Sozialrechtliche Abteilungen I 294/1998
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I 294/98 Hm II. Kammer Bundesrichter Meyer, Schön und Bundesrichterin Leuzinger; Gerichtsschreiber Nussbaumer Urteil vom 3. Januar 2000 in Sachen IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, St. Gallen, Beschwerdeführerin, gegen M.________, 1970, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt F.________, und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen A.- M.________ (geb. 1970) zog sich am 11. August 1986 bei einem Verkehrsunfall eine Schädel-Hirn-Verletzung mit akut aufgetretener Einblutung in motorisch bedeutsame Hirn- strukturen zu. Als Unfallfolgen blieben eine Behinderung durch ein leichtes, linksseitiges, armbetontes Hemisyndrom, eine neurogene Schulterinstabilität links sowie eine orga- nisch-affektive Störung bestehen (Bericht des Instituts X.________ vom 27. April 1992). Die Invalidenversicherung kam für verschiedene medizinische und berufliche Massnahmen auf. Nachdem M.________ eine im April 1988 begonnene Aus- bildung zur Technischen Zeichnerin bei der Firma Y.________ im Juni 1988 bereits wieder abgebrochen hatte, beendete sie die anschliessende Ausbildung als Teleoperatrice Ende 1990 erfolgreich. Daraufhin wurde das Lehrverhältnis bei der Fernmeldekreisdirektion auf den 1. Januar 1991 in ein Ar- beitsverhältnis umgewandelt, am 4. September 1991 jedoch per sofort aufgelöst. Am 9. August 1993 begann M.________ die von der Invalidenversicherung übernommene Umschulung zur kaufmännischen Angestellten bei der S.________. Infolge massiver Konzentrationsstörungen und der zu grossen Belas- tung im schulischen Bereich erfolgte nach einem Jahr der Wechsel zur Ausbildung als Büroangestellte. Mit Schreiben vom 10. August 1995 informierte der Rechtsvertreter von M.________ die IV-Stelle des Kantons St. Gallen über den erfolgreichen Lehrabschluss und ersuchte um Prüfung der Rentenfrage. M.________ blieb weiterhin mit einem bis Ende 1995 befristeten Arbeitsvertrag bei der S.________ beschäf- tigt, wobei sich die Arbeitgeberin im November 1995 defini- tiv über den Abschluss eines unbefristeten Arbeitsverhält- nisses entscheiden wollte. Mit Verfügung vom 4. Oktober 1995 wies die IV-Stelle das Rentengesuch ab, da M.________ infolge der Umschulung ein rentenausschliessendes Einkommen erzielen könne und die invaliditätsbedingte Erwerbseinbusse lediglich 20 % betrage. Am 27. November 1995 stellte der Rechtsvertreter von M.________ erneut ein Rentengesuch, da eine dauerhafte berufliche Integration auf Grund der Behinderungen nicht möglich sei. Insbesondere habe die Firma S.________ den bis Ende 1995 befristeten Arbeitsvertrag nicht verlängert. Nach Gewährung von Arbeitsvermittlung teilte die IV-Stelle der Versicherten mit Vorbescheid vom 19. August 1996 mit, dass auf ihr Leistungsbegehren nicht eingetreten werde, da nicht glaubhaft gemacht worden sei, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse seit der Verfügung vom 4. Oktober 1995 in einer für den Anspruch erheblichen Weise verändert hätten. Daran hielt sie mit Verfügung vom 9. September 1996 fest. B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Ver- sicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 27. April 1998 teilweise gut und wies die Streitsache zur materiellen Prüfung der Neuanmeldung an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen zurück. C.- Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Verwal- tungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihre Verfügung vom 9. Sep- tember 1996 zu bestätigen. M.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsge- richtsbeschwerde schliessen unter Gewährung der unentgelt- lichen Verbeiständung. Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwer- de. Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 1.- Wurde eine Rente oder eine Hilflosenentschädigung wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades oder wegen feh- lender Hilflosigkeit verweigert, so wird eine neue Anmel- dung nach Art. 87 Abs. 4 IVV nur geprüft, wenn die Voraus- setzungen gemäss Abs. 3 erfüllt sind. Danach ist vom Ver- sicherten im Gesuch glaubhaft zu machen, dass sich der Grad der Invalidität oder Hilflosigkeit in einer für den An- spruch erheblichen Weise geändert hat. Mit Art. 87 Abs. 4 IVV soll verhindert werden, dass sich die Verwaltung nach vorangegangener rechtskräftiger Leistungsverweigerung immer wieder mit gleich lautenden und nicht näher begründeten, d.h. keine Veränderung des Sachverhalts darlegenden Gesu- chen befassen muss (BGE 117 V 200 Erw. 4b mit Hinweisen). Nach Eingang einer Neuanmeldung ist die Verwaltung zunächst zur Prüfung verpflichtet, ob die Vorbringen des Versicherten überhaupt glaubhaft sind; verneint sie dies, so erledigt sie das Gesuch ohne weitere Abklärungen durch Nichteintreten. Dabei wird sie u.a. zu berücksichtigen haben, ob die frühere Verfügung nur kurze oder schon län- gere Zeit zurückliegt, und dementsprechend an die Glaub- haftmachung höhere oder weniger hohe Anforderungen stellen. Insofern steht ihr ein gewisser Beurteilungsspielraum zu, den der Richter grundsätzlich zu respektieren hat. Daher hat der Richter die Behandlung der Eintretensfrage durch die Verwaltung nur zu prüfen, wenn das Eintreten streitig ist, d.h. wenn die Verwaltung gestützt auf Art. 87 Abs. 4 IVV Nichteintreten beschlossen hat und der Versicherte des- wegen Beschwerde führt; hingegen unterbleibt eine richter- liche Beurteilung der Eintretensfrage, wenn die Verwaltung auf die Neuanmeldung eingetreten ist (BGE 109 V 114 Erw. 2b). Nach der Rechtsprechung (unveröffentlichte Urteile B. vom 30. August 1999, I 439/98, und R. vom 31. Juli 1989, I 99/89) ist unter Glaubhaftmachen im Sinne von Art. 87 Abs. 3 IVV kein Beweis nach dem im Sozialversicherungsrecht allgemein massgebenden Grad der überwiegenden Wahrschein- lichkeit (BGE 121 V 47 Erw. 2a, 208 Erw. 6b) zu verstehen. Die Beweisanforderungen sind vielmehr herabgesetzt (Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 272), indem nicht im Sinne eines "vollen Beweises" (ZAK 1971 S. 525 Erw. 2) die Überzeugung der Verwaltung begründet zu werden braucht, dass seit der letzten, rechtskräftigen Entschei- dung tatsächlich eine relevante Änderung eingetreten ist. Vielmehr genügt es, dass für den geltend gemachten rechts- erheblichen Sachumstand wenigstens gewisse Anhaltspunkte bestehen, auch wenn durchaus noch mit der Möglichkeit zu rechnen ist, bei eingehender Abklärung werde sich die be- hauptete Sachverhaltsänderung nicht erstellen lassen. Grundsätzlich unterliegt das Glaubhaftmachen nach Art. 87 Abs. 3 IVV weniger strengen Anforderungen als im Zivilpro- zessrecht. Dort muss - im Gegensatz zum vollen Beweis - der Richter immerhin überzeugt werden, dass es so, wie behaup- tet, wahrscheinlich gegangen ist, nicht aber auch, dass es wirklich so gegangen sein muss, weil jede Möglichkeit des Gegenteils vernünftigerweise auszuschliessen ist (Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl., S. 135; Gulde- ner, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 323, Anmerkung 27). 2.- Mit der Verfügung vom 9. September 1996 ist die Beschwerdeführerin auf die Neuanmeldung vom 27. November 1995 nicht eingetreten mit der Begründung, eine erneute Prüfung sei möglich, wenn glaubhaft gemacht werde, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse seit Erlass der renten- ablehnenden Verfügung vom 4. Oktober 1995 in einer für den Anspruch erheblichen Weise verändert hätten. Eine andere Würdigung oder Beurteilung des unveränderten Sachverhaltes sei nicht möglich. Die frühere Arbeitgeberin, die Firma S.________, habe das auf Ende Dezember 1995 befristete Arbeitsverhältnis nicht verlängert. Die anschliessende Stellensuche sei leider bis heute erfolglos geblieben; die Versicherte sei somit arbeitslos und beziehe Arbeitslosen- taggelder. Im vorliegenden Fall lautet das Dispositiv der Verfü- gung vom 9. September 1996 wohl auf Nichteintreten auf das Leistungsbegehren. Nach der in BGE 120 V 496 zusammenge- fassten Rechtsprechung sind indessen Verwaltungsverfügungen - unter Vorbehalt der Problematik des Vertrauensschutzes - nicht nach ihrem Wortlaut, sondern nach ihrem tatsächlichen rechtlichen Bedeutungsgehalt zu verstehen. Unter diesem Blickwinkel ist mit dem kantonalen Gericht festzustellen, dass die Beschwerdeführerin trotz anders lautendem Disposi- tiv auf die Neuanmeldung eingetreten ist. Mit dem Umstand, dass die frühere Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis nicht über Ende Dezember 1995 verlängert hat, hat die Beschwerde- gegnerin glaubhaft gemacht, dass hinsichtlich des Invali- deneinkommens eine Veränderung tatsächlich eingetreten ist. Die Beschwerdeführerin hat denn auch in der vorinstanzli- chen Duplik eingeräumt, dass sie nach Eingang der Neuanmel- dung Abklärungen vorgenommen hat und darauf eingetreten ist. Nichts anderes wird in der Verwaltungsgerichtsbe- schwerde geltend gemacht. 3.- Zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin im Sinne der dargelegten Rechtsprechung glaubhaft gemacht hat, dass sich die tatsächlichen, insbesondere die erwerblichen Ver- hältnisse im massgeblichen Zeitraum zwischen dem Erlass der ursprünglichen rentenablehnenden Verfügung vom 4. Oktober 1995 und jener vom 9. September 1996 in rentenrelevanter Weise geändert haben. a) Bei der Ablehnung einer Invalidenrente mit Verfü- gung vom 4. Oktober 1995 ging die Beschwerdeführerin von einem zumutbaren Valideneinkommen von Fr. 45'500.- und von einem Invalideneinkommen von Fr. 36'400.- aus, was einen Invaliditätsgrad von 20 % ergab. Sie stützte sich dabei auf eine Aktennotiz des Berufsberaters vom 8. August 1995 ab, wonach die Versicherte nach Abschluss ihrer Lehre bei der Firma S.________ als Anfangslohn monatlich Fr. 2800.- (x 13) erziele, was der oberen Norm des Anfangslohnes nach einer zweijährigen Bürolehre entspreche. Ohne Behinderung könne sie heute bei der gleichen Firma Fr. 3500.- (x 13) verdienen. Dieser Lohn entspreche in etwa dem Niveau einer durchschnittlich leistungsfähigen KV-Absolventin im Alter der Versicherten mit entsprechender Berufserfahrung. Damit ging die Beschwerdeführerin für die Invaliditätsbemessung von ganz konkreten, betriebsbezogenen Erwerbsverhältnissen aus. Nachdem die definitive Anstellung bei der S.________ gescheitert ist, verliert der vorgenommene Einkommensver- gleich namentlich hinsichtlich des Invalidenlohnes seine Grundlage. Hat mithin die beschwerdeführende IV-Stelle als Invalidenlohn einen konkreten betrieblichen Verdienst her- angezogen und hat sie nach Eingang der Neuanmeldung dies- bezüglich keine weiteren Abklärungen getroffen, erweist sich die Sache in erwerblicher Hinsicht als abklärungsbe- dürftig, wie das kantonale Gericht zu Recht entschieden hat. Nicht gefolgt werden kann der Auffassung der Beschwer- deführerin, wonach das Nichtzustandekommen einer unbefris- teten Anstellung bei der Lehrfirma im Zeitpunkt der renten- ablehnenden Verfügung vom 4. Oktober 1995 habe vorausgese- hen werden können, weshalb kein revisionsähnlicher Grund im Sinne von Art. 41 IVG vorliege. Nachdem die Beschwerdefüh- rerin den kurz bevorstehenden Entscheid über die definitive Anstellung im Herbst 1995 nicht abgewartet hat, geht es nicht an, dem Arbeitsplatzverlust im Rahmen einer Neuanmel- dung rechtserhebliche Bedeutung abzusprechen. b) Wie das kantonale Gericht des weitern zu Recht festhält, sind die Schwierigkeiten der Beschwerdegegnerin bei ihrer Erwerbstätigkeit zumindest teilweise auch auf die psychischen Folgen des Unfalls zurückzuführen. So hat die Beschwerdegegnerin zwar eine erste Ausbildung als Teleope- ratrice Ende 1990 erfolgreich abgeschlossen, doch wurde bereits damals von der IV-Regionalstelle erwähnt, dass die Ausbildung nicht problemlos verlaufen und die Versicherte auch in Zukunft wegen ihres Verhaltens auf Verständnis und Wohlwollen am Arbeitsplatz angewiesen sei. Die im August 1993 begonnene Umschulung zur kaufmännischen Angestellten musste wegen massiver Konzentrationsstörungen und der zu grossen Belastung im schulischen Bereich nach einem Jahr in eine weniger anforderungsreiche Ausbildung als Büroange- stellte umgewandelt werden. Im Schreiben vom 26. Juli 1996 schildert die frühere Lehrfirma die Probleme der Versicher- ten dahingehend, dass sie sich in unregelmässigen Leistun- gen, mangelndem Selbstvertrauen, oft aufsässigem Verhalten (unkontrolliert) sowie auch in Unselbständigkeit äusserten. Es sei ersichtlich gewesen, dass die Versicherte durch den Unfall nicht nur körperlich gezeichnet sei, sondern die Folgen sich auch in ihrem Verhalten zeigten. Nach der Lehre habe man versucht, die Versicherte trotzdem zu integrieren und ihr eine weitere Chance zu geben. Nach einigen Wochen Einführungszeit seien die Leistungen an der administrativen Stelle in der Qualitätssicherung als nicht befriedigend bewertet worden, sodass das Anstellungsverhältnis per 31. Dezember 1995 nicht verlängert werden konnte. In welchem Ausmass sich die körperlichen und psychi- schen Unfallfolgen trotz erfolgreich abgeschlossener Um- schulung auf die Arbeitsfähigkeit der Versicherten auswir- ken, wird daher auch durch zusätzliche Abklärungen in medi- zinischer Hinsicht festzustellen sein, zumal aussagekräfti- ge medizinische Berichte seit längerer Zeit nicht mehr ein- geholt worden sind. 4.- Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens ent- sprechend steht der Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG); damit erweist sich ihr Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung als gegenstandslos. Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. III. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen hat der Beschwer- degegnerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1755.10 (Honorar, Auslagenersatz und Mehrwert- steuer) zu bezahlen. IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungs- gericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. Luzern, 3. Januar 2000 Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts Der Vorsitzende der II. Kammer: i.V. Der Gerichtsschreiber: