. 4a; 124 I 80 E. 2c; je mit Hinweisen). Das
Bundesgericht prüft die Auslegung und Anwendung der kantona-
len Eingriffsnormen mit freier Kognition (BGE 124 I 80 E. 2;
123 I 31 E. 3a). Auf eine Willkürprüfung beschränkt es sich,
soweit Sachverhaltsfeststellungen sowie Fragen der Beweis-
würdigung in die Beurteilung miteinzubeziehen sind (BGE 123
I 31 E. 3a und 268 E. 2d; 117 Ia 72 E. 1; je mit Hinweisen).

        Der Beschwerdeführer befindet sich wegen des drin-
genden Verdachts, A.________ getötet und Klientengelder ver-
untreut zu haben, sowie wegen Kollusions- und Fluchtgefahr
(§ 67 Abs. 1 der aargauischen Strafprozessordnung vom
11. November 1958 [StPO/AG]) in Untersuchungshaft. Umstrit-
ten sind nach wie vor die beiden letzteren Haftgründe. Das
Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 7. September 2000 die
Ausführungen im Haftprüfungsentscheid vom 9. August 2000 be-
stätigt, wonach im Fall der Freilassung des Beschwerdefüh-
rers zu befürchten sei, er werde die Zeugen B.Y.________ und
C.Y.________ sowie D.________ beeinflussen und sich ins Aus-
land absetzen. Hinsichtlich der allgemeinen Kriterien zur
Beurteilung der Flucht- und Kollusionsgefahr kann auf E. 3c
und d jenes bundesgerichtlichen Urteils verwiesen werden.
Nachdem inzwischen nahezu acht Monate vergangen sind, ist
die Sache mit Blick auf die aktuellen Verhältnisse neu zu
prüfen.

        b) Bezüglich des Haftgrunds der Fluchtgefahr bringt
der Beschwerdeführer vor, die ihm zur Last gelegten ge-
schäftlichen Kontakte zu Osteuropa seien nicht erwiesen. Er
habe sich einzig einmal vor mehr als drei Jahren zu Ge-
schäftszwecken in Russland aufgehalten. Heute pflege er je-
doch weder geschäftliche noch persönliche Beziehungen zu
diesem Land. Daran ändere nichts, dass seine Ehefrau aus
Russland stamme, denn sie sei in der Schweiz bestens inte-
griert. Weiter gehe der Hinweis des Haftprüfungsrichters auf
die Beeinträchtigung der beruflichen und gesellschaftlichen
Perspektiven fehl, da er bereits freiwillig auf sein Nota-
riatspatent verzichtet habe, seine Bindungen zur hier an-
sässigen Familie ausserordentlich stark seien und der Wie-
deraufbau einer Existenz nur in der Schweiz sinnvoll und
möglich sei. Weiter sei nicht nachvollziehbar, weshalb die
Fluchtgefahr auch mit dem Umstand begründet werde, dass
keine Anhaltspunkte für den Verbleib der ihm von A.________

anvertrauten Fr. 800'000.-- bestünden. Zu diesem Punkt habe
er bereits ausgeführt, dass er den ausstehenden Betrag mit
der von der Firma Z.________ erhaltenen Provisionszahlung
beglichen habe. Für den Fall, dass dennoch Fluchtgefahr an-
genommen werde, könne er gegen Leistung einer Sicherheit
nach § 78 StPO/AG freigelassen werden.

        Der Beschwerdeführer vermag mit seinen Einwänden
die dargelegten Erwägungen des Haftprüfungsrichters nicht zu
entkräften, auch nicht durch Bestreiten der ihm vorgehalte-
nen Beziehungen zu Russland. Die dem Beschwerdeführer auf-
grund des Tatverdachts drohende schwere Strafe, seine beein-
trächtigte berufliche und soziale Stellung sowie die Schul-
den im Betrag von rund Fr. 3 Mio. lassen trotz seiner fami-
liären Verwurzelung in der Schweiz in ausreichender Weise
die Vermutung zu, er würde nach einer Freilassung ins Aus-
land fliehen. Bei dieser Ausgangslage erscheint es unwahr-
scheinlich, dass die Leistung einer Kaution den Beschwerde-
führer an der Flucht hindern würde.

        c) Den Haftgrund der Kollusionsgefahr erachtet der
Beschwerdeführer zumindest heute als nicht mehr gegeben, da
die Ermittlungen mit Schlussverhör vom 5. April 2001 abge-
schlossen worden seien und sich eine weitere Befragung der
Zeugen D.________ und Y.________ zum Zahlungsgang der frag-
lichen Provision erübrige.

        Diese Argumentation hat angesichts der Tatsache,
dass sich der Beschwerdeführer schon seit mehr als einem
Jahr in Untersuchungshaft befindet und die erwähnten Zeugen
inzwischen befragt werden konnten, unter dem Gesichtspunkt
des Beschleunigungsgebots einiges für sich. Andererseits
gilt es vorliegend zu beachten, dass die Strafuntersuchung
umfangreich und komplex ist; trotz der erfolgten Einvernah-
men bestehen noch viele Unklarheiten. Verbunden mit dem Um-

stand, dass nach aargauischem Strafprozessrecht im Haupt-
und Berufungsverfahren teilweise das Unmittelbarkeitsprinzip
gilt, rechtfertigt die dargelegte Ausgangslage eine Auf-
rechterhaltung der Haft wegen Kollusionsgefahr.

     2.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 5 Ziff. 4 EMRK),
weil der Haftprüfungsrichter über sein Entlassungsgesuch
befunden habe, ohne über die Haftakten zu verfügen; entspre-
chend sei ihm auch keine Einsicht in diese gewährt worden.
Ausserdem sei er vom Haftprüfungsrichter noch nie persönlich
angehört worden. Dieses Vorgehen halte vor § 76 Abs. 3
StPO/AG nicht Stand.

        Aus den Stellungnahmen des Bezirksamtmanns und des
Haftprüfungsrichters an das Bundesgericht geht hervor, dass
dieser seinen Entscheid auf die in der Vernehmlassung des
Bezirksamtmanns vom 1. März 2001 gemachten Angaben zum ak-
tuellen Stand der Ermittlungen stützte. Laut Stellungnahme
des Bezirksamtmanns wurden dem Beschwerdeführer laufend die
Einvernahmeprotokolle sowie die weiteren dazu gehörenden Un-
terlagen zugestellt. Demnach trifft es zwar zu, dass der
Haftprüfungsrichter bei der Beurteilung des Gesuchs nicht
über sämtliche für den Haftentscheid relevanten Akten ver-
fügte, sondern auf die vom Bezirksamt erhaltenen Informatio-
nen abstellte. Andererseits kann keine Rede davon sein, dass
der Haftprüfungsrichter in völliger Unkenntnis des aktuellen
Verfahrensstands entschieden hätte, wie der Beschwerdeführer
behauptet. Worin im Vorgehen des Haftprüfungsrichters eine
Verletzung des rechtlichen Gehörs bestehen soll, ist nicht
ersichtlich: Der Beschwerdeführer wirft dem Haftprüfungs-
richter weder vor, bei der Entscheidfindung ihn entlastende
Tatsachen ausser Acht gelassen zu haben, noch, ihn aufgrund
von ihm unbekannten Dokumenten belastet zu haben. Er rügt
auch nicht, dass die im Haftentscheid dargestellte Verfah-

renslage in Widerspruch zu den ihm zugestellten Unterlagen
stehe. Unter diesen Umständen darf mangels anderweitiger An-
haltspunkte davon ausgegangen werden, der Beschwerdeführer
habe in seinen schriftlichen Eingaben ausreichend zu den vom
Bezirksamtmann vorgetragenen und für eine Haftverlängerung
sprechenden Argumenten Stellung nehmen können (BGE 125 I 113
E. 2a; vgl. auch BGE 126 I 172 E. 3e). Hinsichtlich des Um-
fangs des Rechts auf Akteneinsicht anerkennt der Beschwerde-
führer im Übrigen selbst, dass dieses vorläufig auf die
eigentlichen Haftakten beschränkt ist. - In der staatsrecht-
lichen Beschwerde bemängelt der Beschwerdeführer das Vorge-
hen des Haftprüfungsrichters ausschliesslich unter dem
Blickwinkel der Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es er-
übrigt sich daher, unter anderen verfassungsrechtlichen
Aspekten auf die Sache weiter einzugehen.

        Als unbegründet erweist sich schliesslich der Vor-
wurf, der Beschwerdeführer sei vom Haftprüfungsrichter nicht
persönlich angehört worden. Wie bereits im bundesgerichtli-
chen Urteil vom 7. September 2000 ausgeführt, darf der Haft-
prüfungsrichter im Rahmen der Prüfung eines Haftentlassungs-
gesuchs gestützt auf § 76 Abs. 3 StPO/AG auf eine mündliche
Anhörung mit der Begründung verzichten, eine solche erweise
sich nicht als erforderlich. Darin liegt kein Verstoss gegen
das Willkürverbot. Ein Anspruch, im Verfahren der Haftprü-
fung persönlich angehört zu werden, ergibt sich auch nicht
aus Art. 5 Ziff. 4 EMRK (BGE 126 I 172 E. 3b; 125 I 113
E. 2a). Konkrete Gründe, aus denen sich eine persönliche
Vorführung vor den Haftprüfungsrichter aufgedrängt hätte,
sind nicht erkennbar.

     3.- Demnach ist die Beschwerde sowohl im Haupt- als
auch im Eventualantrag abzuweisen. Dem Gesuch um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege kann entsprochen werden
(Art. 152 OG).

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

     2.- Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche
Rechtspflege gewährt:

        a) Es werden keine Kosten erhoben;

        b) Rechtsanwalt Dr. Adrian Klemm, Zürich, wird als
amtlicher Anwalt des Beschwerdeführers bezeichnet und für
das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 1'500.-- entschädigt.

     3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem
Bezirksamt Lenzburg und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium, schriftlich mit-
geteilt.

                       ______________

Lausanne, 3. Mai 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                  Die Gerichtsschreiberin: