Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.788/1999
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1999
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1999


1P.788/1999/odi

             I. ÖFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             *********************************

                      19. Januar 2000

Es wirken mit: Bundesrichter Aemisegger, Präsident der
I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter Nay,
Bundesrichter Aeschlimann und Gerichtsschreiberin Camprubi.

                         ---------

                         In Sachen

L.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt
Christian Schroff, Felsenstrasse 11, Postfach 111,
Weinfelden,

                           gegen

Kantonsgericht  St.  G a l l e n, Präsident der Strafkammer,

                         betreffend
     unentgeltliche Prozessführung; rechtliches Gehör,

            zieht das Bundesgericht in Erwägung:

     1.- Das Bezirksamt Untertoggenburg erliess einen Straf-
bescheid gegen L.________ wegen mehrfachen Betrugs im Sinne
von Art. 146 Abs. 1 StGB. Diese erhob erfolglos Einsprache
beim Bezirksgericht Untertoggenburg. Anschliessend reichte
sie Berufung beim Kantonsgericht des Kantons St. Gallen ein
und beantragte die unentgeltliche Prozessführung. Der Präsi-
dent der Strafkammer wies dieses Gesuch am 8. Dezember 1999
unter Auferlegung einer innert zehn Tagen zu zahlenden Ein-
schreibegebühr von Fr. 800.-- ab, weil die Berufung aufgrund
der Aktenlage und des angefochtenen Urteils als aussichtslos
im Sinne von Art. 172 Abs. 3 des Gesetzes über die Straf-
rechtspflege vom 9. August 1954 (StP; nGS 26-41) zu bezeich-
nen sei.

        Die Beklagte führt dagegen staatsrechtliche Be-
schwerde im Wesentlichen wegen Verletzung ihres aus Art. 4
der alten Bundesverfassung (aBV) fliessenden Anspruchs auf
unentgeltliche Prozessführung sowie auf rechtliches Gehör.

     2.- Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit der bei
ihm eingereichten staatsrechtlichen Beschwerden von Amtes
wegen und mit freier Kognition (BGE 125 I 14 E. 2a S. 16,
253 E. 1a S. 254; 125 II 293 E. 1a S. 299, mit Hinweisen).

        Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 4 aBV ist gegen letztinstanzliche Endentscheide
zulässig, gegen letztinstanzliche Zwischenentscheide nur,
wenn sie für den Betroffenen einen nicht wiedergutzumachen-
den Nachteil zur Folge haben (Art. 87 OG). Ob diese Vor-
schrift aufgrund der Revision der am 1. Januar 2000 in Kraft
getretenen neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 (BV;

SR 101; siehe AS 1999 S. 2556 ff.) einer Anpassung bedarf,
kann offen bleiben. Denn die hier umstrittene Verfügung
stellt schon nach der bisherigen Praxis ein zulässiges An-
fechtungsobjekt dar: Nach der Rechtsprechung sind Verfügun-
gen über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege,
die mit der Aufforderung zur Leistung eines Kostenvorschus-
ses verbunden sind, als Zwischenentscheide zu betrachten,
die für den Gesuchsteller einen nicht wiedergutzumachenden
Nachteil haben (BGE 125 I 161 E. 1 S. 162; 121 I 321 E. 1
S. 322; 111 Ia 276 E. 2b S. 279).

     3.- Das aus Art. 4 aBV bzw. Art. 29 Abs. 2 BV flies-
sende rechtliche Gehör verlangt als persönlichkeitsbezogenes
Mitwirkungsrecht, dass die Behörde die Vorbringen des vom
Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsäch-
lich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und in der Ent-
scheidung berücksichtigt. Daraus erfolgt die grundsätzliche
Pflicht der Behörden, ihren Entscheid zu begründen. Die Be-
gründung eines Entscheids muss so abgefasst sein, dass der
Betroffene ihn gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann
(BGE 123 I 31 E. 2c S. 34, mit Hinweisen). Vorliegend wurde
das Gesuch um Erlass der Einschreibegebühr mit der Aus-
sichtslosigkeit des Rechtsmittels begründet. Weshalb Aus-
sichtslosigkeit anzunehmen sei, wurde dagegen nicht darge-
legt. Ob eine Verletzung der Begründungspflicht vorliegt,
kann jedoch offen bleiben. Denn, wie nachfolgend darzustel-
len ist, kann die Berufung der Beschwerdeführerin gegen das
Urteil des Bezirksgerichts nicht als zum Voraus aussichtslos
betrachtet werden.

     4.- Umstritten ist, ob die Ablehnung des Gesuchs um Er-
lass der Einschreibegebühr nach den Grundsätzen über die Ge-
währung der unentgeltlichen Prozessführung zulässig war bzw.
ob hierin eine Verletzung der verfassungsmässigen Minimal-
garantie auf unentgeltliche Rechtspflege liegt.

        Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege ergibt
sich als Minimalgarantie direkt aus Art. 4 aBV bzw. Art. 29
Abs. 3 BV, soweit - wie hier - das kantonale Recht keine
weitergehenden Ansprüche gewährt (vgl. Art. 172 Abs. 3 StP).
Der geltend gemachte Anspruch ist daher gestützt auf die
bundesgerichtliche Praxis zu Art. 4 aBV - Art. 29 Abs. 3 BV
bringt demgegenüber keine Neuerung - zu prüfen (BGE 124 I
304 E. 2a S. 306). Demnach hat eine bedürftige Partei An-
spruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn das Verfahren
nicht als für sie aussichtslos zu gelten hat. Als aussichts-
los sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Pro-
zessbegehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten
beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die
deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen
gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinn-
aussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten
oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist,
ob eine Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel
verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess
entschliessen würde. Die Rüge einer bedürftigen Partei, ihr
verfassungsmässiger Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege
sei verletzt, prüft das Bundesgericht in rechtlicher Hin-
sicht frei, in tatsächlicher dagegen nur unter dem Gesichts-
punkt der Willkür (BGE 125 II 265 E. 4b S. 275; 124 I 304
E. 2c S. 306 f.; 122 I 267 E. 2b mit Hinweisen).

        Vorliegend ist nicht ersichtlich, inwiefern die
Kritik der Beschwerdeführerin an der Annahme des Bezirksge-
richts, wonach das Tatbestandsmerkmal der Arglist erfüllt

sei, zum Vornherein aussichtslos sein sollte. In der ent-
sprechenden Erwägung führt das Bezirksgericht lediglich die
Voraussetzungen gemäss der bundesgerichtlichen Praxis zur
Annahme der Arglist an. Eine konkrete Prüfung fehlt jedoch,
so dass die Beschwerdeführerin zu Recht die Frage aufwirft,
ob das Bezirksgericht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör
verletzt habe. Inwiefern ihre sonstige Kritik gegenüber dem
bezirksgerichtlichen Urteil Gewinnaussichten hat, kann somit
offen bleiben. Die angefochtene Verfügung verstösst gegen
den Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung. Wenn die Be-
schwerdeführerin mittellos ist - was im kantonalen Verfahren
nicht überprüft wurde -, hat sie Anspruch auf Befreiung von
der Leistung der Einschreibegebühr. Auf die weiteren Rügen
der Beschwerdeführerin ist mithin nicht näher einzugehen.

     5.- Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen,
soweit darauf einzutreten ist, und der angefochtene Ent-
scheid aufzuheben. Es ist keine Gerichtsgebühr zu erheben
(Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton St. Gallen hat die Be-
schwerdeführerin für die Kosten des bundesgerichtlichen Ver-
fahrens angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG). Das
Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Prozessfüh-
rung wird damit gegenstandslos.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen,
soweit darauf einzutreten ist, und die Verfügung des Präsi-
denten der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom
7. Dezember 1999 wird aufgehoben.

     2.- Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

     3.- Der Kanton St. Gallen hat die Beschwerdeführerin
mit Fr. 1'500.-- für die Kosten des bundesgerichtlichen
Verfahrens zu entschädigen.

     4.- Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin sowie dem
Kantonsgericht St. Gallen, Präsident der Strafkammer,
schriftlich mitgeteilt.
                       ______________

Lausanne, 19. Januar 2000

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                  Die Gerichtsschreiberin: