Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 609/1998
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I 609/98 Vr

                         I. Kammer

Präsident Lustenberger, Bundesrichter Schön, Borella,
Bundesrichterin Leuzinger und nebenamtlicher Richter
Maeschi; Gerichtsschreiber Schürer

                Urteil vom 19. Oktober 2000

                         in Sachen

F.________, 1974, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechts-
anwältin Karin Caviezel, Belmontstrasse 1, Chur,

                           gegen

IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, Chur,
Beschwerdegegnerin,
                            und

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

     A.- F.________, geboren 1974, bezog gemäss Verfügung
der Ausgleichskasse Textil vom 7. Juli 1994 ab 1. Juni 1993
eine halbe Invalidenrente (Invaliditätsgrad 50 %). Seit
6. Juni 1994 arbeitete er bei der P.________ AG (Vollpen-
sum). Im Rahmen einer Rentenrevision verfügte die IV-Stelle
Graubünden am 23. September 1997 die Einstellung der Ren-
tenleistungen ab 1. Juni 1994 (Invaliditätsgrad 4,80 %) und
stellte den Erlass einer Rückforderungsverfügung in Aus-
sicht. Am 27. Oktober 1997 verfügte sie sodann die Rück-
forderung im Betrag von Fr. 21'698.- (Rentenleistungen vom

1. Juni 1994 bis 28. Februar 1997). F.________ focht beide
Verfügungen mit Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kan-
tons Graubünden an. Die gegen die Verfügung vom 23. Septem-
ber 1997 erhobene Beschwerde wurde mit in Rechtskraft er-
wachsenem Entscheid vom 30. Januar 1998 abgewiesen.

     B.- Die Beschwerde gegen die Rückforderungsverfügung
vom 27. Oktober 1997 wies das Verwaltungsgericht des Kan-
tons Graubünden mit Entscheid vom 2. Oktober 1998 ab.

     C.- F.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit
dem Begehren um Aufhebung des Entscheids vom 2. Oktober
1998 und der Verfügung vom 27. Oktober 1997. Eventualiter
wird die Beschränkung der Rückforderung auf die ab Septem-
ber 1996 ausbezahlten Rentenbeträge beantragt. Sodann er-
sucht F.________ um Gewährung der unentgeltlichen Verbei-
ständung sowie um Erteilung der aufschiebenden Wirkung.
     Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungs-
gerichtsbeschwerde und des Gesuchs um Gewährung der auf-
schiebenden Wirkung. Das Bundesamt für Sozialversicherung
hat keine Vernehmlassung eingereicht.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) In formellrechtlicher Hinsicht beantragt der
Beschwerdeführer, der Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei die
aufschiebende Wirkung zu erteilen. Weil der angefochtene
Entscheid zu einer Geldleistung verpflichtet (BGE 110 V 43,
109 V 231) und der Beschwerde gegen solche Verfügungen von
Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zukommt (Art. 111
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 132 OG), erweist sich das
Begehren als gegenstandslos.

     b) Soweit die Verwaltung unter Hinweis auf Art. 97
Abs. 2 AHVG in Verbindung mit Art. 81 IVG daran festhält,
dass der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu entziehen

sei, kann ihr nicht gefolgt werden. Zwar hat die IV-Stelle
einer allfälligen Beschwerde gegen die Verfügung vom
27. Oktober 1997 die aufschiebende Wirkung entzogen. Im
kantonalen Beschwerdeverfahren hat sie sich mit der vom
Beschwerdeführer beantragten Wiederherstellung der auf-
schiebenden Wirkung für die Dauer des kantonalen Verfahrens
indessen einverstanden erklärt, wovon die Vorinstanz in
ihrem Entscheid Vormerk genommen hat. Unter diesen Umstän-
den kann sich lediglich die Frage stellen, ob der Verwal-
tungsgerichtsbeschwerde die aufschiebende Wirkung entzogen
werden kann, was nach dem Gesagten zu verneinen ist. Hieran
ändert nichts, dass die IV-Stelle im kantonalen Beschwerde-
verfahren beantragt hat, bei Abweisung der Beschwerde sei
die aufschiebende Wirkung wieder zu entziehen. Zu einer
entsprechenden Anordnung wäre die Vorinstanz gar nicht
befugt gewesen.

     2.- a) Materiell ist streitig, ob der Beschwerdeführer
die unbestrittenermassen zu Unrecht bezogenen Invaliden-
renten für die Zeit von Juni 1994 bis Februar 1997 im Ge-
samtbetrag von Fr. 23'380.-, abzüglich Quellensteuern in
Höhe von Fr. 1682.-, somit Fr. 21'698.-, zurückzuerstatten
hat.

     b) Der Beschwerdeführer bestreitet, die Meldepflicht
im Zusammenhang mit der im Juni 1994 aufgenommenen Erwerbs-
tätigkeit schuldhaft verletzt zu haben. Die Rentenverfügung
sei am 7. Juli 1994 ergangen, und seither habe keine Ände-
rung in der Berufstätigkeit stattgefunden. Dies trifft zwar
zu. Dem Beschwerdeführer musste aufgrund der ihm kurz nach
Aufnahme der Erwerbstätigkeit zugestellten Verfügung und
des im Beiblatt zur Verfügung enthaltenen Hinweises auf die
Meldepflicht jedoch bewusst sein, dass die Tatsache des
Stellenantritts am 6. Juni 1994 einen meldepflichtigen
Sachverhalt bildete, von welchem die Verwaltung keine
Kenntnis hatte. Insbesondere im Hinblick darauf, dass die
Invalidenversicherungs-Kommission laut Verfügung vom

7. Juli 1994 den Invaliditätsgrad auf 50 % festgesetzt
hatte, wäre er aufgrund der Hinweise im Beiblatt zur Ver-
fügung gehalten gewesen, die Verwaltung unmittelbar nach
Erhalt der Verfügung im Juli 1994 über die Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit ins Bild zu setzen. Hieran ändert - ent-
gegen den Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
- nichts, dass die Verfügung vom 7. Juli 1994 keinen Ein-
kommensvergleich enthielt.

     c) Umstritten ist des Weiteren, ob der Rückforderungs-
anspruch von der Verwaltung nach Art. 47 Abs. 2 AHVG recht-
zeitig geltend gemacht wurde. Auszugehen ist davon, dass
die IV-Stelle aufgrund des Fragebogens "Rentenrevision" am
5. August 1996 davon Kenntnis erhalten hat, dass der Be-
schwerdeführer bei der P.________ AG einer Erwerbstätigkeit
nachging. Im November 1996 nahm die Verwaltung nähere
Abklärungen vor, indem sie einen IK-Zusammenruf anordnete
und dem Arbeitgeber einen Fragebogen zustellte, welcher am
7. März 1997 beantwortet wurde und aus dem sich ergab, dass
der Beschwerdeführer ab Juni 1994 vollzeitlich gearbeitet
hatte.

     d) Kenntnis vom Rückforderungsanspruch im Sinne von
Art. 47 Abs. 2 AHVG hat die Verwaltung, wenn ihr alle im
konkreten Einzelfall erheblichen Umstände zugänglich sind,
aus deren Kenntnis sich der Rückforderungsanspruch dem
Grundsatz nach und in seinem Ausmass gegenüber einem
bestimmten Rückerstattungspflichtigen ergibt. Es genügt
praxisgemäss nicht, dass der Kasse bloss Umstände bekannt
sind, die möglicherweise zu einem Rückforderungsanspruch
führen können, oder dass der Anspruch nur dem Grundsatz
nach, nicht aber in masslicher Hinsicht feststeht (BGE 112
V 181 f.). Der Auffassung des Beschwerdeführers, wonach die
IV-Stelle schon aufgrund seines Hinweises auf den Arbeit-
geber im Fragebogen "Rentenrevision" vom 5. August 1996
Kenntnis vom Rückforderungsanspruch erhalten habe, kann im
Lichte dieser Rechtsprechung nicht gefolgt werden. Denn es

stand in diesem Zeitpunkt ein Rückforderungsanspruch weder
in grundsätzlicher noch in masslicher Hinsicht fest.

     e) Andererseits kann der Auffassung von IV-Stelle und
Vorinstanz nicht beigepflichtet werden, wonach die IV-
Stelle erst mit dem Erhalt des Arbeitgeberformulars im März
1997 in einer für die Auslösung der einjährigen Verwir-
kungsfrist von Art. 47 Abs. 2 AHVG relevanten Weise Kennt-
nis vom Rückforderungsanspruch erhalten habe. Denn massge-
bend für die Auslösung der einjährigen Verwirkungsfrist ist
der Zeitpunkt, in dem die Verwaltung bei Beachtung der ihr
zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die
Voraussetzungen für eine Rückforderung gegeben waren (BGE
110 V 305 Erw. 2b). Allenfalls noch erforderliche Abklärun-
gen hat sie innert angemessener Zeit vorzunehmen. Unter-
lässt sie dies, ist der Beginn der Verwirkungsfrist auf den
Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die Verwaltung ihre un-
vollständige Kenntnis mit dem erforderlichen und zumutbaren
Einsatz so zu ergänzen im Stande war, dass der Rückforde-
rungsanspruch verfügungsweise hätte geltend gemacht werden
können (BGE 112 V 182 Erw. 4b).

     f)  Vorliegend hat die Verwaltung im Anschluss an die
Mitteilung des Beschwerdeführers vom 3. August 1996 (bei
der IV-Stelle eingegangen am 5. August 1996), wonach er -
nach vorausgegangener Arbeitslosigkeit - bei der Firma
P.________ AG arbeite, im November 1996 ergänzende Abklä-
rungen getroffen, indem sie einerseits einen IK-Zusammenruf
veranlasst und andererseits dem Arbeitgeber am 16. November
1996 einen Fragebogen zugestellt hat. Damit ist sie der
Pflicht, die noch erforderlichen Abklärungen innert ange-
messener Frist vorzunehmen, nachgekommen. Praxisgemäss ist
- wie unter lit. d in fine hievor dargelegt - der Beginn
der einjährigen Verwirkungsfrist auf den Zeitpunkt festzu-
setzen, bis zu welchem die Verwaltung ihre Kenntnis mit dem
erforderlichen und zumutbaren Einsatz so ergänzen kann,
dass der Rückforderungsanspruch die nötige Bestimmtheit

erlangt und der Erlass einer Verfügung möglich ist (BGE 112
V 182 Erw. 4b). Indem die IV-Stelle im November 1996, also
innerhalb weniger Monate nach Eingang der Mitteilung des
Beschwerdeführers vom 3. August 1996, die erforderlichen
ergänzenden Abklärungen für die Konkretisierung des Rück-
forderungsanspruchs an die Hand nahm, hat sie den ihr zuzu-
billigenden zeitlichen Rahmen nicht überschritten. Die ein-
jährige Verwirkungsfrist von Art. 47 Abs. 2 AHVG begann
somit frühestens im November 1996 zu laufen, sodass sich
die Rückforderung vom 27. Oktober 1997 als rechtzeitig er-
weist.

     3.- Der Beschwerdeführer äussert sich in der Verwal-
tungsgerichtsbeschwerde zur Frage des Erlasses der Rück-
forderung (Art. 47 Abs. 1 AHVG). Darauf ist vorliegend
nicht einzutreten, da diesbezüglich zuerst die IV-Stelle zu
verfügen hat.

     4.- Da die Voraussetzungen von Art. 152 OG erfüllt
sind, kann dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen
Verbeiständung entsprochen werden. Der Betrag von
Fr. 1461.50 gemäss Honorarnote vom 11. März 1999 ist
angemessen. Der Beschwerdeführer wird indessen darauf
hingewiesen, dass er gemäss Art. 152 Abs. 3 OG der Ge-
richtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn er dazu
später im Stande ist.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung
     wird Rechtsanwältin Karin Caviezel für das Verfahren
     vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
     Entschädigung (einschliesslich Mehrwertsteuer) von
     Fr. 1461.50 ausgerichtet.

 IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungs-
     gericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für
     Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 19. Oktober 2000

                    Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
            Der Präsident der I. Kammer:

              Der Gerichtsschreiber: