Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.201/2001
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1P.201/2001/sch

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
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                        21. Mai 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Ersatzrichterin Pont Veuthey und Gerichts-
schreiber Störi.

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                         In Sachen

X.________, zurzeit Strafanstalt Lenzburg, Lenzburg,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus
Raess, Ilgenstrasse 22, Postfach 218, Zürich,

                           gegen

Bezirksgericht  B a d e n,
Staatsanwaltschaft des Kantons  A a r g a u,
Obergericht des Kantons  A a r g a u, Beschwerdekammer in
Strafsachen,

                         betreffend
          Art. 9, 29 Abs. 3 und 32 Abs. 2 BV sowie
        Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK (Strafverfahren),

hat sich ergeben:

     A.- Das Bezirksgericht Baden verurteilte X.________
am 7. September 2000 wegen qualifizierter Widerhandlung
gegen das Betäubungsmittelgesetz im Sinne von dessen Art. 19
Ziff. 1 und 2 lit. a und Widerhandlung gegen Art. 23 Abs. 1
al. 4 ANAG zu drei Jahren Zuchthaus und einer Busse von
Fr. 1'000.--. Es hielt u. a. für erwiesen, dass der illegal
in die Schweiz eingereiste X.________ 1 kg Heroin und 1 kg
Streckmittel kaufte in der Absicht, den Stoff weiterzuver-
kaufen.

        Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 18. Ja-
nuar 2001 die Berufung von X.________ sowie die Anschluss-
berufung der Staatsanwaltschaft ab und bestätigte das erst-
instanzliche Urteil.

     B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 9, Art. 29 Abs. 3 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie von
Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK beantragt X.________, das ober-
gerichtliche Urteil aufzuheben. Er beantragt zudem, ihn so-
fort aus dem vorzeitigen Strafvollzug zu entlassen und er-
sucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

        Staatsanwaltschaft und Obergericht verzichten auf
Vernehmlassung. Das Bezirksgericht Baden liess sich innert
Frist nicht vernehmen.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Beim angefochtenen Urteil des Obergerichts handelt
es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid
(Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch die
strafrechtliche Verurteilung in seinen rechtlich geschütz-
ten Interessen berührt (Art. 88 OG) und er macht die Ver-
letzung von verfassungsmässigen Rechten geltend (Art. 84
Abs. 1 lit. b OG). Da diese und die übrigen Sachurteilsvo-
raussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzu-
treten.

     2.- a) Der Beschwerdeführer rügt, sein verfassungs-
und konventionsrechtlich garantierter Anspruch auf einen
amtlichen unentgeltlichen Verteidiger sei verletzt worden.
Während des ganzen Ermittlungsverfahrens sei ihm kein Ver-
teidiger bestellt worden, obwohl objektiv, was wegen der
Schwere der Vorwürfe von Anfang an klar gewesen sei, ein
Fall notwendiger Verteidigung vorgelegen habe. Das Oberge-
richt habe daher Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c
EMRK verletzt, indem es sein Urteil auf Untersuchungshand-
lungen aus dem Ermittlungsverfahren abgestützt habe. Die
Untersuchungsorgane hätte zudem Art. 32 Abs. 2 BV verletzt,
weil sie ihn nicht rechtzeitig über die ihm zustehenden
Verteidigungsrechte aufgeklärt hätten, sodass er keine
Möglichkeit gehabt habe, sie geltend zu machen.

        b) Nach § 57 der Aargauer Strafprozessordnung vom
11. November 1958 (StPO) hat der Beschuldigte vom Beginn des
polizeilichen Ermittlungsverfahrens an das Recht, einen Ver-
teidiger beizuziehen. Über dieses Recht ist er bei der ers-
ten Vernehmung in Kenntnis zu setzen. Nach § 58 hat der
Untersuchungsbeamte dem Beschuldigten auf dessen Verlangen

einen amtlichen Verteidiger zu bestellen, wenn die ihm zur
Last gelegte Tat mit Freiheitsstrafe von über 6 Monaten be-
droht ist, wenn die Untersuchungshaft länger als 14 Tage
aufrecht erhalten wird und wenn die Untersuchung einem
ausserordentlichen Untersuchungsbeamten übertragen wird.

        Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, diese
Bestimmungen seien verletzt worden. Er räumt vielmehr ein,
dass er anlässlich der Hafteröffnung vom 4. Februar 2000
vom Untersuchungsbeamten darauf aufmerksam gemacht wurde,
dass er das Recht habe, einen Verteidiger zu wählen, und
dass er nach Ablauf von 14 Tagen auch das Recht habe, einen
amtlichen Verteidiger zu verlangen. Er steht indessen auf
dem Standpunkt, angesichts der Schwere der gegen ihn erho-
benen Vorwürfe hätte von Anfang an von Amtes wegen ein amt-
licher Verteidiger bestellt werden müssen.

        c) Das Aargauer Strafprozessrecht sieht das Insti-
tut der notwendigen Verteidigung nur für das gerichtliche
Verfahren vor, in dem der Präsident des erkennenden Gerichts
dem Angeklagten einen Verteidiger bestellen muss, wenn der
Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende
Massnahme von mindestens 12 Monaten verlangt oder die An-
klage vor Gericht persönlich vertritt (§ 59 Abs. 2 StPO).
Das bedeutet zwar nicht, dass es nicht ausnahmsweise Fälle
geben kann, in welchen sich aus dem Grundsatz des fairen
Verfahrens, wie er in weitgehend übereinstimmender Weise
von Art. 29 Abs. 1 bzw. 32 Abs. 2 BV sowie Art. 6 EMRK
garantiert wird (BGE 124 Ia 184 E. 3a; 113 Ia 412 E. 3b
S. 421), für den Richter bzw. Untersuchungsrichter die
Pflicht ergibt, einer rechtsungewohnten Partei, die offen-
kundig nicht in der Lage ist, ihre Interessen alleine wahr-
zunehmen, schon im Ermittlungsverfahren von Amtes wegen
einen amtlichen Verteidiger zu bestellen.

        Ein solcher Ausnahmefall liegt hier jedoch offen-
sichtlich nicht vor. Die gegen den Beschwerdeführer erhobe-
nen Vorwürfe - insbesondere der Kauf von einem Kilogramm
Heroin - wiegen zwar schwer, sind aber nicht besonders kom-
plex. Der Beschwerdeführer war nach eigenen Angaben in
seiner Heimat Polizeioffizier und muss dementsprechend mit
dem Gang eines Ermittlungsverfahrens vertraut sein. Unter
diesen Umständen hatten die Strafverfolgungsbehörden keine
Anhaltspunkte dafür, dass sich der Beschwerdeführer der
Tragweite seiner Aussagen nicht bewusst sein könnte und
daher auch, jedenfalls zu Beginn des Verfahrens, keinen
Anlass, dem Beschwerdeführer auch entgegen seinem Wunsch
einen amtlichen Verteidiger zu bestellen. Der Beschwerde-
führer hat anlässlich der Einvernahme zur Haftverlängerung
vom 14. Februar 2000 - d.h. 10 Tage nach seiner Inhaftie-
rung - ausdrücklich erklärt, er brauche keinen Verteidiger.
Dabei war er sich bewusst, dass er das Recht hatte, die Be-
stellung eines Verteidigers zu verlangen und er war auch
durchaus in der Lage, es geltend zu machen, was sich ohne
weiteres daraus ergibt, dass er am 27. März 2000 einen ent-
sprechenden Antrag stellte und darin ausdrücklich festhielt,
dass er das Recht auf einen Verteidiger habe.

        d) Zusammenfassend ergibt sich somit, dass sämtli-
che Rügen unbegründet sind: Waren die Strafverfolgungsbehör-
den nicht verpflichtet, dem Beschwerdeführer schon zu Beginn
des Verfahren von Amtes wegen, auch entgegen seinem Wunsch,
einen amtlichen Verteidiger zu bestellen, waren sie (selbst-
verständlich) auch nicht verpflichtet, ihn über einen derar-
tigen (nicht bestehenden) Anspruch zu informieren. Mit der
Bestellung eines amtlichen Verteidigers durch das Bezirksamt
Baden vom 28. März 2000 wurde die Frage der notwendigen Ver-
teidigung für die Fortsetzung des Verfahrens hinfällig.

        Damit stellt sich nur noch die Frage, ob der Unter-
suchungsbeamte den Beschwerdeführer anlässlich der Hafter-
öffnung vom 4. Februar 2000 falsch informierte, indem er ihm
bekannt gab, er habe das Recht, sofort einen privaten Ver-
teidiger und nach 14 Tagen Untersuchungshaft einen amtlichen
Verteidiger beizuziehen. Sie kann im vorliegenden Fall in-
dessen offen bleiben, da der Beschwerdeführer am 14. Februar
2000, also kurz vor Ablauf der 14-tägigen "Sperrfrist" aus-
drücklich zu Protokoll gab, er brauche keinen Anwalt. Selbst
wenn man sich auf den Standpunkt stellen würde, der Be-
schwerdeführer hätte sofort nach seiner Verhaftung Anspruch
auf einen amtlichen Verteidiger gehabt, so ergibt sich aus
seiner Erklärung vom 14. Februar 2000 und seinem Verhalten -
er verlangte erst am 27. März 2000, lange nach Ablauf der
"Sperrfrist", einen Anwalt -, dass er in der ersten, 14 Tage
jedenfalls weit übersteigenden Phase des Verfahrens gar kei-
nen Verteidiger beanspruchen wollte. Eine allfällige fehler-
hafte Information über seinen Anspruch auf amtliche Vertei-
digung hat somit den Gang des Verfahrens gegen ihn nicht
beeinflusst, weshalb das Obergericht die Verfassung nicht
verletzte, indem es die Verurteilung des Beschwerdeführers
schützte.

     3.- Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens hat grundsätzlich der Beschwerde-
führer die Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Er hat
jedoch ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Ver-
beiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da seine
Mittellosigkeit dargetan ist und die Beschwerde nicht von
vorne herein aussichtslos war (Art. 152 Abs. 1 und 2 OG).
Dementsprechend sind keine Kosten zu erheben, und Rechts-
anwalt Raess ist als unentgeltlicher Verteidiger einzusetzen
und aus der Gerichtskasse angemessen zu entschädigen.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

     2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gut-
geheissen:

        a) Es werden keine Kosten erhoben.

        b) Rechtsanwalt Markus Raess, Zürich, wird als
unentgeltlicher Rechtsvertreter eingesetzt und aus der
Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt.

     3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie dem
Bezirksgericht Baden, der Staatsanwaltschaft und dem Ober-
gericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 21. Mai 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: