Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.191/2001
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1P.191/2001/sta

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
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                        5. Juli 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Féraud, Bundesrichter Catenazzi und Gerichts-
schreiber Kölliker.

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                         In Sachen

X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher
Franz Hollinger, Stapferstrasse 28, Postfach, Brugg,

                           gegen

Y.________, Beschwerdegegner,
Bezirksgericht  B r u g g,
Staatsanwaltschaft des Kantons  A a r g a u,
Obergericht des Kantons  A a r g a u, 2. Strafkammer,

                         betreffend
        Art. 9 und 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK
  (Beweiswürdigung im Strafverfahren; Unschuldsvermutung),

hat sich ergeben:

     A.- Am 26. November 1998 stellte y.________ Strafantrag
gegen X.________, weil dieser ihm in der Nacht zum 18. No-
vember 1998 einen Schlag an das linke Ohr versetzt und da-
durch eine Perforation des Trommelfells beigefügt habe. Mit
Strafbefehl vom 24. August 1999 verurteilte das Bezirksamt
Brugg X.________ wegen einfacher Körperverletzung zu einer
Busse von Fr. 210.-- und zur Übernahme der Verfahrenskosten.
Nach Einsprache von X.________ führte das Bezirksgericht
Brugg am 11. Januar 2000 eine Verhandlung mit Zeugenbefra-
gung durch. Das Gericht bestätigte mit Urteil vom 28. März
2000 sowohl Schuldspruch als auch Bussenbetrag und Kosten-
verlegung gemäss Strafbefehl und verpflichtete zudem den An-
geklagten, y.________ als Schadenersatz Fr. 133.60 zu be-
zahlen.

     B.- Am 28. Juni 2000 erhob X.________ Berufung. Er be-
antragte zur Hauptsache die Aufhebung des Urteils vom
28. März 2000, den Freispruch von Schuld und Strafe sowie
die Feststellung, dass eine Beurteilung der Zivilansprüche
entfalle. Das Obergericht des Kantons Aargau hiess die Beru-
fung mit Urteil vom 16. Januar 2001 insofern teilweise gut,
als es den vom Angeklagten zu leistenden Schadenersatzbetrag
auf Fr. 100.20 herabsetzte; im Übrigen wies es das Rechts-
mittel ab.

     C.- X.________ hat gegen das Urteil des Obergerichts am
14. März 2001 eine staatsrechtliche Beschwerde eingereicht.
Er beantragt, das Urteil vom 16. Januar 2001 sei aufzuheben.
Mit der staatsrechtlichen Beschwerde rügt er Verstösse gegen
die Art. 9 und 32 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Ziff. 2 EMRK. Er
macht namentlich geltend, das Obergericht habe mit willkür-

licher Begründung seine Darstellung verworfen, wonach ein an
der Gerichtsverhandlung vom 11. Januar 2000 nicht anwesender
Bezirksrichter in Unkenntnis der Akten und der Beweisabnahme
an der Urteilsfällung vom 28. März 2000 mitgewirkt habe.
Sodann habe das Obergericht die Beweise willkürlich gewür-
digt und mit seinem Urteil den Grundsatz "in dubio pro reo"
verletzt.

     D.- Das Bezirksgericht Brugg hat in seiner Vernehmlas-
sung vom 27. April 2001 den Vorwurf des Beschwerdeführers,
ein lediglich an der Urteilssitzung anwesender Bezirksrich-
ter habe vorgängig die Verfahrensakten nicht studiert, als
unzutreffend zurückgewiesen. Die übrigen Verfahrensbeteilig-
ten haben auf das Einreichen einer Vernehmlassung verzich-
tet.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Der Beschwerdeführer rügt vorab eine Verletzung
des von der Bundesverfassung garantierten Willkürverbots. Er
bringt vor, anstelle des an der Gerichtsverhandlung vom
11. Januar 2000 anwesenden Ersatzrichters S.________ habe an
der Urteilssitzung vom 28. März 2000 Bezirksrichter
H.________ teilgenommen. Im Dossier seien keinerlei Anhalts-
punkte ersichtlich, dass dieser die Akten vor der Urteils-
sitzung studiert habe. Es sei deshalb davon auszugehen, dass
Bezirksrichter H.________ in Unkenntnis der Akten und der
Beweisabnahme an der Urteilsfällung mitgewirkt habe. Das
Obergericht habe dies mit einer offensichtlich unhaltbaren
Argumentation verneint.

        b) Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt nach stän-
diger Rechtsprechung des Bundesgerichts vor, wenn der ange-
fochtene kantonale Entscheid offensichtlich unhaltbar ist,
mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht,
eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass
verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken
zuwiderläuft. Dabei genügt es nicht, wenn der angefochtene
Entscheid sich nur in der Begründung als unhaltbar erweist;
eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Er-
gebnis verfassungswidrig ist (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41, mit
Hinweis).

        c) Die Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung ist
unbegründet. Einerseits hat das Obergericht zu Recht darauf
hingewiesen, es bestünden keine Hinweise, dass Bezirksrich-
ter H.________ im Zeitpunkt der Urteilsfällung schlechter
vorbereitet gewesen sei als die übrigen Bezirksrichter.
Andererseits schliesst der Beschwerdeführer die mangelnde
Aktenkenntnis von Bezirksrichter H.________ einzig aus dem
Fehlen eines dessen Einsichtnahme in das Dossier bestäti-
genden Aktenvermerks. Dem Beschwerdeführer ist insofern
beizupflichten, als bei Vorliegen eines Visums von Bezirks-
richter H.________ wohl davon ausgegangen werden könnte,
dass dieser das Dossier eingesehen hat. Der Umkehrschluss,
wonach ohne Visum auch keine Einsichtnahme erfolgt sei, ist
jedoch nicht ohne weiteres zulässig: Eine Verpflichtung der
einzelnen Bezirksrichter zum Quittieren der Akteneinsicht
ist nicht ersichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch
nicht behauptet. Dessen Hinweis, Bezirksrichter H.________
hätte ein allfälliges Aktenstudium "mit Sicherheit" visiert,
beruht einzig auf einer Vermutung und ist damit unbehelf-
lich. Ebenso erlaubt der Umstand, dass die in den Akten des
Bezirksgerichts enthaltene Zirkulationsliste kein Visum von
Bezirksrichter H.________ enthält, keine weiterführenden
Schlüsse. Diese Liste diente einzig der Bestätigung der
Aktenkonsultation vor der Verhandlung vom 11. Januar 2000,

was bereits aus den von den beteiligten Richtern eingetrage-
nen Daten von Empfang und Weitergabe des Dossiers folgt. Die
Bestätigung einer späteren Einsichtnahme in die Akten, ins-
besondere im Hinblick auf die Urteilssitzung, ist auf dieser
Liste nicht vorgesehen. Das Fehlen eines entsprechenden Vi-
sums von Bezirksrichter H.________ vermag demnach nicht zu
belegen, dass er anlässlich der Urteilssitzung noch keine
Aktenkenntnis hatte. Es ist deshalb nicht willkürlich, wenn
das Obergericht im angefochtenen Entscheid davon ausgegangen
ist, dass sämtliche am Urteil vom 28. März 2000 beteiligten
Mitglieder des Bezirksgerichts ihren Entscheid in Kenntnis
der damals vorliegenden Akten getroffen haben.

        Der vom Beschwerdeführer vor Obergericht aufgewor-
fenen Frage, ob andernfalls sein Anspruch auf rechtliches
Gehör verletzt worden wäre, ist hier nicht weiter nachzuge-
hen.

     2.- Der Beschwerdeführer rügt weiter eine Verletzung
des Grundsatzes "in dubio pro reo" im Sinne einer Beweis-
würdigungsregel.

        a) Gemäss Art. 32 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Ziff. 2
EMRK gilt jede angeschuldigte Person bis zur rechtskräftigen
Verurteilung als unschuldig. Die Maxime "in dubio pro reo"
ist ein Aspekt der Unschuldsvermutung (BGE 120 Ia 31 E. 2b
S. 35). Als Beweiswürdigungsregel besagt die Maxime, dass
sich der Strafrichter nicht von der Existenz eines für den
Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären
darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, ob
sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Die Maxime ist
verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklag-
ten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und

theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer
möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden
kann. Es muss sich aber um erhebliche und nicht zu unterdrü-
ckende Zweifel handeln, d.h. um solche, die sich nach der
objektiven Sachlage aufdrängen. Bei der Beurteilung von Fra-
gen der Beweiswürdigung beschränkt sich das Bundesgericht
auf eine Willkürprüfung. Es kann demnach nur eingreifen,
wenn der Sachrichter den Angeklagten verurteilte, obgleich
bei objektiver Würdigung des ganzen Beweisergebnisses offen-
sichtlich erhebliche und schlechterdings nicht zu unterdrü-
ckende Zweifel an dessen Schuld bestanden (BGE 127 I 38
E. 2a S. 41, mit Hinweisen).

        b) Der Grundsatz "in dubio pro reo" wurde vorlie-
gend nicht verletzt. Es ist unter Willküraspekten nicht zu
beanstanden, dass die kantonalen Instanzen im Rahmen der Be-
weiswürdigung mit ausführlicher Begründung auf die Angaben
der Zeugin A.________ abgestellt haben. Sodann hat das Ober-
gericht die vom Beschwerdeführer behauptete Ursache der
Trommelfellverletzung des Geschädigten - einen Sturz oder
ein heftiges Anschlagen an einem Türrahmen - im Vergleich
zur Möglichkeit eines Schlages auf das Ohr zu Recht als
"eher unwahrscheinlich" bezeichnet. Schliesslich ist auch
nicht überzubewerten, wenn anlässlich der Befragung vor dem
Bezirksgericht der Geschädigte und die einvernommene Zeugin
unterschiedliche Zeitpunkte hinsichtlich des Auftretens
einer Blutung am verletzten Ohr genannt haben: Es ist nach-
vollziehbar, dass der als alkoholkrank beschriebene Geschä-
digte sich im Januar 2000 nicht mehr im Detail an den exak-
ten Ablauf der Ereignisse in der Nacht auf den 18. November
1998 erinnern konnte. Für das Obergericht bestand demnach
kein Anlass, am schuldhaften Verhalten des Beschwerdeführers
erhebliche, nicht zu unterdrückende Zweifel zu hegen.

     3.- Aus den dargestellten Gründen ist die staats-
rechtliche Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
bundesgerichtlichen Verfahrens sind die Gerichtskosten dem
Beschwerdeführer zu auferlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Der Be-
schwerdegegner hat sich nicht vernehmen lassen. Er hat daher
keinen Anspruch auf Ersatz von Parteikosten (vgl. Art. 159
OG).

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

     2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Be-
schwerdeführer auferlegt.

     3.- Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bezirksgericht
Brugg sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des
Kantons Aargau, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 5. Juli 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: