I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.591/1999
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1P.591/1999/hzg I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG ********************************** 2. Februar 2000 Es wirken mit: Bundesrichter Aemisegger, Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter Aeschlimann, Bundesrichter Favre und Gerichtsschreiber Dreifuss. --------- In Sachen P.________, CO-Bogota/Kolumbien, z.Zt. Strafanstalt X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechts- anwalt Stefan Blum, Apollostrasse 2, Zürich, gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Z ü r i c h, Obergericht des Kantons Z ü r i c h, I. Strafkammer, Kassationsgericht des Kantons Z ü r i c h, betreffend "fair trial"; Fragen an Belastungszeugen; EMRK 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK; (Strafverfahren), hat sich ergeben: A.- P.________ wurde vom Bezirksgericht Bülach am 21. Oktober 1997 der mehrfachen Zuwiderhandlung gegen das BetmG sowie des Verweisungsbruches im Sinne von Art. 291 Abs. 1 StGB schuldig gesprochen und mit sieben Jahren Zucht- haus bestraft. Hiergegen legten sowohl P.________ als auch die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Berufung an das Ober- gericht des Kantons Zürich ein. Dieses bestätigte mit Urteil vom 23. Februar 1998 den erstinstanzlichen Schuldspruch und erhöhte die Strafe auf neun Jahre Zuchthaus. P.________ gelangte daraufhin mit kantonaler Nichtigkeitsbeschwerde an das Kassationsgericht des Kantons Zürich und verlangte die Aufhebung des obergerichtlichen Ur- teils bezüglich seiner Verurteilung in einem Anklagepunkt (ND 3), in dem ihm vorgeworfen worden war, zwischen dem 14. und dem 27. Februar 1995 mit Kokain im Umfang von rund drei Kilogramm gehandelt zu haben. Er rügte es als eine Ver- letzung von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK, dass das Obergericht auf die Belastungsaussagen einer Auskunftsperson abgestellt habe, obwohl diese ihre Aussagen in der Konfrontationsein- vernahme mit ihm "mit grundsätzlich nachvollziehbarer Be- gründung ausdrücklich widerrufen" habe. Mit dem Widerruf sei ihm verunmöglicht worden, hinsichtlich der früheren Belastungsaussagen seine Verteidigungsrechte wahrzunehmen, insbesondere Fragen an den Zeugen zu stellen, was zur Un- verwertbarkeit der Belastungsaussagen führen müsse. Das Kassationsgericht wies die Nichtigkeitsbeschwerde am 18. August 1999 ab. B.- Gegen dieses Urteil führt P.________ mit Eingabe vom 4. Oktober 1999 staatsrechtliche Beschwerde wegen Ver- letzung von Art. 4 aBV und von Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. d EMRK. Ausser der Aufhebung des angefochtenen Urteils bean- tragt er, es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Die Staatsanwaltschaft, das Obergericht und das Kassationsgericht haben auf eine Vernehmlassung zur Be- schwerde verzichtet. Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 1.- Die Sachurteilsvoraussetzungen der staatsrechtli- chen Beschwerde sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzu- treten. 2.- a) Der Beschwerdeführer rügt, dass ihm bezüglich des bestrittenen Anklagepunkts das Recht, Fragen direkt an die ihn belastende Person zu stellen, faktisch nicht gewährt wurde bzw. werden konnte. Nachdem die Auskunftsperson ihre Belastungsaussage nicht nur widerrufen, sondern eine affir- mativ, ausführlich und nachvollziehbar begründete Entlas- tungsaussage gemacht habe, sei es für ihn, den Beschwerde- führer, der die Tat stets bestritten habe, nicht mehr zumut- bar gewesen und habe er nicht mehr den geringsten Anlass ge- habt, die früheren Belastungsaussagen als virtuell weiter- bestehend zu hinterfragen. In einer solchen Situation habe von einer - zwingend notwendigen - kontradiktorischen Be- weisabnahmesituation nicht mehr die Rede sein können, wo- durch ihm verunmöglicht worden sei, seine Verteidigungs- rechte tatsächlich wirksam auszuüben. Dies müsse zur Un- verwertbarkeit der Belastungsaussagen führen, unabhängig davon, dass sich Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. d EMRK an die staatlichen Strafbehörden richteten. b) Gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Ange- schuldigte im Strafverfahren Anspruch darauf, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Als Aussagen von Zeugen gelten dabei auch jene von Auskunftspersonen, die wie vor- liegend formell zugelassen sind, dem Gericht zur Kenntnis kommen und von ihm verwendet werden können. Die Garantien von Art. 6 Ziff. 3 EMRK stellen besondere Aspekte des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK dar und wurden bereits aus Art. 4 aBV abgeleitet. Ziel ist es dabei, dem Beschuldigten im Sinne eines fair trials eine angemesse- ne und hinreichende Gelegenheit einzuräumen, eine belastende Aussage zu bestreiten und den entsprechenden Zeugen zu be- fragen, sei es im Zeitpunkt des Zeugnisses selber oder spä- ter. Danach genügt es grundsätzlich, wenn der Beschuldigte im Laufe des ganzen Verfahrens einmal Gelegenheit zum Stel- len von Ergänzungsfragen erhält, sei es vor den Schranken oder aber im Laufe der Untersuchung (BGE 124 I 274 E. 5b S. 284 ff.; 125 I 127 E. 6a und b S. 133). Erforderlich zur Wahrung der Verteidigungsrechte ist, dass die Gelegenheit der Befragung angemessen und ausreichend ist und die Befra- gung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann. Der Beschul- digte muss namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert auf die Probe und in Frage stellen zu können (BGE 125 I 127 E. 6c/ee und ff.). c) Wie das Kassationsgericht zu Recht erkannt hat und unbestritten ist, führt der Widerruf einer Belastungs- aussage im Rahmen einer Konfrontation mit dem Angeschuldig- ten nicht ohne weiteres zur Unverwertbarkeit der früheren Aussage (vgl. Urteil der Bundesgerichts vom 1. November 1994 i.S. N., E. 3, Leitsätze in SZIER 1995, S. 382 f., Ziff. 6.3.10). Welche Bedeutung den ursprünglichen Aus- sagen angesichts des Widerrufs zukommt, ist eine Frage der freien richterlichen Beweiswürdigung, die vom Beschwerde- führer im vorliegenden Verfahren nicht angefochten wurde (vgl. BGE 115 IV 267 E. 1 S. 268 f.). Voraussetzung für die Verwertbarkeit der früheren Aussagen ist im Sinne der vorstehend genannten Rechtsprechung, dass diese dem Belas- tungszeugen anlässlich der Konfrontationseinvernahme vor- gehalten werden, er zu den Widersprüchen - auch zur neuen Aussage - befragt wird und der Angeklagte bzw. sein Ver- teidiger Gelegenheit erhält, Ergänzungsfragen zu stellen, wobei es ihm freisteht, ob er von diesem Recht Gebrauch machen will. Dass diese Voraussetzungen vorliegend nicht erfüllt seien, macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist nicht ersichtlich. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ver- hält es sich nicht grundsätzlich anders, wenn der Zeuge seine ursprüngliche Belastungsaussage mit einer mehr oder weniger ausführlichen Begründung widerruft. Dies hat ein- zig zur Folge, dass auch diese Begründung in die Würdigung der verschiedenen Beweisaussagen einzubeziehen ist (vgl. Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 4. Auf- lage, Basel 1994, § 54 N. 4 f.). Das Kassationsgericht hat zu Recht festgehalten, dass der Beschwerdeführer nach dem Widerruf der früheren Aussagen und seiner völligen Entlas- tung durch die Auskunftsperson in der Konfrontationseinver- nahme nur vordergründig keinen Anlass mehr gehabt habe, Ergänzungsfragen an die Auskunftsperson zu stellen. So habe er jedenfalls nicht einfach davon ausgehen dürfen, dass die nachträgliche (günstigere) Version der Auskunftsperson im Rahmen der Beweiswürdigung von vornherein die massgebliche sein werde und sich damit Ergänzungsfragen an den Mitange- schuldigten erübrigten. Im Hinblick auf die Möglichkeit des Abstellens auf die ursprünglichen Aussagen, hatte der Be- schwerdeführer durchaus Anlass, mit Ergänzungsfragen darauf einzugehen, um deren Glaubwürdigkeit zu erschüttern und die vom Belastungszeugen angeführte Begründung für die Änderung seiner Aussage zu unterstützen. Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, dass es ihm vorliegend aus äusseren Umständen unmöglich gewesen wäre, anlässlich der Konfrontationseinvernahme Fragen an den Belastungszeugen zu stellen. Insbesondere behauptet er nicht und ist aus dem Protokoll der Konfrontationseinver- nahme nicht ersichtlich, dass der Belastungszeuge sich ge- weigert hätte, Fragen zu seinen ursprünglichen Aussagen und für die Gründe seines "Sinneswandels" zu beantworten. Es liegen demnach keine objektiven Gründe vor, aus denen es dem Beschwerdeführer unmöglich gewesen wäre, den Zeugen zu befragen. Vielmehr hat der Beschwerdeführer aufgrund seiner eigenen Einschätzung, es sei nicht mehr erforderlich, Fragen zum Inhalt und zum Zustandekommen der früheren Aussagen zu stellen, vorweg auf eine Befragung verzichtet. Darin liegt kein Fall der Verunmöglichung einer wirksamen Ausübung der Verteidigungsrechte gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Hier, ohne dass der Beschwerdeführer auch nur einen Versuch einer effektiven Ausübung seiner Verteidigungsrechte unternommen hat, eine objektive Unmöglichkeit der wirksamen Ausübung von Verteidigungsrechten anzunehmen und die ursprünglichen Be- lastungsaussagen als unverwertbar zu betrachten, führte dazu, dass es ein Angeschuldigter in der Hand hätte, in ungerechtfertigter Weise das Prinzip der freien richter- lichen Beweiswürdigung hinsichtlich widerrufener Belas- tungsaussagen auszuschalten. Die vom Beschwerdeführer und auch vom Kassations- gericht diskutierte Frage, ob die ursprünglichen Belastungs- aussagen nach der Praxis des Bundesgerichts und des Europäi- schen Gerichtshofs für Menschenrechte trotz der Unmöglich- keit der Befragung des Belastungszeugen ausnahmsweise ver- wertbar seien (vgl. dazu BGE 125 I 127 E. 6c/dd S. 135 f.; 124 I 274 E. 5b S. 285 f., je mit zahlreichen Hinweisen), stellt sich vorliegend nach dem Dargelegten nicht. Sie wäre dann zu prüfen, wenn der Beschwerdeführer von der ihm ein- geräumten Gelegenheit zur Stellung von Ergänzungsfragen tat- sächlich erfolglos Gebrauch gemacht hätte, weil der Zeuge in der Konfrontation jegliche Aussage verweigert hätte. 3.- Nach dem Dargelegten ist die Beschwerde unbegründet und daher abzuweisen. Dem Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist zu entspre- chen, da die in Art. 152 OG genannten Voraussetzungen er- füllt sind. Demnach erkennt das Bundesgericht: 1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 2.- Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt: a) Es werden keine Kosten erhoben; b) Rechtsanwalt Stefan Blum, Zürich, wird als amt- licher Anwalt des Beschwerdeführers bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt. 3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft, dem Obergericht (I. Strafkammer) und dem Kassationsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt. ______________ Lausanne, 2. Februar 2000 Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: