Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1A.120/1999
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1A.120/1999/odi

             I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
             **********************************

                      17. Januar 2000

Es wirken mit: Bundesrichter Aemisegger, Präsident der
I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter Féraud,
Bundesrichter Catenazzi und Gerichtsschreiber Sigg.

                         ---------

                         In Sachen

W.X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechts-
anwältin Lisa Zaugg, Gartenhofstrasse 15, Postfach, Zürich,

                           gegen

Justizdirektion des Kantons  Z ü r i c h, Abteilung
Opferhilfe,
Sozialversicherungsgericht des Kantons  Z ü r i c h,
II. Kammer,

                         betreffend
                    Höhe der Genugtuung,

hat sich ergeben:

     A.- Am 2. November 1994 wurde die schwangere
S.X.________, die Tochter von W.X.________, von ihrem Freund
in der gemeinsamen Wohnung mit mehreren Scheren- und Messer-
stichen getötet. Der Angeschuldigte wickelte die Leiche in
Tücher und Plastikfolie und vergrub sie in einem nahe ge-
legenen Wald. Nachdem er am nächsten Tag die Spuren seiner
Tat in der Wohnung nicht vollständig entfernen konnte,
stellte er sich mit Hilfe seiner Eltern der Polizei. Die
Umstände der Tat weisen offensichtlich darauf hin, dass es
sich um ein Beziehungsdelikt gehandelt hat. Am 21. April
1995 floh der Angeschuldigte aus der Untersuchungshaft; er
konnte bis heute nicht wieder ergriffen werden.

     B.- Am 23. Februar 1995 stellte W.X.________ bei der
Justizdirektion des Kantons Zürich unter anderem ein Gesuch
um Ausrichtung einer Genugtuung von Fr. 100'000.--. Die Jus-
tizdirektion sistierte das Verfahren wegen der Flucht des
Angeschuldigten vom 12. Juli 1995 bis am 1. Juli 1996. Das
Gesuch um Ausrichtung einer Genugtuung wurde im Betrag von
Fr. 25'000.-- gutgeheissen, im Übrigen aber abgewiesen.

     C.- Gegen diese Verfügung erhob W.X.________ Beschwerde
mit dem Antrag, es sei ihr eine Genugtuung in der Höhe von
Fr. 100'000.-- auszurichten. Das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit Urteil vom
8. April 1999 ab.

     D.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 17. Mai 1999
stellt W.X.________ die Anträge, das Urteil des Sozialver-
sicherungsgerichts vom 8. April 1999 sei aufzuheben und ihr

sei eine Genugtuung in der Höhe von Fr. 100'000.-- auszu-
richten. Ausserdem ersucht sie um Gewährung der unentgeltli-
chen Prozessführung.

        Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
verzichtet auf Vernehmlassung. Die kantonale Opferhilfe-
stelle bei der Direktion der Justiz und des Innern des
Kantons Zürich stellt den Antrag, die Beschwerde sei vollum-
fänglich abzuweisen. Das Bundesamt für Justiz nimmt für das
Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement zur Beschwerde
Stellung, ohne einen Antrag zu stellen.

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Das angefochtene Urteil ist ein letztinstanzli-
cher kantonaler Entscheid (Art. 98 lit. g OG) über ein Be-
gehren um Genugtuung nach Art. 12 OHG. Hiergegen ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig
(Art. 97 Abs. 1 OG; BGE 122 II 211 E. 1). Da Art. 12 OHG
einen Anspruch auf Genugtuung vorsieht, kommt der Aus-
schlussgrund von Art. 99 Abs. 1 lit. h OG nicht zur Anwen-
dung (BGE 122 II 211 E. 1b mit Hinweis).

        Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen
Entscheid berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an
dessen Aufhebung oder Änderung. Sie ist nach Art. 103 lit. a
OG zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert. Die übri-
gen Sachurteilsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt. Auf
die vorliegende Beschwerde ist daher einzutreten.

        b) Das Bundesgericht prüft, ob der angefochtene
Entscheid Bundesrecht verletzt und ob die Vorinstanz ihr Er-
messen überschritten oder missbraucht hat (Art. 104 lit. a

OG). Da als Vorinstanz eine richterliche Behörde entschieden
hat, bindet deren Sachverhaltsfeststellung das Bundesge-
richt, sofern das kantonale Gericht den Sachverhalt nicht
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verlet-
zung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 2 OG).

     2.- a) Gemäss Art. 12 Abs. 2 OHG kann dem Opfer unab-
hängig von seinem Einkommen eine Genugtuung ausgerichtet
werden, wenn es schwer betroffen ist und besondere Umstände
es rechtfertigen. Die Beschwerdeführerin ist die Mutter der
von ihrem Freund getöteten S.X.________ und daher Opfer im
Sinne dieser Vorschrift (Art. 2 Abs. 2 lit. c OHG). Es ist
unbestritten, dass die in Art. 12 Abs. 2 OHG genannten
Voraussetzungen für die Ausrichtung einer Genugtuung,
schwere Betroffenheit und besondere Umstände, in Bezug auf
die Beschwerdeführerin gegeben sind. Streitig ist allein die
Höhe der Genugtuungssumme. Die Beschwerdeführerin verlangte
in ihrem an die kantonale Justizdirektion gerichteten Gesuch
einen Betrag von Fr. 100'000.--. Die Justizdirektion sprach
ihr eine Summe von Fr. 25'000.-- zu, und das kantonale Ver-
waltungsgericht schützte als Beschwerdeinstanz diesen Ent-
scheid.

        b) Das Opferhilfegesetz legt in Art. 12 Abs. 2 OHG
die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Genugtuung
fest: Das Opfer muss schwer betroffen sein, und besondere
Umstände müssen die Zusprechung einer Genugtuung rechtferti-
gen. Das Opferhilfegesetz enthält keine Bestimmungen über
die Bemessung der Genugtuung gemäss Art. 12 Abs. 2 OHG.
Diese Leistungen unterscheiden sich zwar in ihrer Rechts-
natur von den zivilrechtlichen Ansprüchen gemäss Art. 47 OR
(vgl. BGE 125 II 169 E. 2b S. 173). Nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts sind jedoch im Bereich der Opferhilfe die
von den Zivilgerichten entwickelten Grundsätze zur Bemessung

der Genugtuung sinngemäss heranzuziehen (BGE 123 II 210
E. b/dd S. 216). Dabei ist allerdings zu beachten, dass es
sich bei der opferrechtlichen Genugtuung um eine staatliche
Leistung handelt (BGE 125 II 169 E. 2b S. 173; 121 II 369
E. 3c/aa S. 373). Das Entschädigungs- und Genugtuungssystem
des Opferhilfegesetzes entspringt dem Gedanken der Hilfe-
leistung, nicht der Staatshaftung (BGE 123 II 425 E. 4c
S. 431).

        c) Die Genugtuungssumme wird geleistet, um einen
immateriellen Schaden annäherungsweise wieder gut zu machen,
obwohl ein solcher Schaden nicht in Geld gemessen werden
kann. Die Bemessung der Genugtuungssumme ist deshalb eine
Entscheidung nach Billigkeit, die von der Würdigung der
massgeblichen Kriterien abhängt. Innerhalb gewisser Grenzen
sind mehrere angemessene, der Billigkeit entsprechende
Lösungen möglich. Den kantonalen Behörden steht ein breiter
Ermessensspielraum zu, den das Bundesgericht zu respektieren
hat. Es darf nur einschreiten, wenn die kantonale Instanz
ihr Ermessen überschritten oder missbraucht hat. Im Zusam-
menhang mit der Bemessung einer Genugtuungssumme greift es
ein, wenn grundlos von den in der Praxis entwickelten Bemes-
sungsgrundsätzen abgewichen wird, wenn Tatsachen berücksich-
tigt werden, die für den Entscheid im Einzelfall keine Rolle
spielen dürfen, oder wenn umgekehrt Umstände ausser Betracht
geblieben sind, die hätten beachtet werden müssen. Es greift
in Ermessensentscheide ein, wenn sich diese als offensicht-
lich unbillig, als in stossender Weise ungerecht erweisen
(vgl. BGE 115 II 30 E. 1b, mit Hinweisen).

        d) Im vorliegenden Fall hat das Sozialversiche-
rungsgericht alle massgeblichen Bemessungskriterien berück-
sichtigt. Es trug der Grausamkeit der Tatumstände ebenso
Rechnung wie auch den Folgen für die Beschwerdeführerin, die
seit der Tat an starken Depressionen leidet und jegliche
Lebensfreude verloren hat. Ebenso hat es das Verhalten des

Angeschuldigten nach der Tat berücksichtigt und festgehal-
ten, dieses zeuge von einer gewissen Rücksichts- und Ein-
sichtslosigkeit, unter der die Beschwerdeführerin zusätzlich
zu leiden habe. Als genugtuungserhöhend würdigte es die
Schwangerschaft der Tochter. Ein erheblicher Umstand, den
das Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt hätte,
ist nicht zu sehen. Soweit die Beschwerdeführerin dies sinn-
gemäss geltend macht, ist ihre Beschwerde unbegründet.

        e) Das Sozialversicherungsgericht bestätigte die
Verfügung der Justizdirektion besonders auch, weil zusätz-
lich berücksichtigt werden müsse, dass die Genugtuungen nach
dem Opferhilfegesetz nicht vom Täter, sondern von der All-
gemeinheit zu bezahlen seien. Die Beschwerdeführerin hält
diesen Gesichtspunkt grundsätzlich für unerheblich; darüber
hinaus kritisiert sie auch dessen Berücksichtigung im vor-
liegenden Fall. Wie bereits festgestellt wurde (oben E. 2b
am Ende), widerspricht indessen dieser Standpunkt der ver-
öffentlichten Rechtsprechung des Bundesgerichts. Es mag zwar
zutreffen, dass der Kanton Zürich eine gewisse Verantwortung
für die Flucht des Täters trägt, weil dieser nach Auffassung
der Beschwerdeführerin unzureichend bewacht wurde; das ist
aber kein Grund, von der Rechtsnatur der Genugtuung im Sinne
des Opferhilfegesetzes im vorliegenden Fall abzusehen. Das
Sozialversicherungsgericht hat somit kein Bundesrecht ver-
letzt, als es bei der Bemessung der Genugtuung nach dem
Opferhilfegesetz ihrer besonderen, vom Zivilrecht abweichen-
den Rechtsnatur Rechnung getragen hat. Die Beschwerde er-
weist sich auch insoweit als unbegründet.

        f) Die Bemessung der Genugtuung und die Gesamtwür-
digung aller dabei erheblichen Umstände fällt - wie eben-
falls bereits dargelegt (oben E. 2c) - weitgehend ins Ermes-
sen der zuständigen kantonalen Behörden. Dem Sozialversiche-
rungsgericht kann in dieser Hinsicht keine Bundesrechtsver-
letzung vorgeworfen werden. Das Sozialversicherungsgericht

hat zwar einen von der Justizdirektion angeführten Herabset-
zungsgrund (die Beschwerdeführerin hatte eine Psychotherapie
vorzeitig wieder abgebrochen) nicht anerkannt; trotzdem
musste sie deswegen den Entscheid der Justizdirektion nicht
ohne weiteres auch im Ergebnis korrigieren. Nach Art. 17 OHG
steht der kantonalen Beschwerdeinstanz eine freie Überprü-
fungsbefugnis zu. Das bedeutet, dass die Rechtsmittelinstanz
auch die Angemessenheit überprüfen kann und gegebenenfalls
ihr Ermessen an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen
darf. Es gibt nicht nur eine richtige Entscheidung, sondern
in einer gewissen Bandbreite eine Mehrzahl von angemessenen,
der Billigkeit entsprechenden Lösungen (BGE 123 II 210
E. 2c). Auch in dieser Hinsicht hat das Sozialversicherungs-
gericht den ihm zustehenden Ermessensspielraum weder über-
noch unterschritten, und die Beschwerde ist insoweit unbe-
gründet.

        g) Die Beschwerde ist schliesslich auch soweit
offensichtlich unbegründet, als die Beschwerdeführerin rügt,
sie sei rechtsungleich behandelt worden. Die Beschwerdefüh-
rerin nennt denn auch ausser dem Attentat von Luxor keine
weiteren Vergleichsfälle aus dem Gebiet des Opferhilfe-
rechts. Das Bundesamt für Justiz weist in seiner Vernehmlas-
sung darauf hin, dass die betroffenen Kantone mit den Opfern
Rahmensätze vereinbart haben, nach welchen Eltern von Opfern
Genugtuungen zwischen Fr. 20'000.-- und Fr. 30'000.-- ausge-
richtet werden. Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerde-
führerin eine Genugtuung von Fr. 25'000.-- zugesprochen,
welche somit den Genugtuungen für die Opfer des Attentats
von Luxor entspricht. Die Rüge der Rechtsungleichheit ist
unbegründet.

     3.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist aus diesen
Gründen abzuweisen.

        Dem Begehren der Beschwerdeführerin um Bewilligung
der unentgeltlichen Rechtspflege kann mit Rücksicht auf die
gesamten Umstände des Falles entsprochen werden (Art. 152
OG). Rechtsanwältin Lisa Zaugg ist als amtliche Anwältin der
Beschwerdeführerin zu bezeichnen und aus der Bundesgerichts-
kasse zu entschädigen.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

     2.- Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche
Rechtspflege gewährt:

        a) Es werden keine Kosten erhoben;

        b) Rechtsanwältin Lisa Zaugg wird als amtliche An-
wältin der Beschwerdeführerin bezeichnet und für das bundes-
gerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem
Honorar von Fr. 1'000.-- entschädigt.

     3.- Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der
Justizdirektion (Abteilung Opferhilfe) und dem Sozialver-
sicherungsgericht (II. Kammer) des Kantons Zürich sowie dem
Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement schriftlich
mitgeteilt.
                       ______________

Lausanne, 17. Januar 2000

      Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
      Der Präsident:           Der Gerichtsschreiber: