Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen B 38/1999
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B 38/99 Vr

                        III. Kammer

Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer;
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold

               Urteil vom 18. September 2000

                         in Sachen

S.________, 1940, Beschwerdeführerin, vertreten durch
Advokat Bruno Muggli, Hauptstrasse 53, Birsfelden,

                           gegen

Betriebliche Altersvorsorgeeinrichtung Gastrosuisse, Bahn-
hofstrasse 86, Aarau, Beschwerdegegnerin,

                            und

Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt, Basel

     A.- Die 1940 geborene S.________ arbeitete seit Jahren
im Gastgewerbe. Nach einer zweiwöchigen Behandlung im Kur-
zentrum X.________ stellte ihr Frau Dr. med. C.________ im
Austrittsbericht vom 31. Januar 1984 die Diagnose chronisch
rezidivierender Lumbalgien bei schwerer Torsionsskoliose
mit Gibbus rechts und starkem Beckentiefstand nach rechts
unten sowie akuter Coccygodynie bei Beginn der Behandlung
und Metatarsalgie bei Hohlfüssen beidseits. 1988 übernahm
S.________ ein Café. Am 15. November 1989 unterzeichnete

sie die Anmeldung für die Planvorsorge (BAV 1) bei der
Stiftung Betriebliche Altersvorsorge Wirte (heute Betrieb-
liche Altersvorsorgeeinrichtung Gastrosuisse; nachfolgend:
Gastrosuisse). Die darin enthaltene Frage "Hatten Sie in
letzter Zeit Krankheiten und/oder bestehen bei Ihnen Kör-
perschäden?" beantwortete sie mit "nein". Ab 1994 litt sie
unter zunehmenden Rückenproblemen. Dr. med. G.________,
Chefarzt der Schmerzklinik Y.________ diagnostizierte eine
schwerste Skoliose thoracolumbal mit sekundärer degenera-
tiver Destruktion der Segmente L5/S4 ohne radikuläre bzw.
neurokompressive Symptome sowie eine Fehlbelastung der
distalen Lendenwirbelsäulensegmente und attestierte eine
voraussichtlich dauernde vollständige Arbeitsunfähigkeit
als Wirtin (Arztzeugnis vom 13. März 1996 und Bericht vom
10. April 1996). S.________ beantragte bei der Gastrosuisse
die Ausrichtung einer Invalidenrente.
     Mit Schreiben vom 4. Februar 1997 trat die Gastro-
suisse vom Vertrag zurück, da S.________ im Anmeldeformular
nicht angegeben habe, dass sie sich bereits vor diesem
Datum wegen Rückenbeschwerden in ärztlicher Behandlung
befunden habe.

     B.- Die Klage, mit welcher S.________ die Ausrichtung
einer jährlichen Invalidenrente forderte, wies das Ver-
sicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom
12. Mai 1999 ab.

     C.- S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit
dem Begehren um Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids
sowie Ausrichtung einer jährlichen Invalidenrente von
Fr. 13'950.- seit 7. März 1996 führen.
     Die Gastrosuisse und das Bundesamt für Sozialversiche-
rung beantragen Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwer-
de.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- Die vorliegende Streitigkeit unterliegt der Ge-
richtsbarkeit der in Art. 73 BVG erwähnten richterlichen
Behörden, welche sowohl in zeitlicher als auch in sach-
licher Hinsicht zuständig sind (BGE 122 V 323 Erw. 2, 120 V
18 Erw. 1a, je mit Hinweisen).
     Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verwei-
gerung von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungs-
befugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht
auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Über-
schreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, son-
dern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der
angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die
vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sach-
verhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien
zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

     2.- Die Vorinstanz hat die massgebenden Bestimmungen
und Grundsätze über die analoge Anwendung des Bundesgeset-
zes über den Versicherungsvertrag (VVG) auf das vorliegende
vorsorgerechtliche Verhältnis (BGE 119 V 286 Erw. 4, 116 V
225 Erw. 4, je mit Hinweisen), den Umfang der Anzeige-
pflicht (Art. 4 VVG; SZS 42/1998 S. 309 Erw. 2, S. 374
Erw. 3, je mit Hinweisen) sowie das Rücktrittsrecht des
Versicherers (Art. 6 VVG; BGE 119 V 287 Erw. 5a, 116 V 229
Erw. 6a, je mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf
kann verwiesen werden.

     3.-  Streitig und zu prüfen ist, ob die Gastrosuisse
zu Recht vom Vorsorgevertrag zurückgetreten ist.

     a) Die Gastrosuisse wirft der Beschwerdeführerin vor,
ihre Anzeigepflicht verletzt zu haben, indem sie die Frage
Ziff. 3 des Anmeldeformulars "Hatten Sie in letzter Zeit
Krankheiten oder/und bestehen bei Ihnen Körperschäden?" mit
"nein" beantwortet hatte. Diese Antwort sei unzutreffend;

denn die bereits anlässlich ihrer Behandlung in X.________
diagnostizierte schwere Torsionsskoliose mit Gibbus rechts
und starkem Beckentiefstand nach rechts unten (Arztzeugnis
Frau Dr. med. C.________ vom 31. Januar 1984) stelle einen
schweren Körperschaden dar, welcher später zur Invalidität
geführt habe und deshalb von der Beschwerdeführerin hätte
angegeben werden müssen.

     b) Nach der von der Vorinstanz zutreffend wiedergege-
benen Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsge-
richts weist die Anzeigepflicht des Antragstellers keinen
umfassenden Charakter auf. Sie beschränkt sich vielmehr auf
die Angabe jener Gefahrstatsachen, nach denen der Versiche-
rer ausdrücklich und in unzweideutiger Art gefragt hat. Der
Antragsteller ist somit nicht verpflichtet, von sich aus
über bestehende Gefahren Auskunft zu geben. Was die einzel-
nen Fragen anbelangt, hat das Bundesgericht in Erw. 3b sei-
nes unveröffentlichten Urteils R. vom 4. November 1993
(5C.140/1993) Folgendes festgehalten:

"Die Tragweite der einzelnen Fragen bestimmt sich - gleich
 wie der Vertragsinhalt selbst - nach dem Vertrauensprinzip
 (BGE 101 II 339 Erw. 2 S. 344; Maurer, Privatversiche-
 rungsrecht, 2. Aufl., Bern 1986, S. 235). Es ist mithin
 darauf abzustellen, was vernünftigerweise gemeint sein
 muss und der konkrete Antragsteller annehmen darf, wenn er
 über die Fragen der Versicherungsgesellschaft in der vom
 VVG verlangten Weise ernsthaft nachdenkt (BGE 118 II 333
 Erw. 2b, 116 II 338 Erw. 1b, 72 II 124 Erw. 3 mit Hin-
 weis). Wie es damit steht, ist abzuklären anhand des Wort-
 lauts der Fragen, des Zusammenhangs, in welchem sie ste-
 hen, und allfälliger weiterer Umstände (BGE 118 II 365
 Erw. 1 mit Hinweis). Dabei ist zu beachten, dass eine
 Frage einschränkend auszulegen ist, wenn sie, an sich oder
 auf Grund ihrer Beziehung zu den übrigen dem Antragsteller
 vorgelegten Fragen, Zweifel über den Umfang der Deklara-
 tionspflicht weckt (Roelli/Keller, Kommentar zum schweize-
 rischen Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag,
 2. Aufl., Bern 1968, S. 108). Das folgt einerseits aus dem
 (...) Grundsatz, dass eine Anzeigepflicht nur insoweit
 besteht, als die Fragen der Versicherungsgesellschaft
 reichen. Anderseits wird ganz allgemein eine Verletzung
 der Anzeigepflicht nur mit Zurückhaltung angenommen, weil
 damit die einschneidende Folge des Wegfalls des Versiche-
 rungsvertrags verbunden ist (BGE 118 II 333 Erw. 2b S. 338
 mit Hinweis)."

     c) Es ist zu prüfen, ob die im Jahre 1984 diagnosti-
zierten Leiden der Beschwerdeführerin unter die in der um-
strittenen Frage enthaltenen Begriffe fallen.
     In Frage Ziff. 3 wird der Antragsteller zunächst nach
"Krankheiten" "in letzter Zeit" und anschliessend - ohne
genauere zeitliche Angabe - nach "Körperschäden" gefragt.
Es muss somit ein Unterschied zwischen "Krankheit" und
"Körperschäden" bestehen, da sich der zweite Teil der Frage
ansonsten erübrigen würde. Als Gegensatz oder zumindest
Alternative zur Krankheit wären ein Unfall oder die Folgen
eines Unfalles bzw. einer Krankheit denkbar. Die Rücken-
problematik der Beschwerdeführerin ist weder als Folge
eines Unfalles noch einer Krankheit zu bezeichnen; vielmehr
handelt es sich bei dieser idiopathischen Skoliose (vgl.
Gutachten des Dr. med. J.________, Spezialarzt für Innere
Medizin, vom 24. Februar 1997 und des Dr. med. R.________,
Oberarzt Orthopädische Klinik Z.________, vom 21. April
1997 sowie Schreiben Dr. med. G.________ vom 3. Dezember
1998) um eine körperliche Schwäche bzw. Veranlagung. Um
jedoch unter "Körperschäden" auch Schwächen und Veranla-
gungen zu verstehen, ist die betreffende Frage Ziff. 3 zu
allgemein und ungenau gehalten.
     Im Übrigen ist eine Anzeigepflichtverletzung nur mit
Zurückhaltung anzunehmen, weshalb der Beschwerdeführerin
angesichts der sehr offenen Frage nach "Körperschäden"
keine Anzeigepflichtverletzung angelastet werden kann (SVR
1997 BVG Nr. 81 S. 251 Erw. 4b).
     Die Gastrosuisse war somit nicht zum Rücktritt vom
Vorsorgevertrag berechtigt.

     d) Nachdem die Höhe der geltend gemachten Invaliden-
rente von der Gastrosuisse nie bestritten wurde und sich
diese auch aus den Akten ergibt, ist die Gastrosuisse zur
Zahlung in diesem Umfang zu verpflichten.

     4.- Da es vorliegend um die Bewilligung oder Verweige-
rung von Versicherungsleistungen geht, ist das Verfahren
kostenlos (Art. 134 OG).
     Der durch einen Rechtsanwalt vertretenen, obsiegenden
Beschwerdeführerin steht eine Parteientschädigung zu
(Art. 159 Abs. 2 OG).
     Dem Ausgang des kantonalen Verfahrens entsprechend hat
die Vorinstanz der Versicherten keine Parteientschädigung
gewährt. In Anbetracht dessen, dass im Recht der Berufli-
chen Vorsorge kein Anspruch auf eine Parteientschädigung
auf bundesgesetzlicher Grundlage im Sinne von Art. 104
lit. a OG gegeben ist (vgl. Art. 73 BVG), steht es dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht nicht zu, das kanto-
nale Gericht aufzufordern, über diese Frage erneut zu ent-
scheiden. Die vor Eidgenössischem Versicherungsgericht ob-
siegende Beschwerdeführerin hat jedoch die Möglichkeit, die
Vorinstanz zu ersuchen, im Hinblick auf das letztinstanz-
liche Urteil hierüber nochmals zu befinden.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
     das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons
     Basel-Stadt vom 12. Mai 1998 aufgehoben, und es wird
     die Betriebliche Altersvorsorgeeinrichtung Gastro-
     suisse verpflichtet, der Beschwerdeführerin eine jähr-
     liche Invalidenrente von Fr. 13'950.- ab 7. März 1996
     zu bezahlen.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Die Betriebliche Altersvorsorgeeinrichtung Gastro-
     suisse hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
     vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
     Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
     Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

 IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungs-
     gericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für
     Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 18. September 2000

                   Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
             Der Präsident der III. Kammer:

               Die Gerichtsschreiberin: