Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 23/1998
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K 23/98 Hm

                         I. Kammer

Präsident Lustenberger, Bundesrichter Schön, Spira, Bundes-
richterin Widmer und Bundesrichter Borella; Gerichtsschrei-
ber Attinger

                  Urteil vom 9. Mai 2000

                         in Sachen

Helsana Versicherungen AG, Stadelhoferstrasse 25, Zürich,
Beschwerdeführerin,
                           gegen

S.________, 1923, Beschwerdegegner, vertreten durch Für-
sprecher B.________,

                            und

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

     A.- Der 1923 geborene S.________ leidet an degenerati-
ven Bandscheibenveränderungen in der gesamten Lendenwirbel-
säule. Am 16. August 1996 unterzog er sich in der Klinik
X.________ einer von Dr. M.________, Spezialarzt für Ortho-
pädische Chirurgie, durchgeführten Laserdiskusdekompres-
sions-Behandlung (Diskektomie auf drei Niveaus). Mit Ver-

fügung vom 19. September 1996 lehnte die Artisana Kranken-
und Unfallversicherung (seit 1. Januar 1997: Helsana Ver-
sicherungen AG, nachfolgend: Helsana) eine entsprechende
Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenpflegever-
sicherung ab, weil die Wirksamkeit der genannten Behand-
lungsmethode nach einem Beschluss der Eidgenössischen Leis-
tungskommission vom 29. August 1996 weiterhin als umstrit-
ten gelte. Auf Einsprache von S.________ hin hielt die Hel-
sana an ihrer Leistungsablehnung fest (Einspracheentscheid
vom 22. Januar 1997).

     B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die
dagegen eingereichte Beschwerde mit Entscheid vom 12. De-
zember 1997 gut und verpflichtete die Helsana, die durch
den Eingriff vom 16. August 1996 entstandenen Arzt- und
Spitalkosten zu vergüten. In der Begründung seines Ent-
scheides verneinte das Gericht einen Leistungsanspruch auf
Grund der massgebenden gesetzlichen Bestimmungen; hingegen
bejahte es - insbesondere gestützt auf ein Schreiben des
Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) vom 28. Mai 1996,
welches an einen anderen Patienten von Dr. M.________ ge-
richtet war - die Voraussetzungen für eine vom Gesetz ab-
weichende Behandlung von S.________ nach dem Grundsatz von
Treu und Glauben.

     C.- Die Helsana führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
mit dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entschei-
des.
     Während S.________ auf Abweisung der Verwaltungsge-
richtsbeschwerde schliesst, hat sich das BSV hiezu nicht
vernehmen lassen.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- Im vorliegenden Beschwerdeverfahren geht es um die
Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen.
Die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungs-
gerichts ist daher - entgegen der Auffassung des Beschwer-
degegners - nicht auf die Verletzung von Bundesrecht ein-
schliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens
beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Ange-
messenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist
dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechts-
erheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begeh-
ren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinaus-
gehen (Art. 132 OG).

     2.- Der Grundsatz von Treu und Glauben schützt den
Bürger und die Bürgerin in ihrem berechtigten Vertrauen auf
behördliches Verhalten und bedeutet u.a., dass falsche Aus-
künfte von Verwaltungsbehörden unter bestimmten Vorausset-
zungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung
der Rechtsuchenden gebieten. Gemäss aus Art. 4 Abs. 1 der
Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (aBV) abgeleiteter Recht-
sprechung ist eine falsche Auskunft bindend,
1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug
   auf bestimmte Personen gehandelt hat;
2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft
   zuständig war oder wenn die rechtsuchende Person die
   Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrach-
   ten durfte;
3. wenn die Person die Unrichtigkeit der Auskunft nicht
   ohne weiteres erkennen konnte;
4. wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft
   Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil
   rückgängig gemacht werden können;
5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunfterteilung
   keine Änderung erfahren hat (BGE 121 V 66 Erw. 2a mit
   Hinweisen).

     Auf den 1. Januar 2000 ist die neue Bundesverfassung
vom 18. April 1999 (BV) in Kraft getreten (Art. 1 des ent-
sprechenden Bundesbeschlusses vom 28. September 1999
[AS 1999 2555]). Die - im vorliegenden Zusammenhang inte-
ressierende - Grundrechtsgarantie, von den staatlichen
Organen nach Treu und Glauben behandelt zu werden, wird
nunmehr durch Art. 9 BV gewährleistet. Daneben wurde im zum
Einleitungstitel (mit den allgemeinen Bestimmungen) zählen-
den Art. 5 Abs. 3 BV ein für die gesamte Rechtsordnung im
Sinne einer grundlegenden Handlungsmaxime geltendes Prinzip
von Treu und Glauben verankert (Botschaft über eine neue
Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997 I 134).
Die hievor angeführte Rechtsprechung zum verfassungsrecht-
lichen Vertrauensschutz gilt auch unter der Herrschaft von
Art. 9 BV, weshalb offen bleiben kann, ob im hier zu beur-
teilenden Fall bereits die neue oder noch die alte Bundes-
verfassung anwendbar ist.

     3.- Vorinstanz und Beschwerdegegner bejahen vorliegend
zu Unrecht die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes.

     a) Im Juli 1996 betraute der Beschwerdegegner Fürspre-
cher B.________ mit der Wahrung seiner Interessen (Schrei-
ben des Rechtsvertreters an die Krankenkasse vom 29. Juli
1996). Unter dem Blickwinkel des Vertrauensschutzprinzips
bedeutet dies zum einen, dass sich der Versicherte das Wis-
sen seines Beraters anrechnen lassen muss (BGE 111 Ib 222).
Zum andern ist zu beachten, dass bei einer rechtskundigen
Person strengere Massstäbe anzulegen sind, wenn sie die
Mangelhaftigkeit einer behördlichen Auskunft durch Konsul-
tierung des massgebenden Gesetzestextes erkennen könnte
(BGE 119 V 307 Erw. 3b mit Hinweisen).

     b) Es ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner vom
behandelnden Arzt Dr. M.________ auf die Frage, ob die hier
streitige Laserdiskusdekompressions-Behandlung kassen-
pflichtig sei, eine positive Antwort erhielt, offenbar

gestützt auf eine Auskunft des BSV vom 28. Mai 1996, welche
sich auf einen andern Patienten von Dr. M.________ bezogen
hatte. Sodann steht aber auf Grund des erwähnten Schreibens
von Fürsprecher B.________ vom 29. Juli 1996 auch fest,
dass der Ehefrau des Versicherten von der Geschäftsstelle
I.________ der Krankenkasse "ein gegenteiliger Bericht er-
öffnet wurde", was im Kontext nur so verstanden werden
kann, dass die Geschäftsstelle auf Anfrage hin eine die
Leistungspflicht verneinende Auskunft erteilt hat. Wenn
Fürsprecher B.________ in seinem Schreiben weiter fest-
hielt, es sei "indessen" beim BSV eine Abklärung der Um-
strittenheitsfrage anhängig und laut der genannten (den
andern Patienten des Dr. M.________ betreffenden) Stellung-
nahme des Bundesamtes gehöre die streitige Behandlung bis
zur Klärung dieser Frage zu den Pflichtleistungen, so war
für den Vertreter klar, dass zwischen der auf das BSV-
Schreiben gestützten Auskunft des behandelnden Arztes und
derjenigen der Krankenkassen-Geschäftsstelle ein Wider-
spruch bestand, wobei er davon ausging, dass die Auskunft
des Bundesamtes richtig und diejenige der Krankenkasse
falsch war. Im Bestreben, "die Angelegenheit ... in Ordnung
zu stellen", hat er aber ausdrücklich um eine Kostengut-
sprache der Krankenkasse nachgesucht. Unter diesen Umstän-
den kann nicht gesagt werden, der Beschwerdegegner habe
ohne weiteres auf die Richtigkeit der Auskunft des BSV ver-
trauen dürfen.

     c) Der Vertreter war sich, wie aus seinem Schreiben
vom 29. Juli 1996 hervorgeht, darüber im Klaren, dass es
hier um die Umstrittenheit der fraglichen Behandlung ging.
Hätte er im Hinblick auf den Widerspruch zwischen BSV und
Krankenkassen-Geschäftsstelle die massgebenden Texte kon-
sultiert, hätte sich ergeben, dass umstrittene Leistungen,
deren Wirksamkeit, Zweckmässigkeit oder Wirtschaftlichkeit
sich noch in Abklärung befinden, vom Eidgenössischen Depar-
tement des Innern (EDI) nach Anhören der zuständigen Kom-
mission bezeichnet werden, dies unter Festlegung von Vor-
aussetzungen und Umfang der Kostenübernahme (Art. 33 lit. c

KVV in Verbindung mit Art. 33 Abs. 3 und 5 KVG). Weiter
hätte sich ergeben, dass nach Art. 1 KLV in Anhang 1 dieje-
nigen Leistungen aufgeführt sind, die von der Versicherung
übernommen werden (lit. a), nur unter bestimmten Vorausset-
zungen übernommen werden (lit. b) oder nicht übernommen
werden (lit. c). Aus den einleitenden Bemerkungen des An-
hangs 1 hätte sich überdies ergeben, dass dieser Anhang
- auch wenn er keine abschliessende Aufzählung aller
Pflicht- und Nichtpflichtleistungen enthält - wenigstens
u.a. diejenigen Leistungen enthält, deren Wirksamkeit,
Zweckmässigkeit oder Wirtschaftlichkeit noch abgeklärt
wird, für die jedoch die Kosten unter bestimmten Vorausset-
zungen und in einem festgelegten Umfang übernommen werden
(beschränkter "Ausschluss-" oder "Voraussetzungskatalog":
vgl. Botschaft über die Revision der Krankenversicherung
vom 6. November 1991, BBl 1992 I 159 f.). Und aus der Liste
im Anhang 1 selbst wäre schliesslich ersichtlich gewesen,
dass die Laserdiskusdekompressions-Behandlung damals (Stand
1996) nicht aufgeführt war (per 1. Januar 1997 ist sie nun-
mehr in Ziff. 2.3 aufgenommen worden, wobei eine Leistungs-
pflicht verneint wird).
     Angesichts dieser Normenlage hätte der Beschwerdegeg-
ner ebenfalls nicht einfach davon ausgehen dürfen, dass die
(für ihn günstigere) BSV-Auskunft zutrifft. Wenn er schon
auf Grund der in Erw. 3b hievor erwähnten unterschiedlichen
Auffassung von BSV und Krankenkassen-Geschäftsstelle nicht
auf die Richtigkeit der Auskunft des Bundesamtes vertrauen
durfte, so hätte dies umso weniger der Fall sein können,
wenn er die relevanten Texte konsultiert hätte. Diesfalls
hätte er vielmehr erkennen müssen, dass die Aussage des
BSV, wonach die fragliche Behandlung zu den Pflichtleistun-
gen gehöre, "solange die Umstrittenheitsfrage nicht geklärt
ist", weder im KVG noch in der KVV oder KLV eine Stütze
findet (vgl. BGE 125 V 28 Erw. 5; RKUV 1999 Nr. KV 94
S. 499 Erw. 1).

     d) Der Beschwerdegegner hat mit dem erwähnten Schrei-
ben vom 29. Juli 1996 ausdrücklich ein Kostengutsprache-
gesuch gestellt. Ohne die Klärung der strittigen Frage
abzuwarten, unterzog er sich am 16. August 1996 der Diskek-
tomie-Operation nach der streitigen Behandlungsart. Inso-
fern war die Frage, welche Auskunft richtig oder falsch
war, gar nicht entscheidend für die getroffene Disposition,
weshalb der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen Aus-
kunft und Disposition nicht gegeben ist (BGE 121 V 67
Erw. 2b).

     e) Wenn es dergestalt an der dritten und vierten Vor-
aussetzung für den Vertrauensschutz (Erw. 2 hievor) ge-
bricht, brauchen die übrigen Erfordernisse nicht näher
geprüft zu werden. Immerhin sei angefügt, dass es problema-
tisch erscheint, eine Krankenkasse für eine falsche Aus-
kunft einstehen zu lassen, die gar nicht sie, sondern eine
Drittperson erteilt hat (vorbehalten bleiben jene Fälle, in
denen Dritte im Auftrag und unter der Verantwortung einer
Verwaltungsstelle falsche Auskünfte erteilen [BGE 111 V 72,
vgl. auch BGE 111 V 171 Erw. 5c]).

     Demnach erkennt des Eidg. Versicherungsgericht:

  I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
     der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
     vom 12. Dezember 1997 aufgehoben.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsge-
     richt des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
     Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
     zugestellt.

Luzern, 9. Mai 2000
                                  Im Namen des
                      Eidgenössischen Versicherungsgerichts
                          Der Präsident der I. Kammer:

                              Der Gerichtsschreiber: