Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.797/1999
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1P.797/1999/err

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                       7. Januar 2000

Es wirken mit: Bundesrichter Aemisegger, Präsident der
I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter Féraud,
Bundesrichter Favre und Gerichtsschreiber Sassòli.

                         ---------

                         In Sachen

D.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat
Dr. Niklaus Ruckstuhl, Binningerstrasse 1, Allschwil,

                           gegen

Statthalteramt des Bezirks  S i s s a c h,
Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Landschaft,

                         betreffend
        Art. 10 und 31 BV sowie Art. 5 Ziff. 3 EMRK
                     (Haftentlassung),

hat sich ergeben:

     A.- D.________, ein in Deutschland wohnhafter deutscher
Staatsangehöriger, wurde am 6. Juni 1999 verhaftet, weil er
beim Grenzübertritt mit Gegenständen angetroffen wurde, die
auf Vorbereitungen eines Raubüberfalls schliessen liessen.
Ihm wird im Weiteren vorgeworfen, über einen Zeitraum von
zwei Jahren mit einem Komplizen, teils mittels Einbrüchen,
Fahrzeuge im Wert von etwa Fr. 650'000.-- gestohlen und
weiterverkauft zu haben. Am 6. Juli 1999 wurde das Verfahren
gegen ihn an das Statthalteramt Sissach abgetreten, und er
ist seither im Kanton Basel-Landschaft inhaftiert. Am selben
Tag stellte er ein Haftentlassungsgesuch, das mit Entscheid
der Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Landschaft vom 22.
August 1999 abgelehnt wurde. Ein weiteres Gesuch lehnte die
Statthalterin wegen dringenden Tatverdachts und Kollusions-
gefahr am 14. Oktober 1999 ab. Hiergegen erhob D.________
Beschwerde bei der Überweisungsbehörde. Diese erwog in ihrem
Beschluss vom 1. Dezember 1999, Kollusionsgefahr sei nicht
gegeben, wohl aber Fluchtgefahr, die auch durch Hinterlegung
einer Kaution nicht abgewendet werden könne. Sie wies daher
das Haftentlassungsgesuch ab, hiess die Beschwerde aber
wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots gut und ordnete
Massnahmen an, um das Untersuchungsverfahren bis Ende Januar
2000 abzuschliessen.

     B.- Gegen den Beschluss der Überweisungsbehörde führt
D.________ staatsrechtliche Beschwerde und beantragt dessen
Aufhebung. Er rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit
und von Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Er kritisiert, dass Fluchtge-
fahr angenommen worden sei, eventualiter dass er nicht gegen
Kaution freigelassen worden sei.

     Die Überweisungsbehörde und die Statthalterin beantra-
gen in ihren Vernehmlassungen die Abweisung der Beschwerde.
In seiner Replik vom 5. Januar 2000 hält D.________ an
seinen Anträgen fest.

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung der per-
sönlichen Freiheit und von Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Dazu ist er
als Untersuchungshäftling legitimiert (Art. 88 OG). Die üb-
rigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf
die Beschwerde einzutreten ist.

     2.- Gemäss § 25 Abs. 1 des bis Ende 1999 gültigen
basel-landschaftlichen Gesetzes vom 30. Oktober 1941 betref-
fend die Strafprozessordnung (aStPO/BL; GS 21.591) durfte
der einer strafbaren Handlung Verdächtige unter anderem dann
in Sicherheit genommen werden, wenn seine Flucht zu befürch-
ten war. Nach § 27 Abs. 1 aStPO/BL konnte statt einer Inhaft-
nahme die Hinterlegung einer Kaution verfügt werden, sofern
die Sicherung des Angeschuldigten durch Inhaftsetzung nicht
durchaus geboten erschien, die Fluchtgefahr aber doch nicht
ausserhalb jeder Möglichkeit stand. Das seit dem 1. Januar
2000 gültige Gesetz vom 3. Juni 1999 betreffend die Straf-
prozessordnung (nStPO/BL; GS 33.825) enthält in § 77 Abs. 1
lit. a und § 79 Abs. 2 lit. a entsprechende Bestimmungen.

        Der Beschwerdeführer beruft sich, um seine Haft-
entlassung zu erreichen, auf das unter der alten, bis Ende
1999 gültigen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (aBV) unge-
schriebene verfassungsmässige Recht der persönlichen Frei-
heit und auf Art. 10 der Bundesverfassung vom 18. April 1999

(BV), die am 1. Januar 2000 in Kraft getreten ist (vgl.
AS 1999 2555). Spezifische Garantien im Falle eines Frei-
heitsentzugs enthält daneben Art. 31 BV. Bei staatsrechtli-
chen Beschwerden, die gestützt auf diese Rechte wegen der
Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches erhoben werden,
prüft das Bundesgericht angesichts von Art. 31 Abs. 1 BV und
im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und
Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechtes frei. Soweit
jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweis-
würdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur
ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen
Instanz willkürlich sind (BGE 123 I 268 E. 2d S. 271 mit
Hinweis).

     3.- Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen einer
Fluchtgefahr.

        a) Nach der Rechtsprechung braucht es für die An-
nahme der Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass
sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Straf-
verfolgung und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen
würde. Hierfür genügt die theoretische Möglichkeit einer
Flucht nicht. Für die Beurteilung der Fluchtgefahr sind
vielmehr die gesamten konkreten Umstände des betreffenden
Falles in Betracht zu ziehen. Der Charakter des Betroffenen,
sein bisheriges Verhalten, sein Wohnsitz, sein Beruf, seine
Vermögensverhältnisse, seine Familienbande und seine Bezie-
hungen im Staat, in dem er der Strafverfolgung unterliegt,
sind zu berücksichtigen (vgl. Urteil des EGMR i.S. Neu-
meister c. Österreich vom 27. Juni 1968, Serie A, Band 7,
Ziff. 10). Dabei darf auch die Schwere der drohenden Strafe
als ein Indiz für die Fluchtgefahr gewertet werden, aber sie
alleine genügt nicht für deren Bejahung (BGE 125 I 60 E. 3a
S. 62, mit Hinweisen; vgl. auch BGE 117 Ia 257 E. 4
S. 260 f.). Die Tatsache, dass der Angeschuldigte Ausländer

ist, genügt nicht als alleiniges zusätzliches Indiz, sondern
auch in diesem Fall kommt es auf die Gesamtwürdigung an. Die
Annahme von Fluchtgefahr ist nicht etwa dadurch ausgeschlos-
sen, dass sich die befürchtete Ausreise auf ein Land be-
zieht, das den Angeschuldigten grundsätzlich an die Schweiz
ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte (BGE 123
I 31 E. 3a S. 36 f.).

        b) Die Überweisungsbehörde zählt verschiedene Ele-
mente auf, die für eine Fluchtgefahr sprechen. Sie erwähnt
die Höhe der zu erwartenden Strafe, die Arbeitslosigkeit und
die Schulden des Beschwerdeführers. Es fehle auch jeder Be-
zug zur Schweiz. In Deutschland drohe eine weitere Strafver-
folgung mit der Aussicht auf eine mehrjährige Freiheitsstra-
fe, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne.
Dort habe er zwar seine Mutter und eine Verlobte, aber keine
eigene Familie. Schliesslich gäbe der Beschwerdeführer
selbst zu, Geld investiert zu haben. Dieses könne ihm auf
einer Flucht weiterhin zur Verfügung stehen. Diese Argumente
erlauben in der Tat erhebliche Zweifel daran, dass der Be-
schwerdeführer sich auch nach einer Freilassung weiterhin
zur Verfügung der Schweizer Strafverfolgungsbehörden halten
würde. Dagegen bringt er einzig vor, er verfüge gar nicht
über die nötigen Mittel, um in ein Drittland zu fliehen,
während eine Flucht nach Deutschland auch von der Überwei-
sungsbehörde für unwahrscheinlich gehalten werde. Zunächst
kann die zu verhindernde Flucht auch in einem Untertauchen
in Deutschland bestehen. Seine Angaben in den Einvernahmen
vom 15. und 16. Juni 1999, wonach er insgesamt 48'000.--
Deutsche Mark "investiert" habe, versucht er in seiner
Replik damit zu erklären, dass er die betreffenden Gelder
für sein Geschäft gebraucht habe, dessen Mittel heute be-
schlagnahmt seien. Dies ergibt sich aber nicht aus den Ein-
vernahmeprotokollen und die Überweisungsbehörde verfiel
nicht in Willkür, wenn sie annahm, diese Beträge könnten
anderweitig angelegt und daher noch verfügbar sein. Ange-

sichts der hohen beim Beschwerdeführer beschlagnahmten Geld-
beträge und der zahlreichen ihm vorgeworfenen Straftaten ist
es auch nicht unwahrscheinlich, dass er daneben noch zu wei-
teren Geldmitteln Zugang hat. Somit sprechen genügend Grün-
de, die er nicht überzeugend entkräften kann, für eine er-
hebliche Fluchtgefahr.

     4.- Der Beschwerdeführer bringt vor, da er einzig wegen
Fluchtgefahr in Haft gehalten werde, müsse eine Freilassung
gegen Kaution erfolgen und nur noch die Höhe dieser Kaution
könne streitig sein. Die Überweisungsbehörde verletze Art. 5
Ziff. 3 EMRK, wenn sie sinngemäss erwäge, keine noch so hohe
Kaution könne ihn von der Flucht abhalten.

        a) Der Freiheitsentzug steht unter der Maxime der
Verhältnismässigkeit, und wenn die Anwesenheit des Beschul-
digten im Prozess durch eine Kaution in genügender Weise
sichergestellt werden kann, ist es unverhältnismässig, ihm
die Freiheit zu entziehen, um dieses Ziel zu erreichen (so
jetzt ausdrücklich § 78 Abs. 2 lit. a nStPO/BL). Die Frei-
lassung eines Untersuchungsgefangenen gegen Leistung von
Sicherheit setzt aber voraus, dass angenommen werden kann,
die Aussicht auf den Verlust der Kaution werde den Beschul-
digten davon abhalten, die Flucht zu ergreifen. Ist das der
Fall, so kann mit der milderen Massnahme das gleiche Ziel
erreicht werden wie mit der Haft selber, nämlich die Person
des Beschuldigten zur Durchführung des Strafprozesses und
zum allfälligen künftigen Strafvollzug sicherzustellen.

        Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers lässt
sich aus der Rechtsprechung der Strassburger Organe nicht
folgern, ein einzig wegen Fluchtgefahr Inhaftierter müsse
immer gegen Kaution freigelassen werden. Dies schreibt zwar
der in der Beschwerde zitierte Mark E. Villiger (Handbuch
der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Auflage, 1999,

S. 230). Andere Autoren fügen präziser bei, dies gelte nur,
wenn durch die Kaution erreicht werden könne, dass sich der
Beschuldigte dem Prozess stelle (vgl. Jochen Abr. Frowein/
Wolfgang Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Auflage, Kehl 1996,
S. 133 f.; implizit auch Robert Hauser/Erhard Schweri,
Schweizerisches Strafprozessrecht, 4. Auflage, 1999, S. 281).
Der EGMR selbst hat entschieden, wenn eine Inhaftierung nur
erfolge, um das spätere Erscheinen vor Gericht sicherzu-
stellen, müsse eine Freilassung erfolgen, wenn es möglich
sei, vom Angeschuldigten "des garanties assurant cette com-
parution" zu erlangen (Urteil des EGMR i.S. Wemhoff c.
Deutschland vom 27. Juni 1968, Serie A, Band 7, Ziff. 15).
"Garantie" kann in diesem Satz nicht bloss die Tatsache
einer Kautionsleistung bedeuten, sondern damit muss gemeint
sein, dass die Kaution oder andere Ersatzmassnahme das Er-
scheinen im konkreten Fall auch wirklich als sicher erschei-
nen lassen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts entspricht
somit derjenigen der Strassburger Organe. Nur wenn sich
genügend Anzeichen dafür ergeben, dass eine Kaution ebenso
geeignet ist wie eine Inhaftierung, um das Erscheinen vor
Gericht zu erreichen, muss sie dem Betroffenen angeboten
werden (vgl. auch Sylva Fisnar, Ersatzanordnungen für Unter-
suchungshaft und Sicherheitshaft in zürcherischen Strafpro-
zess, Zürich 1997, S. 75).

        b) Im vorliegenden Fall erwog die Überweisungsbe-
hörde, dass eine Kaution angesichts des von ihr festgestell-
ten erhöhten Fluchtanreizes keine angemessene Sicherheit da-
für bieten könne, dass der Beschwerdeführer für Prozesshand-
lungen während der Untersuchung, für das Gerichtsverfahren
und für den allfälligen Strafvollzug zur Verfügung bleibe.
Da unklar ist, in welchem Umfang, aus welchen Quellen und
von wem der Beschwerdeführer die nötigen Geldmittel beziehen
könnte, war es der Überweisungsbehörde auch nicht möglich,
eine Kaution festzusetzen, die er hätte aufbringen können,
die aber genügend hoch gewesen wäre, um bei der offenkundi-

gen Fluchtgefahr jegliche Fluchtgelüste im Keim zu ersticken
(vgl. BGE 105 Ia 186 E. 4 S. 187 mit Hinweis). In der Replik
bringt er vor, seine Mutter könne eine Kaution von
Fr. 10'000.-- leisten. Angesichts der Lebensumstände und der
früheren finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers
erscheint dies nicht als ein Betrag, der ihn angesichts der
ihm in der Schweiz und in Deutschland drohenden Strafen von
einer Flucht abhalten könnte. Somit durfte die Überweisungs-
behörde annehmen, es sei nicht möglich, eine Kaution fest-
zusetzen, die hoch genug sei, um den Beschwerdeführer trotz
der akuten Fluchtgefahr (vgl. vorne E. 3b) von der Flucht
abzuhalten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sie gleich-
zeitig Massnahmen anordnete, um sicherzustellen, dass das
Untersuchungsverfahren in Kürze abzuschliessen ist. Somit
verstiess die kantonale Behörde nicht gegen die Verfassung
oder die EMRK, wenn sie das Begehren des Beschwerdeführers
um Freilassung gegen Kaution ablehnte.

     5.- Da die Verweigerung einer Freilassung des Beschwer-
deführers gegen Kaution nicht zu beanstanden ist, braucht
auf dessen Ausführungen zur Höhe dieser Kaution nicht einge-
gangen zu werden. Genauso wenig braucht entschieden zu wer-
den, ob von einem Deliktsbetrag von Fr. 650'000.-- oder von
Fr. 350'000.-- auszugehen ist. Auch der geringere dieser
beiden Beträge lässt eine weitere Inhaftierung des Beschwer-
deführers nicht unverhältnismässig erscheinen. Ebensowenig
verringert er die Gefahr einer Flucht.

     6.- Zusammenfassend ergibt sich, dass die staatsrecht-
liche Beschwerde abzuweisen ist. Der Beschwerdeführer stellt
das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür sind erfüllt (Art. 152 OG). Namentlich

erschien die Beschwerde nicht zum Vornherein aussichtslos,
und auch die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ist aus-
reichend glaubhaft gemacht.

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

     2.- Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche
Rechtspflege gewährt:
        a) Es werden keine Kosten erhoben.
        b) Advokat Dr. Niklaus Ruckstuhl wird als unent-
geltlicher Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgericht-
liche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Hono-
rar von Fr. 1'300.-- entschädigt.

     3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Statt-
halteramt des Bezirkes Sissach sowie der Überweisungsbehörde
des Kantons Basel-Landschaft schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 7. Januar 2000

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: