Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.787/1999
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1P.787/1999/hzg

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      2. Februar 2000

Es wirken mit: Bundesrichter Aemisegger, Präsident
der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter
Jacot-Guillarmod, Bundesrichter Catenazzi und Gerichts-
schreiber Sigg.

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                         In Sachen

X.________, Beschwerdeführerin 1,
Y.________, Beschwerdeführerin 2,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Z.________

                           gegen

Rechtsanwalt E.________, Beschwerdegegner, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Stephan Thurnherr, Neugasse 55, St. Gallen,
Bezirksgericht  W e r d e n b e r g,
Staatsanwaltschaft des Kantons  S t .  G a l l e n,
Anklagekammer des Kantons  S t .  G a l l e n,

                         betreffend
                         Art. 4 BV,
                 (Zustellung eines Urteils),

hat sich ergeben:

     A.- Die im Rubrum erwähnten Beschwerdeführerinnen
erstatteten gegen den Beschwerdegegner Strafanzeige wegen
Verletzung des Berufsgeheimnisses. Das Bezirksamt Werdenberg
trat am 12. Oktober 1998 auf diese Anzeige nicht ein. Die
Anklagekammer des Kantons St. Gallen wies am 25. Juni 1999
eine von den genannten Beschwerdeführerinnen eingereichte
Beschwerde ab. Das Dispositiv wurde den Parteien am 28. Juni
1999 zugestellt. Am 3. Juli 1999 meldeten die Beschwerdefüh-
rerinnen über ihren Anwalt gegen den Entscheid der Anklage-
kammer die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des
Bundesgerichts an und ersuchten gleichzeitig um Zustellung
des begründeten Entscheids und der Akten.

     B.- Am 16. Juli 1999 stellten die Beschwerdeführerin-
nen das Gesuch, das begründete Urteil der Anklagekammer sei
erst nach dem 20. September 1999 zuzustellen, weil sich ihr
Anwalt von Anfang August 1999 bis zum 20. September 1999 im
Ausland aufhalte. Dieses Gesuch ging bei der Anklagekammer
am 19. Juli 1999 ein. Am 20. Juli 1999 versandte die Ankla-
gekammer den begründeten Entscheid. Der Anwalt der Beschwer-
deführerinnen verweigerte am 21. Juli 1999 die Annahme des
Entscheids mit dem Vermerk "nach 15. September 1999 zustel-
len". Auf zwei weitere Zustellungsversuche am 26. Juli 1999
und am 28. Juli 1999 verweigerte er erneut die Annahme. Am
10. August 1999 verreiste er nach Kanada.

     C.- Der Anwalt der Beschwerdeführerinnen stellte
am 29. September 1999 ein Gesuch um Zustellung des Ent-
scheids der Anklagekammer vom 25. Juni 1999. Die Anklage-
kammer teilte ihm am 1. Oktober 1999 sinngemäss mit, die

verlangten Unterlagen seien bei der Staatsanwaltschaft zu
verlangen, nachdem er dreimal die Entgegennahme verweigert
habe.

     D.- Mit Eingabe vom 8. Oktober 1999 verlangte der
Anwalt der Beschwerdeführerinnen erneut die Zustellung
des begründeten Entscheids vom 25. Juni 1999, im Falle
der Abweisung des Antrags die Zustellung eines begründeten
Entscheids mit Angabe der Rechtsmittel. Die Anklagekammer
trat auf die Eingabe mit Entscheid vom 12. November 1999
nicht ein und verwies sinngemäss auf die staatsrechtliche
Beschwerde als Rechtsmittel. Zur Begründung führte die An-
klagekammer aus, gegen ihre Weigerung, den Beschwerdefüh-
rerinnen den Entscheid vom 25. Juni 1999 erneut zuzustellen
und ihr damit im Zusammenhang stehendes Vorgehen gebe es im
anwendbaren kantonalen Verfahrensrecht kein Rechtsmittel.
Die Rechtsverweigerungsbeschwerde und das Begehren um Wie-
deraufnahme des Verfahrens seien nicht gegeben, und ein
anderes Rechtsmittel sei nicht zu sehen.

     E.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 14. Dezember
1999 stellen die Beschwerdeführerinnen folgende Anträge:

        "A) Hauptantrag:
            1. Es sei der Entscheid vom 12. November 1999
               aufzuheben.
            2. Es sei die Beschwerdebeklagte anzuweisen,
               ihren Entscheid vom 25. Juni 1999 (Dispo-
               sitiv) mit Begründung der Beschwerdeführerin
            a) ordnungsgemäss zuzustellen und damit
            b) für die Beschwerdeführerin die Frist von
               20 Tagen zur Einreichung einer begründeten
               Kassationsbeschwerde zu eröffnen.
            3. Es seien die Kosten des Verfahrens der Be-
               schwerdebeklagten aufzuerlegen und der Be-
               schwerdeführerin eine Prozessentschädigung
               nach Ermessen der staatsrechtlichen Abteilung
               zuzusprechen.

         B) Antrag auf Erlass einer vorsorglichen Massnahme

            Es sei die Vollstreckung der Dispositive
            a) vom 25. Juni 1999 (Beilage 3) und
            b) vom 12. November 1999 (Beilage 1) so lange
               auszusetzen, bis das Bundesgericht seinen
               Entscheid in der Sache selbst gefasst hat."

        Der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abtei-
lung hat dem Gesuch um aufschiebende Wirkung mit der Ein-
ladung zur Vernehmlassung am 27. Dezember 1999 superprovi-
sorisch stattgegeben.

        Der Beschwerdegegner beantragt, das Gesuch um
aufschiebende Wirkung sei abzuweisen, die staatsrechtliche
Beschwerde sei abzuweisen, soweit überhaupt darauf einge-
treten werden könne, der Anwalt des Beschwerdegegners sei
für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen, und
es sei zu prüfen, ob der Anwalt der Beschwerdeführerin mit
einer Ordnungsbusse zu bestrafen sei.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Für die staatsrechtliche Beschwerde gilt das
Rügeprinzip. Das Bundesgericht prüft nur klar und detail-
liert erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen. Dabei
haben die Beschwerdeführerinnen die wesentlichen Tatsachen
zu nennen und darzulegen, welche verfassungsmässigen Rechte
bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den ange-
fochtenen Entscheid verletzt sind (Art. 90 Abs. 1 lit. b
OG). Die Beschwerdeführerinnen haben sich demnach mit den
Erwägungen des angefochtenen Entscheids auseinander zu
setzen.

        Die Beschwerdeführerinnen schreiben mit keinem
Wort, weshalb die Begründung der Anklagekammer, gegen die
Abweisung des Gesuchs um erneute Zustellung ihres Entscheids
gebe es kein kantonales Rechtsmittel, nicht zutreffen soll.
Insoweit ist auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht ein-
zutreten.

     2.- Die Beschwerdeführerinnen gehen in ihrer staats-
rechtlichen Beschwerde davon aus, die Anklagekammer habe
mit dem angefochtenen Entscheid zugleich auch das Gesuch
vom  16. Juli 1999 um Verschiebung der Zustellung ihres
Entscheids abgewiesen.

        Nach Art. 84 Abs. 2 OG ist die staatsrechtliche
Beschwerde nur zulässig, wenn die behauptete Rechtsverlet-
zung nicht sonstwie durch Klage oder Rechtsmittel beim Bun-
desgericht oder einer anderen Bundesbehörde gerügt werden
kann. Die Beschwerdeführerinnen verlangten die Verschiebung
der Zustellung, um die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassa-
tionshof des Bundesgerichts erst nach der Rückkehr ihres An-
walts aus dem Ausland einreichen zu dürfen. Ihr Gesuch lief
auf ein Begehren um Erstreckung der Beschwerdefrist hinaus.
Bei der Frist von 20 Tagen für die Begründung der Nichtig-
keitsbeschwerde nach Art. 272 Abs. 2 BStP handelt es sich
um eine vom Gesetz bestimmte Frist, die gemäss Art. 33 Abs. 1
OG nicht erstreckt werden kann. Möglich bleibt allein die
Wiederherstellung der versäumten Frist nach Art. 35 OG. Ge-
mäss Abs. 2 dieser Bestimmung entscheidet das Bundesgericht
über die Wiederherstellung. Die Beschwerdeführerinnen hätten
daher die Wiederherstellung der versäumten Frist in ihrer
Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesge-
richts verlangen können. Die staatsrechtliche Beschwerde
ist auch in dieser Hinsicht unzulässig.

     3.- Die Auffassung des Beschwerdegegners mag zutreffen,
das Verhalten der Beschwerdeführerinnen, die dreimal die An-
nahme eines Entscheids verweigert haben und eine vierte Zu-
stellung verlangen, sei rechtsmissbräuchlich und disziplin-
widrig. Indessen haben sie diesen allfälligen Fehler im kan-
tonalen Verfahren begangen. Dass sie dem Bundesgericht eine
offensichtlich unzulässige Beschwerde eingereicht haben, be-
deutet für sich allein keinen Disziplinarfehler. Auf eine
Ordnungsbusse ist daher zu verzichten.

     4.- Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist demnach im
vereinfachten Verfahren nicht einzutreten (Art. 36a Abs. 1
lit. a OG).

        Die Gerichtsgebühr ist den unterliegenden Beschwer-
deführerinnen aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Ausserdem
haben sie den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG).

        Mit dem Urteil über die Beschwerde selbst wird das
Gesuch um Anordnung vorsorglicher Massnahmen gegenstandslos.

             Demnach erkennt das Bundesgericht
               im Verfahren nach Art. 36a OG:

     1.- Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht
eingetreten.

     2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird den Be-
schwerdeführerinnen zu gleichen Teilen auferlegt, unter
solidarischer Haftung je für den ganzen Betrag.

     3.- Die Beschwerdeführerinnen haben zu gleichen Teilen
den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren
mit insgesamt Fr. 1'500.-- zu entschädigen, unter solidari-
scher Haftung je für den ganzen Betrag.

     4.- Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bezirks-
gericht Werdenberg sowie der Staatsanwaltschaft und der
Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 2. Februar 2000

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: