Sozialrechtliche Abteilungen I 264/1998
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 1998
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 1998
I 264/98 Gb II. Kammer Präsident Lustenberger, Bundesrichter Meyer und Ferrari; Gerichtsschreiber Signorell Urteil vom 26. September 2000 in Sachen W.________, 1946, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Paul Ramer, Bahnhofstrasse 58, Zürich, gegen IV-Stelle Schaffhausen, Oberstadt 9, Schaffhausen, Beschwerdegegnerin, und Obergericht des Kantons Schaffhausen, Schaffhausen A.- Mit Verfügung vom 13. September 1993 sprach die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau der 1946 geborenen W.________, die 1989 bei einem Zeckenbiss infiziert worden war, eine vom 1. Mai 1992 bis 31. März 1993 befristete ganze IV-Rente zu. Nachdem eine weitere Verfügung der inzwischen zuständig gewordenen IV-Stelle Schaffhausen vom 21. Februar 1995 durch das Obergericht des Kantons Schaff- hausen aufgehoben und die Sache zur Aktenergänzung und Neu- beurteilung an die Verwaltung zurückgewiesen worden war (Entscheid vom 16. Juni 1995), sprach jene ihr nach Durch- führung des Vorbescheidverfahrens mit drei Verfügungen vom 18. August 1997 mit Wirkung ab 1. April 1993 eine halbe Invalidenrente zu. B.- Mit Entscheid vom 30. April 1998 wies das Oberge- richt des Kantons Schaffhausen eine gegen diese Verfügungen erhobene Beschwerde ab. C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt W.________ die Aufhebung des kantonalen Entscheides und die Zuspre- chung einer ganzen Invalidenrente bei einem Invaliditäts- grad von mindestens 66 2/3 % beantragen. Die IV-Stelle Schaffhausen schliesst unter Hinweis auf den vorinstanzlichen Entscheid auf Abweisung der Verwal- tungsgerichtsbeschwerde. Das Obergericht äussert sich, ohne einen Antrag zu stellen. Das Bundesamt für Sozialversiche- rung lässt sich nicht vernehmen. Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 1.- Die Vorinstanz hat die massgeblichen gesetzlichen Bestimmungen zur Invalidität, zur Bemessung des Invalidi- tätsgrades und zum Umfang des Rentenanspruchs zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. 2.- a) In der medizinischen Interpretation der Sympto- matik bestehen unterschiedliche Auffassungen zwischen den MEDAS-Ärzten, auf die Verwaltung und Vorinstanz abstellen, und Dr. med. X.________, Facharzt für Innere Medizin FMH, auf den sich die Beschwerdeführerin beruft. Nach den Akten lässt sich das erhobene Beschwerdebild verschiedenen Er- krankungen zuordnen. Unbestritten ist, dass die Beschwerde- führerin mit Borrelien in Kontakt gekommen ist, was mit der positiven Lyme-Serologie belegt ist. Dr. X.________ deutet deshalb die bei der Beschwerdeführerin bestehende Müdigkeit als Chronic-Fatigue-Syndrom (nachfolgend CFS). Die MEDAS- Ärzte erkennen im Gutachten vom 26. Juli 1996 die Borrelien lediglich als geringfügige Mitursache der Beschwerden, deren Schwergewicht sie überwiegend im psychischen Bereich (Neurasthenie bei histrionischem Verarbeitungsmodus und Rentenbegehren) ansiedeln. Dr. X.________ bescheinigt der Beschwerdeführerin als Folge seiner Diagnose eine vollstän- dige Arbeitsunfähigkeit für die Tätigkeit als Masseuse und von 66 % für alle übrigen Tätigkeiten, wogegen die MEDAS- Ärzte für alle Arbeiten eine Arbeitsunfähigkeit von ledig- lich 50 % attestieren. b) Dr. X.________ weist in einer schon im in Sachen der Beschwerdeführerin ergangenen unfallversicherungsrecht- lichen Urteil vom 30. September 1998 (U 74/97) erwähnten Publikation darauf hin, dass es sich beim CFS um ein kom- pliziertes Zustandsbild mit vielseitigen Symptomen handelt, das vor allem nach Viruserkrankungen festgestellt wird. Ein Zusammenhang mit der Lyme-Borreliose sei zwar möglich, aber auch sehr selten (Satz, Zeckenkrankheiten, Zürich 1994, S. 39). Eine wissenschaftliche Fall-Kontrollstudie hat zudem ergeben, "dass das Resultat einer positiven Lyme-Se- rologie vorsichtig zu interpretieren ist. Der Nachweis ir- gendeiner neurologischen Läsion und eines positiven Titers berechtigt nicht zur Diagnose einer Neuroborreliose. Es sollte nur dann davon gesprochen werden, wenn entweder eines der typischen Krankheitsbilder vorliegt - der positi- ve Titer belegt in diesem Fall die Ätiologie - oder wenn der Nachweis der autochthonen Borrelia-burgdorferi-spezifi- schen Ig-Produktion im Liquor erbracht wird" (E.S. Altpeter und C. Meier, Epidemiologische Aspekte der neurologischen Komplikationen der Lyme-Borreliose in der Schweiz, in: Schweiz. med. Wschr. 1992, S. 26). Satz weist darauf hin, dass die Diagnose nur per exclusionem gestellt werden könne. Er schlägt vor, dass ein CFS nur dann diagnostiziert werden dürfe, wenn neben dem erhöhten Antikörpertiter gegen Borrelia burgdorferi die diagnostischen Kriterien von Holmes et al. erfüllt sind (Satz, Klinik der Lyme-Borrelio- se, Bern 1993, S. 163). Holmes verlangt, dass die Hauptkri- terien 1 und 2 und zusätzlich entweder mindestens 6 der 11 Symptom-Kriterien sowie mindestens 2 der 3 somatischen Kri- terien oder mindestens 8 der 11 Symptom-Kriterien erfüllt sind (Satz, Klinik, S. 161). Das Hauptkriterium 2 (nach Holmes) erfordert, dass andere Krankheiten, u.a. psychiat- rische Krankheiten (Depressionen, Neurosen, Schizophrenie, usw.), klinisch, physikalisch oder mit adäquaten Laborun- tersuchungen ausgeschlossen sein müssen (Satz, a.a.O., S. 161). 3.- a) Der Sozialversicherungsrichter und die Verwal- tung haben den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes we- gen festzustellen und hiefür die Beweismittel nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung ohne Bindung an förm- liche Beweisregeln umfassend und pflichtgemäss zu würdigen (Kieser, Die rechtliche Würdigung von medizinischen Gutach- ten, in: Schaffhauser/Schlauri, Rechtsfragen der medizini- schen Begutachtung, St. Gallen 1997, S. 123 f.). Der So- zialversicherungsrichter hat also alle Beweismittel ob- jektiv zu prüfen, unabhängig davon, von wem sie stammen und danach zu entscheiden, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des strittigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf er bei einander widersprechen- den medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgege- ben worden ist, in der Darlegung der medizinischen Zusam- menhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen in einer Weise begründet sind, dass der Rechtsanwender sie prüfend nach- vollziehen kann (RKUV 1991 Nr. U 133 S. 312 Erw. 1b; Meyer- Blaser, Sozialversicherungsrecht und Medizin, in: Fredenha- gen, Das ärztliche Gutachten, 3. Aufl., Bern 1994, S. 95). b) Unbestritten ist, dass am Anfang der vorliegend zu überprüfenden Gesundheitsstörung ein Kontakt mit einer Ze- cke steht. Strittig ist hingegen, ob das aktuelle Beschwer- denbild noch Folge dieses Grundsachverhaltes ist. Verwal- tung und Vorinstanz verneinen dies im Wesentlichen mit der Begründung, in der Zwischenzeit sei eine (dominante) psy- chische Überlagerung eingetreten. Demgegenüber vertritt Dr. X.________ die Auffassung, es liege nach wie vor eine Lyme-Borreliose vor. Es kann nicht Aufgabe des Richters sein, diesen medizinischen Streit zu entscheiden, denn hie- für fehlt ihm das notwendige Fachwissen. Eine Entscheidung ist vorliegend auch deshalb nicht möglich, weil die betei- ligten Ärzte sich mit der Argumentation der Gegenseite kaum eingehend auseinandersetzen, weshalb sich keine der vertre- tenen Auffassungen als widerspruchsfrei und schlüssig be- zeichnen lässt. Auch Dr. X.________ legt in keinem seiner Berichte die Grundlagen für seine Diagnose dar. Darin fin- den sich weder Hinweise dafür, welche der von ihm in Anleh- nung an Holmes geforderten Kriterien erfüllt sind, und wel- che anderen Differenzialdiagnosen er mit welcher Begründung ausschliesst. Berichte, welche die medizinischen Vorakten unzurei- chend berücksichtigen, beruhen auf unvollständigen Anknüp- fungstatsachen und führen folglich zu nicht auf der medizi- nischen Gesamtsituation basierenden Ergebnissen. Es fehlt ihnen mithin die erforderliche Überzeugungs- und Beweis- kraft selbst dann, wenn die auf der Grundlage der vom je- weiligen Arzt selbst erhobenen Befundtatsachen gezogenen Schlussfolgerungen einleuchten und vom Rechtsanwender prü- fend nachvollzogen werden können. Vorliegend drängt sich zwecks Abklärung des relevanten medizinischen Sachverhaltes und der entscheidwesentlichen Frage der natürlichen Kausa- lität die Einholung eines medizinischen Gutachtens auf, das in Beachtung der vollständigen Vorakten zu erstatten sein wird. Dies wird sinnvollerweise in Absprache mit dem zu- ständigen Unfallversicherer erfolgen. Entsprechend dem Aus- gang der Abklärungen zur Kausalität erscheint die Invalidi- tätsfrage hier in ganz unterschiedlichem Lichte, je nachdem ob lediglich die von der MEDAS erwähnten psychischen Befun- de oder aber (zusätzlich) ein CFS vorliegen, welches voll invalidisierend sein könnte. 4.- Im vorliegenden Verfahren geht es um die Bewilli- gung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten abzusehen ist (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend ist der Be- schwerdeführerin eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege, einschliesslich der unentgelt- lichen Verbeiständung, ist damit gegenstandslos. Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 30. April 1998 und die Verfü- gungen der IV-Stelle Schaffhausen vom 18. August 1997 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Schaffhausen zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über den Rentenanspruch neu verfüge. II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. III. Die IV-Stelle Schaffhausen hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versiche- rungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. IV. Das Obergericht des Kantons Schaffhausen wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Pro- zesses zu befinden haben. V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und dem Bundesamt für Sozialver- sicherung zugestellt. Luzern, 26. September 2000 Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: