Sozialrechtliche Abteilungen I 414/1998
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 1998
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 1998
I 414/98 Ge IV. Kammer Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger; Gerichtsschreiberin Riedi Hunold Urteil vom 16. Februar 2000 in Sachen H.________, 1948, Beschwerdeführerin, vertreten durch die X.________, Fachstelle für Sozialversicherungsfragen und Arbeitsrecht, gegen IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, Frauenfeld, Beschwerdegegnerin, und AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden A.- H.________ (geboren 1948) wurde ab Dezember 1990 auf Grund einer pathologischen Schenkelhalsfraktur infolge eines Enchondroms mit maligner Entartung zu einem hoch differenzierten Chondrosarkom behandelt. Als Folge davon ist sie gehbehindert und kann ihre linke Hüfte nicht mehr voll belasten. Nach der Schenkelhalsfraktur vom Dezember 1990 musste sie ihre Arbeit bei der Firma S.________ als Gruppenleiterin und Spritzlackiererin aufgeben. H.________ bezog ab 1. Dezember 1991 eine halbe Invalidenrente. Sie war von Oktober 1991 bis Januar 1993 in ihrem angestammten Betrieb teilzeitlich als Hilfsarbeiterin tätig. Anlässlich einer Operation vom 15. März 1993 wurde ihr eine Hüftge- lenktotalprothese eingesetzt. Von 1. März 1993 bis 31. Au- gust 1995 wurde H.________ bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Rente ausgerichtet, danach wieder eine halbe Rente bei einem Invaliditätsgrad von 51 % (Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 4. Juli 1995). Seit dem 1. April 1995 arbeitet sie teilzeitlich (im Umfang von rund 50 % einer Vollzeitbeschäftigung) im Stundenlohn bei der C.________. Mit Gesuch vom 3. März 1996 beantragte sie die Erhöhung ihrer halben Invalidenrente auf eine ganze Rente. Als Grund gab sie die Verschlechterung ihres Gesund- heitszustandes an. H.________ musste sich im März 1996 einer Knie- operation unterziehen und aus gesundheitlichen Gründen ihr Arbeitspensum reduzieren. Gemäss Bericht des praktischen Arztes L.________, vom Januar 1997 hat sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert: Die Versicherte leide an starken Schmerzen in den Knien, der linken Hüfte und dem rechten Ellenbogen sowie an vermehrten Schmerzen im Rücken und in den Fingergelenken. Zudem ermüde sie schnell. Ein psychisches Leiden mit Krankheitswert bestehe jedoch nicht. Mit Verfügung vom 3. November 1997 lehnte die IV-Stel- le gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 65 % die Erhö- hung der halben auf eine ganze Invalidenrente ab. B.- H.________ liess hiegegen Beschwerde einreichen und die Ausrichtung einer ganzen anstelle der halben Invalidenrente beantragen. Sie machte geltend, dass das hypothetische Einkommen ohne Invalidität unter Berücksich- tigung der Teuerung höher und das zumutbare Einkommen mit Invalidität tiefer liege, als von der Verwaltung angenom- men. Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau wies die Beschwerde mit Entscheid vom 13. August 1998 ab. C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt H.________ das vorinstanzliche Begehren um Erhöhung der halben auf eine ganze Invalidenrente erneuern. Die IV-Stelle beantragt Abweisung der Verwaltungsge- richtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 1.- Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprü- fungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sach- verhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG). 2.- Im angefochtenen Entscheid sind die vorliegend massgebenden Bestimmungen und Grundsätze über den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG und Art. 25 Abs. 1 IVV) sowie die Revision der Invalidenrente (Art. 41 IVG) und die hiebei zu vergleichenden Sachverhalte (BGE 109 V 265 Erw. 4, 106 V 87 Erw. 1a, 105 V 30) zutref- fend dargelegt. Hierauf kann verwiesen werden. 3.- a) Streitig ist, ob im Zeitraum zwischen dem 4. Juli 1995 (Herabsetzung der zuvor gewährten ganzen auf eine halbe Invalidenrente) und dem 3. November 1997 (Ab- lehnung einer revisionsweisen Erhöhung der halben auf eine ganze Rente) eine Änderung in den tatsächlichen Verhält- nissen eingetreten ist, welche die Erhöhung der halben auf eine ganze Rente rechtfertigt. b) Der Verfügung vom 4. Juli 1995 war eine Restar- beitsfähigkeit von 70 % zu Grunde gelegt worden. Gemäss verschiedenen neueren ärztlichen Attesten ist von einer verbleibenden Arbeitsfähigkeit von etwa 50 % bei leichter körperlicher Tätigkeit auszugehen (Berichte des praktischen Arztes L.________ vom 26. Juli 1996 und vom Januar 1997; Bericht des Dr. F.________, Facharzt für Orthopädische Chi- rurgie, vom 13. März 1996). Ein psychisches Leiden mit Krankheitswert besteht im hier massgebenden Zeitraum nicht (Bericht des praktischen Arztes L.________ vom Januar 1997); hieran vermag auch der Bericht des Dr. J.________, Psychiater, vom 22. Februar 1995 nichts zu ändern, zumal dieser der Beschwerdeführerin ein besserungsfähiges psychisches Leiden attestierte, seine Angaben aus der Zeit vor der Herabsetzungsverfügung vom 4. Juli 1995 stammen und der praktische Arzt L.________ in seinem späteren, im Zusammenhang mit dem Revisionsgesuch erstellten Bericht vom Januar 1997 ausführt, es bestehe kein psychisches Leiden mit Krankheitswert. Allerdings hat sich der physische Gesundheitszustand der Versicherten seit Juli 1995 verschlechtert, wie sich insbesondere aus dem Bericht des praktischen Arztes L.________ vom Januar 1997 ergibt. Zu prüfen bleibt, wie sich die Verschlechterung des Gesund- heitszustandes und die Zunahme der Arbeitsunfähigkeit in erwerblicher Hinsicht auswirken. c) Bezüglich des hypothetischen Einkommens ohne Inva- lidität (Valideneinkommen) kann auf den Lohn abgestellt werden, den die Beschwerdeführerin bei der Firma S.________ verdient hat. Dieser belief sich gemäss Auskunft der frühe- ren Arbeitgeberfirma im Zeitpunkt der Auskunft ohne Gesund- heitsschaden auf "ca. Fr. 4'300.--" (Auskunft vom 20. Sep- tember 1993) bzw. "Fr. 4'350.--" (Auskunft vom 5. Januar 1993) pro Monat. Da die Auskunft vom 20. September 1993 lediglich eine ungefähre Angabe darstellt, jene vom 5. Ja- nuar 1993 jedoch ohne Vorbehalt erfolgte, ist auf letztere abzustellen. Die Beschwerdeführerin hatte jeweils Anspruch auf einen 13. Monatslohn. Demnach hätte ihr Valideneinkom- men im Jahr 1993 Fr. 56'550.-- betragen. Unter Berücksich- tigung der Teuerung von 2.6 % im Jahr 1993, von 1.5 % im Jahr 1994 und von 1.3 % im Jahr 1995 (Die Volkswirtschaft, 1998, Heft 1, Anhang S. 28, Tabelle B 10.2) ergibt dies ein mutmassliches Valideneinkommen von Fr. 59'656.-- für das Jahr 1996. d) Hinsichtlich des Invalideneinkommens ist zu beach- ten, dass die Beschwerdeführerin seit 1. April 1995 bei derselben Firma tätig ist. Es handelt sich somit um ein stabiles Arbeitsverhältnis. Gemäss Bericht der Berufsbera- terin des Amtes für AHV und IV des Kantons Thurgau vom 28. April 1995 ist die Versicherte an dieser Arbeitsstelle im Rahmen des Möglichen integriert; es dürfe als Glücksfall bezeichnet werden, dass eine Eingliederung in diesem Aus- mass gelungen sei. Es kann deshalb davon ausgegangen wer- den, dass die Beschwerdeführerin an ihrer Arbeitsstelle bei der C._________, ihre Restarbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise ausschöpft. Der erzielte Lohn entspricht der erbrachten Leistung und enthält keine Soziallohnkomponente (Auskunft der Firma C.________ vom 24. Juli 1997). Unter diesen Voraussetzungen - Vorliegen eines stabilen Arbeitsverhältnisses, Ausschöpfung der zumutbaren Restarbeitsfähigkeit und Aus- richtung eines der Leistung entsprechenden Lohnes - kann praxisgemäss auf eine Bezugnahme auf den allgemeinen Ar- beitsmarkt verzichtet werden (BGE 117 V 17 ff. Erw. 2 c aa). e) Infolge des verschlechterten physischen Gesund- heitszustandes musste die Beschwerdeführerin ihr Arbeits- pensum reduzieren. Dementsprechend verringerte sich das auf Stundenlohnbasis erzielte Einkommen: 1995 weist die Versi- cherte für die Monate April bis Dezember ein durchschnitt- liches Monatseinkommen von Fr. 1'682.-- auf, im Jahr 1996 ein solches von Fr. 1'313.25 und in den Monaten Januar bis Juli 1997 nur noch ein solches von Fr. 1'234.30 (jeweils ohne Anteil Gratifikation; vgl. Auskunft der Firma C.________ vom 24. Juli 1997). Als Invalideneinkommen kann demzufolge der im Jahr 1996 erzielte Lohn von Fr. 17'059.-- (inkl. Gratifikation) herangezogen werden. f) Ein Vergleich des massgebenden Valideneinkommens von Fr. 59'656.-- und des zumutbaren Invalideneinkommens von Fr. 17'059.-- ergibt einen Invaliditätsgrad von rund 71 %. Die Beschwerdeführerin hat demnach zufolge Ver- schlechterung des Gesundheitszustandes Anspruch auf revi- sionsweise Erhöhung der halben auf eine ganze Invaliden- rente. Gemäss den Berichten des praktischen Arztes L.________ vom 26. Juli 1996 und vom Januar 1997 ist die Zunahme der Arbeitsunfähigkeit per 1. März 1996 eingetreten. In Anwendung von Art. 88a Abs. 2 IVV ist der Versicherten ab 1. Juni 1996 eine ganze Rente auszurichten. Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wer- den der Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kan- tons Thurgau vom 13. August 1998 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 3. November 1997 aufgehoben, und es wird festgestellt, dass die Be- schwerdeführerin ab 1. Juni 1996 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente hat. II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. III. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau hat der Beschwerde- führerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu be- zahlen. IV. Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau wird über die Parteikosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Pro- zesses zu befinden haben. V. Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurs- kommission des Kantons Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialver- sicherung zugestellt. Luzern, 16. Februar 2000 Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: