Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 297/1998
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I 297/98 Vr

                        III. Kammer

Bundesrichter Schön, Spira und Ursprung; Gerichtsschreiber
Hadorn

                 Urteil vom 22. Juni 2001

                         in Sachen

F.________, 1962, Beschwerdeführerin, vertreten durch
Rechtsanwalt Hans Schmidt, Ulrichstrasse 14, 8032 Zürich,

                           gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17,
8005 Zürich, Beschwerdegegnerin,

                            und

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

     A.- Mit Verfügung vom 9. August 1994 lehnte die Aus-
gleichskasse des Kantons Zürich ein erstes Gesuch der 1962
geborenen F.________ um Zusprechung einer Invalidenrente
ab. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
(Entscheid vom 15. November 1996) und das Eidgenössische
Versicherungsgericht (Urteil vom 17. Juli 1997) bestätigten
diese Verfügung.

     B.- Am 25. August 1997 meldete sich F.________ erneut
zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich
holte einen Bericht von Frau Dr. med. M.________, FMH für
orthopädische Chirurgie, vom 2. September 1997 ein und
erliess am 15. September 1997 einen ablehnenden Vorbe-
scheid. Hiezu nahm F.________ am 1. Oktober 1997 Stellung.
Mit Verfügung vom 29. Oktober 1997, welche die Begründung
des Vorbescheides unverändert übernahm, lehnte die IV-
Stelle das Leistungsgesuch ab.

     C.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozial-
versicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom
29. Mai 1998 ab.

     D.- F.________ liess Verwaltungsgerichtsbeschwerde
führen und beantragen, die Sache sei "zur rechtskonformen
Abklärung und Zusprechung einer Invalidenrente" an die
IV-Stelle zurückzuweisen.
     Die IV-Stelle schloss auf Abweisung der Verwaltungsge-
richtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversiche-
rung sich nicht vernehmen liess.

     E.- Das Eidgenössische Versicherungsgericht holte eine
Auskunft beim kantonalen Gericht ein, führte einen zweiten
Schriftenwechsel durch und liess eine postalische Abklärung
vornehmen. Die Parteien erhielten Gelegenheit, sich zu den
Ergebnissen dieser Ermittlungen zu äussern. Darauf wird in
den Erwägungen näher eingegangen.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- Die Beschwerdeführerin rügt eine mehrfache Verlet-
zung des rechtlichen Gehörs. Zum einen habe die IV-Stelle
dieses verletzt, indem sie in der Verfügung nicht auf die
im Rahmen des Vorbescheidverfahrens vorgebrachten Einwände
Bezug genommen habe. Sodann hätten weder Vorbescheid noch

Verfügung einen Hinweis darauf enthalten, dass bei Dr. med.
M.________ ein Bericht eingeholt worden sei. Da im kanto-
nalen Prozess kein zweiter Schriftenwechsel durchgeführt
worden sei, habe die Beschwerdeführerin erst durch den Ent-
scheid der Vorinstanz von diesem ärztlichen Bericht erfah-
ren. Das kantonale Gericht habe das rechtliche Gehör zudem
dadurch verletzt, dass es einzig auf den erwähnten Bericht
abgestellt und die beantragte Beiziehung eines im Ent-
scheidzeitpunkt noch nicht fertig erstellten Gutachtens der
Unfallversicherung abgelehnt habe. Nachträglich habe sich
zudem ergeben, dass die Stellungnahme der Beschwerdeführe-
rin vom 1. Oktober 1997 zum Vorbescheid weder von der IV-
Stelle noch von der Vorinstanz zur Kenntnis genommen oder
akturiert worden sei, woraus sich die Verletzung weiterer
verfahrensrechtlicher Grundsätze ergebe.

     2.- Anhand der Akten sowie der vom Eidgenössischen
Versicherungsgericht vorgenommenen Abklärungen lässt sich
Folgendes festhalten: Am 15. September 1997 erliess die IV-
Stelle ihren ablehnenden Vorbescheid. Auf diesen reagierte
die Beschwerdeführerin mit eingeschrieben versandter Ant-
wort vom 1. Oktober 1997. Diese gelangte gemäss postali-
scher Bestätigung am folgenden Tag, dem 2. Oktober 1997, in
die Hand der IV-Stelle. Darin wies die Beschwerdeführerin
darauf hin, dass in Zusammenarbeit mit der beteiligten Un-
fallversicherung ein Gutachten von PD Dr. med. L.________,
Spezialarzt FMH für Orthopädische Chirurgie und Konsiliar-
arzt am Spital X.________ erstellt werde, das vor Erlass
einer Verfügung abgewartet werden sollte. Überdies lag dem
Brief vom 1. Oktober 1997 gemäss dessen Text mindestens ein
Zeugnis von Dr. M.________ bei.
     Was mit diesem Schreiben und seinen Beilagen weiter
geschah, war nicht exakt zu eruieren. Fest steht, dass sich
im Dossier der IV-Stelle keine entsprechenden Aktenstücke
finden. Die Vorinstanz hat das Schreiben im Zeitpunkt der
Urteilsfällung ebenfalls nicht gekannt, führt sie doch in
Erwägung 1b auf Seite 4 ihres Entscheides aus, innert der

mit Vorbescheid vom 15. September 1997 angesetzten Frist
sei weder zu den Akten noch zur vorgesehenen Verfügung
Stellung genommen worden. Indessen ist das Schreiben vom
1. Oktober im Laufe des Verwaltungsgerichtsbeschwerdever-
fahrens mit den übrigen Akten von der Vorinstanz an das
Eidgenössische Versicherungsgericht weitergeleitet und
zusammen mit zusätzlichen Belegen erstmals von der Kanzlei
dieses Gerichts akturiert worden. Auf Nachfrage, wie diese
Unterlagen in das vorinstanzliche Dossier gelangt seien,
antwortete das kantonale Gericht, bei der Urteilsfindung
hätten ihm die erwähnten Aktenstücke offensichtlich nicht
vorgelegen. Es sei nicht mit letzter Sicherheit zu rekon-
struieren, auf welche Weise die vormals nicht vorhandenen
Akten in das Dossier Eingang gefunden hätten.

     3.- a) In BGE 124 V 180 hat das Eidgenössische Versi-
cherungsgericht mit einlässlicher Begründung erkannt, dass
die IV-Stelle sich nicht darauf beschränken darf, die Ein-
wände von Versicherten im Vorbescheidverfahren zur Kenntnis
zu nehmen und zu prüfen, sondern in der ablehnenden Verfü-
gung die Gründe angeben muss, weshalb sie diesen nicht
folgt oder sie nicht berücksichtigen kann (a.a.O., S. 183
Erw. 2b). Dem hat die IV-Stelle nicht nachgelebt: sie hat
in ihrer Verfügung mit keinem Wort angegeben, weshalb sie
die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Einwände ver-
worfen hat. Die Vorinstanz hat sodann die bereits im kanto-
nalen Verfahren geltend gemachte Verletzung des rechtlichen
Gehörs mit der nach dem Gesagten unzutreffenden Begründung
verneint, die Beschwerdeführerin habe sich zum Vorbescheid
nicht vernehmen lassen, und sich überdies ebenfalls nicht
zu den im Schreiben vom 1. Oktober 1997 vorgetragenen Ein-
wendungen geäussert. Damit liegen mehrere Verletzungen des
rechtlichen Gehörs vor.

     b) Nach der Rechtsprechung kann eine nicht besonders
schwer wiegende (BGE 124 V 183 Erw. 4a mit Hinweisen) Ver-
letzung des rechtlichen Gehörs als geheilt gelten, wenn die

betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer
Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt
wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Die Heilung eines
allfälligen Mangels soll aber die Ausnahme bleiben (BGE 124
V 183 Erw. 4a in fine mit Hinweisen). Vorliegend haben je-
doch Verwaltung und Vorinstanz beide das rechtliche Gehör
verletzt. Dazu kommt, dass der Bericht von Frau Dr.
M.________ vom 2. September 1997, auf welchen sich die
IV-Stelle ausschliesslich stützt, durch die "Gegendarstel-
lung" der selben Ärztin vom 11. Juni 1998 erheblich an
Überzeugungskraft verloren hat. Angesichts derart vieler
Mängel ist im vorliegenden Verfahren keine Heilung möglich
(vgl. BGE 124 V 183 Erw. 4b). Die Sache wird daher an die
IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie unter Berücksichtigung
der in der Zwischenzeit ergangenen medizinischen Akten,
insbesondere des Gutachtens von Dr. L.________ vom
24. August 1998, nochmals ein Vorbescheidverfahren durch-
führe und hernach über das Leistungsgesuch der Versicherten
neu verfüge.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wer-
     den der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des
     Kantons Zürich vom 29. Mai 1998 und die angefochtene
     Verfügung vom 29. Oktober 1997 aufgehoben, und die
     Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurück-
     gewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat der Beschwerde-
     führerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
     Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von
     Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezah-
     len.

 IV. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird
     über eine Parteientschädigung für das kantonale Ver-
     fahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
     Prozesses zu befinden haben.

  V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversiche-
     rungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse
     des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialver-
     sicherung zugestellt.

Luzern, 22. Juni 2001

                   Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
             Der Präsident der III. Kammer:

                Der Gerichtsschreiber:

            i.V.