Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.54/1999
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6A.54/1999/bue

               K A S S A T I O N S H O F
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               Sitzung vom 30. März 2000

Es wirken mit: Bundesgerichtspräsident Schubarth,
Präsident des Kassationshofes, Bundesrichter Schneider,
Wiprächtiger, Kolly, Bundesrichterin Escher und
Gerichtsschreiber Borner.

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                       In Sachen

B u n d e s a m t  f ü r  S t r a s s e n,

                         gegen

X.________, Beschwerdegegner,

                       betreffend
     Entzug des Führerausweises; Dauer des Entzugs
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der
Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen
gegenüber Fahrzeugführern vom 24. März 1999),

hat sich ergeben:

     A.- X.________ fuhr am 18. August 1998 um ca. 05.45
Uhr auf dem Normalstreifen der Autobahn A6-Süd von
Kiesen Richtung Rubigen. Bei einer Fahrgeschwindigkeit
von zwischen 120 und 130 km/h nickte er plötzlich kurz
ein. Als er wieder erwachte, sah er ca. 20 m vor sich
einen VW-Bus. Trotz Vollbremsung und Ausweichens nach
rechts kam es zu einer Kollision mit dem Heck des voran-
fahrenden VW-Busses und in der Folge auch mit dem Wild-
schutzzaun am rechten Fahrbahnrand. Beim Unfall entstand
ein Sachschaden von Fr. 25'000.--.

     B.- Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des
Kantons Bern entzog X.________ am 6. Januar 1999 den
Führerausweis wegen Führens eines Personenwagens in
nicht fahrfähigem Zustand (kurzes Einnicken) für die
Dauer eines Monats in Anwendung von Art. 16 Abs. 2 SVG.

        Eine Beschwerde des Betroffenen wies die Re-
kurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber
Fahrzeugführern am 24. März 1999 ab.

     C.- Das Bundesamt für Strassen führt Verwaltungs-
gerichtsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Ent-
scheid sei aufzuheben und X.________ sei der Führer-
ausweis für die Dauer von sechs Monaten zu entziehen in
Anwendung von Art. 16 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 17 Abs.
1 lit. c SVG.

        Die Rekurskommission beantragt Abweisung der
Beschwerde; X.________ hat sich innert Frist nicht
vernehmen lassen.

          Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führer-
ausweis entzogen werden, wenn der Fahrzeuglenker Ver-
kehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet
oder andere belästigt hat. Hat der Führer den Verkehr in
schwerer Weise gefährdet, ist gemäss Art. 16 Abs. 3
lit. a SVG der Entzug des Führerausweises obligatorisch.
Nach der Rechtsprechung ist der Führerausweis nur dann
gestützt auf Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG zu entziehen,
wenn dem Fahrzeuglenker ein schweres Verschulden anzu-
lasten ist (BGE 105 Ib 121), mithin bei fahrlässigem
Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit (BGE 123 IV 88
E. 4a). Diese ist zu bejahen, wenn der Täter sich der
allgemeinen Gefährlichkeit seiner verkehrswidrigen
Fahrweise bewusst ist. Grobe Fahrlässigkeit kann aber
auch vorliegen, wenn der Täter die Gefährdung anderer
Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht
zieht, also unbewusst fahrlässig handelt. In solchen
Fällen bedarf jedoch die Annahme grober Fahrlässigkeit
einer sorgfältigen Prüfung (BGE 118 IV 285 E. 4, S. 290;
106 IV 49/50 mit Hinweisen).

        Wer angetrunken, übermüdet oder sonst nicht
fahrfähig ist, darf kein Fahrzeug führen (Art. 31 Abs. 2
SVG). In der Literatur (H.P. Hartmann, Der Kranke als
Fahrzeuglenker, Berlin u.a. 1980, S. 39 f., zitiert in
Schaffhauser, Grundriss des schweizerischen Strassenver-
kehrsrechts, Band I, N 378 f.) werden als wichtige ermü-
dungsfördernde Faktoren solche unterschieden, die in der
Person oder Situation des Fahrzeugführers liegen (Al-
leinfahrt, Dauerfahrt von Stunden mit ständiger Kon-
zentration, ununterbrochen langsame Fahrt, Bekanntheit
der Strecke, vorausgegangene schwere körperliche oder
geistige Arbeit, Hunger oder voller Magen, Alkohol,

dämpfende Medikamente, Krankheit, Rekonvaleszenz), von
vom Fahrzeug ausgehenden (Monotonie von Motorlärm und
Vibration, Überheizung, schlechte Lüftung, mangelhafter
Sitz- oder Bedienungskomfort) und von strassen- bzw.
witterungsbedingten Faktoren (Eintönigkeit der Strasse,
Dauerregen, Hitze, Sonne, Nacht, Zwielicht). Charakte-
ristische Symptome von (unterschiedlich starker) Ermü-
dung lassen sich feststellen im Augen-/Sehbereich (Lid-
schwere, Trübung des Blickes, Fremdkörperreiz, Kon-
vergenzschwäche mit Schielen und Doppelbildern, Schat-
tensehen, "schwimmende" Strasse), in psychischer Hin-
sicht (Abschweifen in Gedanken, Dösen, "Autobahn-Hyp-
nose", Gleichgültigkeit, Lustlosigkeit, Unruhe, Auf-
schrecken, kurze Absenz mit offenen Augen), in der
allgemeinen körperlichen Verfassung (Gähnen, Mund-
trockenheit mit Durst, Erschrecken mit Schweissausbruch,
plötzlicher Tonusverlust der Muskulatur) und in der
Fahrweise (verzögerte Reaktionen, hartes Kuppeln, brüs-
kes Bremsen, Schaltmüdigkeit, Abweichen von der Fahr-
spur, verlorenes Geschwindigkeitsgefühl).

        Angesichts dieser Ermüdungssymptome kann heute
bei einem gesunden und nicht aus anderen Gründen fahr-
unfähigen Fahrzeugführer Einschlafen am Steuer (sog.
"Sekundenschlaf") ohne vorherige subjektiv erkennbare
Ermüdungserscheinungen ausgeschlossen werden (Hart-
mann/Schaffhauser, a.a.O., S. 40 bzw. N 381). Zum selben
Ergebnis gelangt auch H. Joachim: "Unter forensischen
Aspekten ist zusammenfassend festzustellen, dass es ein
unvorhersehbares Einschlafen am Steuer nach übereinstim-
menden Ansichten nur unter aussergewöhnlichen und krank-
haften Bedingungen gibt. Eine zunehmende Ermüdung ist
zunehmend erkennbar. Die Ermüdungszeichen sind Kraft-
fahrern bekannt" (Praxis der Rechtsmedizin für Mediziner
und Juristen, herausgegeben von Balduin Forster, Stutt-
gart/New York/München 1986, S. 385 ff., insbesondere

S. 388; z.T. abweichend Jagusch/Hentschel, Strassen-
verkehrsrecht, 34. Auflage, StVZO § 2 N 9b-d und StGB
§ 315c N 14).

        Das Verschulden eines Fahrzeugführers, der am
Steuer einschläft, ist deshalb in aller Regel als schwer
zu bezeichnen. Zutreffend führt Schaffhauser (a.a.O.,
S. 211 f. Fn 1) dazu aus, dass wer während der Fahrt
einschlafe, offensichtlich überhaupt keine Möglichkeit
mehr habe, auf den Gang des Geschehens einzuwirken. Das
Fahrzeug fahre ungeführt, "herrenlos" irgendwohin. Dass
solche Phasen in der Regel kurz seien, sei meist der
Tatsache zuzuschreiben, dass bald einmal eine Kollision
erfolge, in deren Gefolge der Führer erwache. Damit
dürfte regelmässig ein qualifizierter Fall einer erhöh-
ten abstrakten Verkehrsgefährdung vorliegen. Auch das
Verschulden sei regelmässig als schwer zu qualifizieren.
Wer sich so übermüdet ans Lenkrad setze, dass er bei
nächster Gelegenheit ohne weitere Vorwarnung einschlafe,
handle grobfahrlässig. Wer hingegen in fahrfähigem Zu-
stand losfahre, schlafe regelmässig nicht ohne vorherige
subjektiv erkennbare Ermüdungserscheinungen ein. Es
erscheine daher als grob pflichtwidrig, solche deutliche
Zeichen unbeachtet zu lassen in der Hoffnung, man werde
weiterhin wach bleiben. Es gehöre wohl zu den elemen-
tarsten und wichtigsten Pflichten des Lenkers, aktiv
dafür zu sorgen, dass er wach bleibe, solange er sich im
Verkehr bewege.

        b) Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdegegner zu
Recht vor, er habe weder auf die ersten Ermüdungssympto-
me reagiert noch etwas dagegen unternommen, als diese
in vermehrtem Masse aufgetreten seien. Da die Gefähr-
lichkeit eines Einnickens am Steuer allgemein bekannt
sei, und der Beschwerdegegner trotz der vermehrt auftre-
tenden und für ihn erkennbaren Übermüdungsanzeichen

seine Fahrt nicht abgebrochen habe, habe die erste
Instanz zu Recht auf ein nicht mehr leichtes Verschulden
erkannt. Das kurze Einnicken am Steuer stelle in aller
Regel eine grobe Verkehrsregelverletzung dar; dass die
erste Instanz den vorliegenden Fall nur als mittelschwer
qualifiziert habe, müsse deshalb als milde Massnahme
bezeichnet werden. Dennoch hat sie die erstinstanzliche
Verfügung bestätigt.

        Wie das beschwerdeführende Amt zutreffend gel-
tend macht, ist diese Argumentation nicht nachvollzieh-
bar. Nachdem die Vorinstanz zu Recht davon ausgeht, dass
das Einnicken am Steuer in der Regel eine grobe Ver-
kehrsregelverletzung darstellt, hätte sie entweder eine
solche annehmen oder aber darlegen müssen, weshalb das
Verschulden des Beschwerdegegners weniger schwer wiege
als im Regelfall. Dafür findet sich im angefochtenen
Entscheid keine Begründung, weshalb er aufzuheben ist.

        In ihrer Vernehmlassung weist die Vorinstanz
darauf hin, dass das Bundesgericht auch schon kantonale
Entscheide geschützt hat, wo das Einnicken am Steuer als
mittelschwerer beziehungsweise als leichter Fall be-
urteilt worden sei. Der unveröffentlichte Entscheid vom
4. September 1991 i.S. Département de justice et police
du canton de Genève gegen S. ging davon aus, es fehlten
tatsächliche Feststellungen, wonach der Autofahrer wegen
seiner Überarbeitung mit einem plötzlichen Einnicken
hätte rechnen müssen oder dass sich bei ihm Ermüdungsan-
zeichen bemerkbar gemacht hätten. Angesichts der vorer-
wähnten Literatur muss diese Rechtsprechung als überholt
bezeichnet werden. Im unveröffentlichten Entscheid vom
20. Dezember 1991 i.S. Verkehrsamt des Kantons Schwyz
gegen B. hatte der Fahrzeuglenker versucht, der Gefahr
des Einnickens durch verschiedene - wenn auch unge-
nügende - Vorkehren vorzubeugen. Deshalb traf ihn auch

ein weniger schweres Verschulden als einen Fahrzeug-
lenker, der bei immer stärker auftretenden Ermüdungs-
anzeichen nichts Besonderes unternimmt im Vertrauen
darauf, es werde schon gut gehen.

        Soweit die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung
auf die berufliche Sanktionsempfindlichkeit des Be-
schwerdegegners hinweist, ist zunächst festzuhalten,
dass dieser Umstand bei der Beurteilung des Verschul-
dens, ob ein mittelschwerer oder ein schwerer Fall vor-
liegt, nicht von Bedeutung ist. Im Weiteren ist offen-
sichtlich, dass der Beschwerdegegner, der in Leissigen
wohnt und in Gümligen in einem Schichtbetrieb arbeitet,
im Verhältnis zum Durchschnittsfahrer stärker auf den
Führerausweis angewiesen ist. Hingegen ist er nicht so
schwer betroffen wie ein Fahrzeuglenker, dessen Berufs-
arbeit ganz oder teilweise im Führen von Motorfahrzeugen
besteht. Im Übrigen wäre es für den Beschwerdegegner
zumindest teilweise möglich, mit den öffentlichen Ver-
kehrsmitteln die normalen Schichtarbeitszeiten einzuhal-
ten.

        Das beschwerdeführende Amt betont zu Recht die
Gefährlichkeit, die von übermüdeten Fahrzeuglenkern
ausgeht, und dass ein unvorhersehbares Einschlafen am
Steuer bei einem gesunden Fahrzeugführer ohne vorherige
subjektiv erkennbare Ermüdungserscheinungen ausgeschlos-
sen werden könne. Soweit das Amt deshalb den Tatbestand
des Fahrens in übermüdetem Zustand in der Regel als
grobe Verkehrsregelverletzung bezeichnet, ist ihm zuzu-
stimmen. Aus dem Umstand, dass das Fahren in angetrunke-
nem Zustand einen obligatorischen Entzugsgrund darstellt
(Art. 16 Abs. 3 lit. b SVG), kann jedoch nicht geschlos-
sen werden, angesichts der noch grösseren Gefährdung der
übrigen Verkehrsteilnehmer gelte dies erst recht für den
Tatbestand des Fahrens in übermüdetem Zustand. Zwar sind

beide Tatbestände Varianten fehlender Fahrfähigkeit
(Art. 31 Abs. 2 SVG). Doch behandelt der Gesetzgeber die
beiden Tatbestände unterschiedlich, indem in Art. 16
Abs. 3 lit. b SVG die Übermüdung nicht erwähnt ist und
gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. b SVG nur das Fahren in an-
getrunkenem Zustand mit einer Mindestentzugsdauer von
zwei Monaten geahndet wird. Hätte der Gesetzgeber die
beiden Tatbestände gleich behandeln wollen, so hätte er
in den erwähnten Bestimmungen nur den Begriff in "an-
getrunkenem" Zustand durch den Begriff in "fahrunfähi-
gem" Zustand ersetzen müssen.

     2.- Nach dem Gesagten ist der angefochtene Ent-
scheid aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zu-
rückzuweisen.

        Da der Beschwerdegegner keinen Antrag gestellt
hat, wird auf die Auferlegung einer Gerichtsgebühr ver-
zichtet; eine Entschädigung an die beschwerdeführende
Behörde entfällt (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2
OG).

           Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird teilwei-
se gutgeheissen, der Entscheid der Rekurskommission des
Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern
vom 24. März 1999 aufgehoben und die Sache zur Neubeur-
teilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

     2.- Es werden keine Kosten erhoben und es wird
keine Parteientschädigung zugesprochen.

     3.- Dieses Urteil wird den Parteien und der Rekurs-
kommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber
Fahrzeugführern sowie dem Strassenverkehrsamt des Kan-
tons Bern schriftlich mitgeteilt.

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Lausanne, 30. März 2000

              Im Namen des Kassationshofes
           des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                     Der Präsident:

                 Der Gerichtsschreiber: