Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.12/2001
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2001


1P.12/2001/boh

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                       29. März 2001

Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundes-
richter Aeschlimann, Ersatzrichterin Pont Veuthey und
Gerichtsschreiber Härri.

                         ---------

                         In Sachen

X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Guido Hensch, Genferstrasse 23, Postfach, Zürich,

                           gegen

Vizepräsident lic. iur. E.  L e u e n b e r g e r, 8. Abtei-
lung des Bezirksgerichtes Zürich,
Bezirksanwaltschaft  Z ü r i c h, Büro D-5,
Obergericht des Kantons  Z ü r i c h, Verwaltungskommission,

                         betreffend
               Art. 30 Abs. 1 BV (Ablehnung)
      (staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss
   der Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons
               Zürich vom 6. Dezember 2000),

hat sich ergeben:

     A.- Am 29. September 2000 erhob die Bezirksanwaltschaft
Zürich Anklage gegen X.________ wegen Verbrechens gegen das
Betäubungsmittelgesetz und Verweisungsbruchs etc. Der Vor-
sitzende der 8. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich, Vize-
präsident lic. iur. E. Leuenberger, setzte die Hauptverhand-
lung auf den 8. Dezember 2000 an. Am 27. November 2000
stellte X.________ ein Ablehnungsbegehren gegen lic. iur.
Leuenberger. Dieser überwies das Begehren dem Obergericht
des Kantons Zürich und gab gleichzeitig die gewissenhafte
Erklärung ab, dass eine Befangenheit nicht gegeben sei.

        Am 6. Dezember 2000 wies die Verwaltungskommission
des Obergerichts des Kantons Zürich das Ablehnungsbegehren
ab.

     B.- X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit
dem Antrag, den Beschluss der Verwaltungskommission aufzu-
heben; es sei festzustellen, dass gegen lic. iur. Leuenberger
ein Ablehnungsgrund vorgelegen habe.

     C.- Die Verwaltungskommission, lic. iur. Leuenberger
und die Bezirksanwaltschaft haben auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist, von hier nicht
gegebenen Ausnahmen abgesehen, rein kassatorischer Natur
(BGE 124 I 327 E. 4 mit Hinweisen). Auf das Feststellungsbe-
gehren des Beschwerdeführers kann deshalb nicht eingetreten
werden. Im Übrigen geben die Eintretensvoraussetzungen zu
keinen Bemerkungen Anlass.

     2.- Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Be-
schluss verletze Art. 30 Abs. 1 BV. Lic. iur. Leuenberger
habe mit Verfügung vom 6. Januar 1999 die Ausschaffungshaft
des Beschwerdeführers verlängert. Lic. iur. Leuenberger sei
deshalb vorbefasst gewesen, als die 8. Abteilung des Be-
zirksgerichtes nach der am 8. Dezember 2000 beschlossenen
Ergänzung der Untersuchung den Beschwerdeführer am 20. De-
zember 2000 wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Be-
täubungsmittelgesetz und Widerhandlung gegen das Bundesge-
setz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer zu
3 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Landesverweisung verurteilt
habe.

        a) Art. 30 Abs. 1 BV, der insoweit inhaltlich mit
Art. 58 Abs. 1 aBV übereinstimmt, und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
enthalten die Garantie des verfassungsmässigen Richters. Da-
nach hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von
einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen
Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden
wird. Liegen bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vor,

die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Vorein-
genommenheit zu begründen vermögen, so ist die Garantie ver-
letzt (BGE 126 I 68 E. 3a mit Hinweisen).

        Die Garantie des verfassungsmässigen Richters gilt
schon für das erstinstanzliche Verfahren. Die Möglichkeit,
das Urteil bei einer ordentlichen Rechtsmittelinstanz anzu-
fechten, vermag am allfälligen Mangel in der Besetzung der
Richterbank nichts zu ändern (BGE 114 Ia 50 E. 3d [S. 60]
mit Hinweisen).

        Wird mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verlet-
zung des Anspruchs auf den verfassungs- und konventionsmäs-
sigen Richter geltend gemacht, so überprüft das Bundesge-
richt die Auslegung und Anwendung des kantonalen Verfahrens-
rechts nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Mit freier
Kognition prüft es dagegen, ob die als vertretbar erkannte
Auslegung des kantonalen Prozessrechts mit den Garantien von
Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist
(BGE 126 I 68 E. 3b mit Hinweisen).

        Eine gewisse Besorgnis der Voreingenommenheit und
damit Misstrauen in das Gericht kann bei den Parteien dann
entstehen, wenn einzelne Gerichtspersonen in einem früheren
Verfahren mit der konkreten Streitsache schon einmal befasst
waren. In einem solchen Fall so genannter Vorbefassung
stellt sich die Frage, ob sich ein Richter durch seine Mit-
wirkung an früheren Entscheidungen in einzelnen Punkten be-
reits in einem Mass festgelegt hat, die ihn nicht mehr als
unvoreingenommen und dementsprechend das Verfahren als nicht
mehr offen erscheinen lassen. Ob dies der Fall ist, kann
nicht generell gesagt werden; es ist nach der Rechtsprechung
vielmehr in jedem Einzelfall zu untersuchen, ob die konkret
zu entscheidende Rechtsfrage trotz Vorbefassung als offen

erscheint (BGE 126 I 68 E. 3c mit Hinweisen). Zu berücksich-
tigen ist, unter welchen tatsächlichen und verfahrensrecht-
lichen Umständen sich der Richter im früheren Zeitpunkt mit
der Sache befasste bzw. sich später zu befassen hat. Von Be-
deutung ist überdies, welche Fragen in den beiden Verfah-
rensabschnitten zu entscheiden sind und inwiefern sie sich
ähnlich sind oder miteinander zusammenhängen (BGE 114 Ia 50
E. 3d [S. 59]).

        b) Die Verwaltungskommission verneint einen Aus-
schlussgrund gemäss § 95 Abs. 1 Ziff. 3 und Abs. 2 des Ge-
richtsverfassungsgesetzes des Kantons Zürich vom 13. Juni
1976 (Gesetzessammlung 211.1; GVG); ebenso einen Ablehnungs-
grund gemäss § 96 Ziff. 3 und 4 GVG. Der Beschwerdeführer
legt nicht in einer den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1
lit. b OG genügenden Weise dar, inwiefern die Verwaltungs-
kommission das kantonale Recht willkürlich ausgelegt habe.

        Der angefochtene Beschluss verletzt Art. 30 Abs. 1
BV nicht. Eine Vorbefassung setzt, wie dargelegt, nach der
Rechtsprechung begrifflich voraus, dass sich der Richter mit
der konkreten Streitsache schon einmal befasst hat (vgl.
dazu auch Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit, Bern
2001, S. 144). Das ist hier nicht der Fall. Lic. iur.
Leuenberger hat sich mit dem in der Anklageschrift vom
29. September 2000 geschilderten Sachverhalt vor der Beur-
teilung durch die 8. Abteilung des Bezirksgerichtes nicht
beschäftigt. Die Verfügung vom 6. Januar 1999, mit welcher
er die Verlängerung der Ausschaffungshaft bis zum 9. März
1999 bewilligte, hatte einen anderen Gegenstand. Lic. iur.
Leuenberger prüfte dort, ob ein Haftgrund weiterhin bestehe,
ob die für den Vollzug der Wegweisung notwendigen Vorkehren
getroffen worden waren und ob der Vollzug der Wegweisung
durchführbar sei. Er bejahte dies und verlängerte deshalb

die Ausschaffungshaft. In der Anklageschrift vom 29. Septem-
ber 2000 wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, im Mai 2000
mit Kokain gehandelt zu haben, am 6. Juli 1998 trotz Landes-
verweisung in die Schweiz eingereist zu sein und ab dem
24. Januar 1999 nach der Entlassung aus der Ausschaffungs-
haft sich rechtswidrig in der Schweiz aufgehalten zu haben.
Mit allen diesen Vorwürfen hat sich lic. iur. Leuenberger in
der Verfügung vom 6. Januar 1999 nicht auseinander gesetzt.
Zum Kokainhandel und zum rechtswidrigen Aufenthalt ab dem
24. Januar 1999 konnte er sich in der Verfügung vom 6. Ja-
nuar 1999 im Übrigen schon deshalb nicht äussern, weil es
dabei um Sachverhalte geht, die sich gemäss Anklage später
verwirklicht haben.

        Da lic. iur. Leuenberger mit dem Anklagesachverhalt
nicht vorbefasst war, bestand keine Gefahr der Voreingenom-
menheit. Zwar hat er in der Verfügung vom 6. Januar 1999
sich bereits einmal mit der Person des Beschwerdeführers be-
fasst und zu dessen Ungunsten entschieden. Das reicht jedoch
nicht aus, um die Gefahr der Voreingenommenheit zu begrün-
den. Dem Richter kann die Unabhängigkeit nicht abgesprochen
werden, nur weil er einmal gegen den Betroffenen entschieden
hat (BGE 114 Ia 278 E. 1 mit Hinweis).

        In BGE 114 Ia 139 hat das Bundesgericht eine Ver-
letzung von Art. 58 Abs. 1 aBV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK ver-
neint in einem Fall, in dem im Appellationsverfahren diesel-
ben Richter des Berner Obergerichts amteten, die zuvor be-
reits am Entscheid der Anklagekammer im Überweisungsverfah-
ren mitgewirkt hatten. Entscheidend war, dass es im Appella-
tionsverfahren um eine andere Frage ging als im Überwei-
sungsverfahren. Der Ausgang des Appellationsverfahrens war
daher durch das Überweisungsverfahren nicht vorbestimmt. Im-
merhin betrafen die beiden Entscheide das gleiche Strafver-

fahren. Im vorliegenden Fall hatte lic. iur. Leuenberger bei
der Beurteilung der Anklage nicht nur andere Fragen zu ent-
scheiden als in der Verfügung vom 6. Januar 1999. Es handel-
te sich überdies um ein neues Verfahren; das Urteil des Be-
zirksgerichtes vom 20. Dezember 2000 und die Verfügung vom
6. Januar 1999 ergingen nicht im gleichen Strafverfahren.
Eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV ist deshalb erst recht
zu verneinen.

        c) Die Verwaltungskommission hat im angefochtenen
Beschluss die Kosten dem Vertreter des Beschwerdeführers
auferlegt. Soweit sich die Beschwerde dagegen richtet, ge-
nügt sie den Begründungsanforderungen von Art. 90 Abs. 1
lit. b OG nicht. Damit kann offen bleiben, ob der Vertreter
des Beschwerdeführers insoweit nicht in eigenem Namen hätte
Beschwerde erheben müssen (vgl. BGE 113 Ia 94 E. 1b).

     3.- Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf ein-
getreten werden kann. Da sie aussichtslos war, kann das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
gemäss Art. 152 OG nicht bewilligt werden.

        In Anbetracht der finanziellen Verhältnisse des
Beschwerdeführers wird auf die Erhebung von Kosten verzich-
tet.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen,
soweit darauf einzutreten ist.

     2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Ver-
beiständung wird abgewiesen.

     3.- Es werden keine Kosten erhoben.

     4.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, Vize-
präsident lic. iur. E. Leuenberger, 8. Abteilung des Be-
zirksgerichtes Zürich, der Bezirksanwaltschaft Zürich sowie
dem Obergericht des Kantons Zürich, Verwaltungskommission,
schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 29. März 2001

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: