Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.184/2001
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1P.184/2001/boh

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                       18. Juni 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Nay, Bundesrichter Féraud und Gerichtsschreiber
Härri.

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                         In Sachen

X.________ AG, Beschwerdeführerin, vertreten durch
Rechtsanwalt Y.________,

                           gegen

Untersuchungsrichteramt des Kantons  S o l o t h u r n,
Obergericht des Kantons  S o l o t h u r n, Anklagekammer,

                         betreffend
             Nichteintreten auf eine kantonale
  Beschwerde wegen Verspätung (Fristablauf am Stefanstag)
           (staatsrechtliche Beschwerde gegen den
      Beschluss des Obergerichts des Kantons Solothurn
                   vom 5. Februar 2001),

hat sich ergeben:

     A.- Am 14. November 1999 erstattete die X.________ AG
Strafanzeige gegen Unbekannt wegen verschiedener Delikte.

        Mit Verfügung vom 30. November 2000 stellte das
Untersuchungsrichteramt Solothurn das Ermittlungsverfahren
gegen zwei Personen wegen des Verdachts des Diebstahls und
des Hausfriedensbruchs ein.

     B.- Auf die von der X.________ AG dagegen eingereichte
Beschwerde trat das Obergericht des Kantons Solothurn (An-
klagekammer) am 5. Februar 2001 nicht ein.

        Das Obergericht erwog, die Verfügung des Untersu-
chungsrichteramtes sei dem Vertreter der X.________ AG am
14. Dezember 2000 eröffnet worden. Die X.________ AG habe
mit Postaufgabe vom 27. Dezember 2000 Beschwerde erhoben.
Das Ende der Beschwerdefrist von 10 Tagen sei auf den
24. Dezember 2000 gefallen. Der 24. Dezember 2000 sei ein
Sonntag gewesen. Die Frist habe somit erst am nachfolgenden
Werktag geendet. Der Weihnachtstag, 25. Dezember, sei nach
kantonalem Recht ein hoher Feiertag, weshalb die Frist auch
an diesem Tag nicht geendet habe. Der 26. Dezember sei nach
kantonalem Recht dagegen kein staatlich anerkannter Feiertag
und einem solchen auch nicht gleichgestellt. Die Beschwerde-
frist sei daher am Dienstag, 26. Dezember 2000, abgelaufen.
Die Beschwerde vom 27. Dezember sei verspätet.

     C.- Die X.________ AG führt staatsrechtliche Beschwerde
mit dem Antrag, den Beschluss des Obergerichtes aufzuheben.

        Die X.________ AG macht geltend, der Beschluss des
Obergerichts sei überspitzt formalistisch, willkürlich, wi-
derspreche Treu und Glauben und verletze den Grundsatz des
fairen Verfahrens. Das Obergericht habe ausser Acht gelas-
sen, dass am 26. Dezember 2000 die Poststellen in den Kanto-
nen Solothurn und Basel-Landschaft, wo der Vertreter der
X.________ AG seinen Geschäftssitz habe, geschlossen gewesen
seien; ebenso seien an diesem Tag die Gerichte und Verwal-
tungsstellen des Kantons Solothurn geschlossen gewesen. Da-
mit habe die X.________ AG die Frist faktisch nicht einhal-
ten können. Das Obergericht hätte deshalb die Frist auf den
nächsten post- bzw. gerichtsoffenen Tag, d.h. den 27. Dezem-
ber 2000, verlängern müssen.

     D.- Das Obergericht beantragt unter Verzicht auf eine
Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei.

        Das Untersuchungsrichteramt hat auf Gegenbemerkun-
gen verzichtet.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Der angefochtene Beschluss ist ein letztinstanz-
licher kantonaler Endentscheid. Dagegen ist die staatsrecht-
liche Beschwerde zulässig (Art. 86 und 87 OG).

        b) Nach der Rechtsprechung ist der durch eine an-
geblich strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht
legitimiert, gegen die Einstellung eines Strafverfahrens
staatsrechtliche Beschwerde zu erheben, weil er an der Ver-

folgung und Bestrafung des Täters nur ein tatsächliches oder
mittelbares, nicht aber ein rechtlich geschütztes, eigenes
und unmittelbares Interesse im Sinne von Art. 88 OG hat. Da-
gegen kann ein Beschwerdeführer trotz fehlender Legitimation
in der Sache selbst die Verletzung solcher Rechte rügen, die
ihm das kantonale Recht wegen seiner Stellung als am Straf-
verfahren beteiligte Partei einräumt und deren Missachtung
eine formelle Rechtsverweigerung bewirkt. Das nach Art. 88
OG erforderliche rechtlich geschützte Interesse ergibt sich
diesfalls nicht aus der Berechtigung in der Sache, sondern
aus der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen. Der Geschä-
digte kann unter anderem geltend machen, auf sein Rechtsmit-
tel sei zu Unrecht nicht eingetreten worden (BGE 120 Ia 220
E. 2a mit Hinweisen).

        Die Beschwerdelegitimation der Beschwerdeführerin
ist somit gegeben.

     2.- Die Beschwerdeführerin rügt, der angefochtene Be-
schluss sei überspitzt formalistisch.

        a) Das Verbot des überspitzten Formalismus, das
sich aus Art. 29 Abs. 1 BV (früher Art. 4 aBV) ergibt, wen-
det sich gegen prozessuale Formenstrenge, die als exzessiv
erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfer-
tigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirkli-
chung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert
oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft frei, ob eine
solche Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 127 I 31 E. 2a/bb
mit Hinweis).

        b) Das Bundesgericht hat sich in verschiedenen
Urteilen zur Wahrung der Frist in vergleichbaren Fällen wie
hier geäussert.

        In BGE 115 IV 266 ging es um den Fristablauf für
die Begründung einer eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde
am Tag des Patroziniumsfests des St. Leodegar, welches in
der Stadt Luzern am 2. Oktober begangen wird. Die damalige
Beschwerdeführerin, welche die Beschwerde am 3. Oktober der
Post übergeben hatte, machte geltend, das Patroziniumsfest
sei in der Bevölkerung tief verwurzelt, weshalb an diesem
Tag denn auch die Schalter der Post, die Geschäfte und Be-
triebe inkl. Banken und Verwaltung geschlossen hätten. Das
Bundesgericht nahm den Ablauf der Frist am 2. Oktober an,
weil das kantonale Recht das Patroziniumsfest des
St. Leodegar als Feiertag nicht (mehr) anerkannte.

        Im unveröffentlichten Entscheid vom 14. Oktober
1999 in Sachen B. (1P.469/1999) befasste sich das Bundes-
gericht mit dem Fristablauf an einem Pfingstmontag, welcher
vom Recht des Kantons Zug nicht als Feiertag anerkannt war.
Wie das Bundesgericht erwog, ist es bei klarer gesetzlicher
Regelung der Feiertage keineswegs überspitzt formalistisch,
für die Fristberechnung die nicht als Feiertage anerkannten
Tage als Werktage zu zählen, auch wenn sie im gesellschaft-
lichen Leben faktisch als Feiertage gelten, an denen in der
Regel nicht gearbeitet wird und die Geschäfte geschlossen
sind (E. 3c).

        Bereits im nicht publizierten Urteil vom 26. Okto-
ber 1994 in Sachen F. (1P.481/1994) ging es um den Pfingst-
montag, der auch im Kanton Wallis kein gesetzlicher Feiertag
war. Das Bundesgericht beanstandete die Annahme des Frist-
ablaufs am Pfingstmontag nicht (E. 2b).

        Im Urteil vom 8. Juli 1996 in Sachen G. (1P.259/
1996; veröffentlicht in Pra. 1996 S. 837 ff.) befasste sich
das Bundesgericht mit dem 2. Januar (Berchtoldstag). Dieser
war nach dem Recht des Kantons Genf kein Feiertag. Das kan-

tonale Gericht nahm Fristablauf am 2. Januar an und erachte-
te eine am 3. Januar eingereichte Eingabe als verspätet. Das
Bundesgericht verneinte überspitzten Formalismus. Es befand,
der Umstand, dass die Verwaltung am 2. Januar geschlossen
sei, ändere nichts daran, dass nach kantonalem Recht dieser
Tag kein Feiertag sei. Der Beschwerdeführer hätte die Einga-
be einem Postbüro übergeben können, das am 2. Januar von
12.00 bis 20.00 Uhr geöffnet gewesen sei (E. 3).

        Im unveröffentlichten Urteil vom 7. September 1992
in Sachen M. (1P.440/1992) ging es um den Ostermontag. Das
Recht des Kantons Zug anerkannte diesen nicht als Feiertag.
Das Bundesgericht erachtete es nicht als überspitzt forma-
listisch, wenn das kantonale Gericht Fristablauf am Oster-
montag annahm, obwohl an diesem Tag niemand arbeitet (E. 2).

        c) aa) Gemäss § 206 Abs. 1 der Strafprozessordnung
des Kantons Solothurn vom 7. Juni 1970 (im Folgenden: StPO)
ist die Beschwerde innert 10 Tagen seit der schriftlichen
Eröffnung des angefochtenen Entscheids mit schriftlicher Be-
gründung dem Obergericht einzureichen.

        Nach § 20 StPO wird bei Berechnung der Frist der
Tag, an dem sie zu laufen beginnt, nicht mitgezählt. Die
Frist endigt um 24 Uhr des letzten Tages (Abs. 1). Ist der
letzte Tag der Frist ein Samstag, Sonntag oder staatlich
anerkannter Feiertag, endigt sie am nachfolgenden Werktag.
Diesen Tagen sind der 2. Januar (Berchtoldstag), der Oster-
und Pfingstmontag gleichgestellt (Abs. 2). Schriftliche Ein-
gaben müssen spätestens am letzten Tag der Frist der Stelle,
der sie einzureichen sind, oder einer andern solothurnischen
Amtsstelle zukommen oder der schweizerischen Post übergeben
werden (Abs. 3 Satz 1).

        bb) Das Obergericht gibt im angefochtenen Beschluss
die hier massgeblichen Daten zutreffend wieder, was die Be-
schwerdeführerin nicht in Abrede stellt. Das Ende der Frist
fiel auf den 24. Dezember 2000. Dieser war ein Sonntag. Die
Frist verlängerte sich deshalb gemäss § 20 Abs. 2 StPO auf
den nachfolgenden Werktag. Der Weihnachtstag, 25. Dezember,
ist gemäss § 2 des Gesetzes des Kantons Solothurn über die
öffentlichen Ruhetage vom 24. Mai 1964 ein hoher Feiertag.
Es handelt sich somit beim 25. Dezember um einen staatlich
anerkannten Feiertag, weshalb sich die Frist nach § 20
Abs. 2 StPO auf den 26. Dezember verlängerte. Dieser ist im
kantonalen Gesetz über die öffentlichen Ruhetage nicht als
staatlich anerkannter Feiertag aufgeführt. Ebenso wenig ist
der 26. Dezember nach § 20 Abs. 2 Satz 2 StPO einem Samstag,
Sonntag oder staatlich anerkannten Feiertag gleichgestellt.
Dass es sich anders verhalte, behauptet die Beschwerdeführe-
rin nicht. Ist der 26. Dezember nach der klaren kantonalen
Regelung kein Feiertag, sondern ein Werktag, ist es im
Lichte der angeführten bundesgerichtlichen Rechtsprechung
- insbesondere des Urteils vom 14. Oktober 1999 - nicht
überspitzt formalistisch, wenn das Obergericht den Fristab-
lauf am 26. Dezember 2000 angenommen und die am Tag darauf
der Post übergebene Beschwerde als verspätet beurteilt hat.

        cc) Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie habe die
Frist faktisch nicht einhalten können. Insoweit geht es um
die Frage einer allfälligen Wiederherstellung der Frist, mit
der sich das Obergericht gegebenenfalls zu befassen haben
wird.

     3.- Die Beschwerdeführerin rügt, der angefochtene Be-
schluss sei willkürlich und verletze Art. 9 BV.

        Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann,
wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder
gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensicht-
lich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen
Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 125 I 166 E. 2a;
123 I 1 E. 4a, je mit Hinweisen).

        Wie dargelegt, ist nach dem klaren Wortlaut der
massgeblichen solothurnischen Gesetze der 26. Dezember kein
Feiertag und einem solchen auch nicht gleichgestellt. Bei
dieser Sachlage ist es nicht offensichtlich unhaltbar, wenn
das Obergericht den Fristablauf am 26. Dezember angenommen
hat. Willkür ist nicht gegeben.

     4.- Die Beschwerdeführerin macht geltend, der ange-
fochtene Beschluss verletze ihren Anspruch auf Behandlung
nach Treu und Glauben; auch insoweit sei ein Verstoss gegen
Art. 9 BV gegeben.

        Der Grundsatz von Treu und Glauben verleiht einer
Person Anspruch auf Schutz des berechtigten Vertrauens in
behördliche Zusicherungen oder sonstiges, bestimmte Erwar-
tungen begründendes Verhalten der Behörden (BGE 126 II 377
E. 3a mit Hinweisen).

        Die Beschwerdeführerin behauptet nicht und es ist
nicht ersichtlich, dass die kantonalen Behörden ihr irgend-
welche Zusicherungen zur Beschwerdefrist gegeben oder inso-
weit auf andere Weise bestimmte Erwartungen begründet hät-
ten. Die Rechtsmittelbelehrung in der Verfügung des Untersu-
chungsrichteramtes vom 30. November 2000 ist in jeder Hin-
sicht zutreffend. Eine Verletzung von Treu und Glauben liegt
nicht vor.

     5.- Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung des
Grundsatzes des fairen Verfahrens rügt, genügt die Beschwer-
de den Begründungsanforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
nicht. Darauf ist nicht einzutreten.

     6.- Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf ein-
getreten werden kann.

        Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt die Be-
schwerdeführerin die Kosten (Art. 156 Abs. 1 OG).

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen,
soweit darauf einzutreten ist.

     2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Be-
schwerdeführerin auferlegt.

     3.- Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin sowie dem
Untersuchungsrichteramt und dem Obergericht des Kantons
Solothurn, Anklagekammer, schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 18. Juni 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
      Der Präsident:           Der Gerichtsschreiber: