Sozialrechtliche Abteilungen I 144/1998
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 1998
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 1998
I 144/98 Vr III. Kammer Bundesrichter Schön, Meyer und Bundesrichterin Leuzinger; Gerichtsschreiber Signorell Urteil vom 29. Januar 2001 in Sachen R.________, 1971, Beschwerdeführer, vertreten durch den Rechtsdienst X.________, gegen IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, Bern, Beschwerde- gegnerin, und Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern A.- R.________, geb. 1971, leidet seit Geburt an einer Sehbehinderung und erblindete im Laufe der Zeit praktisch vollständig. Nachdem er das Gymnasium mit dem Erwerb des Maturitätszeugnisses abgeschlossen hat, absolviert er seit Oktober 1996 eine Ausbildung zum Physiotherapeuten an der Physiotherapeutenschule des Spitals Y.________. Die IV- Stelle Bern übernimmt die invaliditätsbedingten Mehrkosten der Ausbildung (Verfügung vom 24. Januar 1997) und gewährt ein Taggeld (Verfügung vom 27. Januar 1997). Nach Durch- führung des Vorbescheidverfahrens lehnte es die IV-Stelle ab, dem Versicherten ein elektronisches Notizgerät "Braille Lite" abzugeben, da er bereits eine Convertibraille habe (Verfügung vom 4. Juni 1997). B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies eine dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 24. Februar 1998 ab. C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt R.________ sein vorinstanzliches Rechtsbegehren erneuern. Die IV-Stelle Bern schliesst auf Abweisung der Verwal- tungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversiche- rung (BSV) hat sich nicht vernehmen lassen. Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 1.- Die Vorinstanz hat die massgeblichen gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Abgabe von Hilfsmitteln (Art. 8 und 21 IVG, Hilfsmittelverordnung) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung zutreffend dargestellt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass die im Anhang zur HVI enthaltene Liste in der Kategorie "Hilfsmittel am Arbeits- platz, im Aufgabenbereich, zur Schulung und Ausbildung so- wie bauliche Vorkehren zur Überwindung des Arbeitsweges" unter Ziff. 13.01* invaliditätsbedingte Arbeits- und Haus- haltgeräte sowie Zusatzeinrichtungen, Zusatzgeräte und An- passungen für die Bedienung von Apparaten und Maschinen er- wähnt. Nach Rz 13.01.1* der vom BSV herausgegebenen Weglei- tung über die Abgabe von Hilfsmitteln (WHMI), gültig ab 1. Januar 1993, fallen darunter jene Hilfsmittel, Zusatz- geräte und Zusatzeinrichtungen, die erforderlich sind, um den Versicherten die Erledigung ihrer Arbeit (einschliess- lich Aufgabenbereich), die Schulung oder die Ausbildung zu ermöglichen. Dagegen sind nach Rz 13.01.5* WHMI Gegenstän- de, die der Arbeitserleichterung, der Betriebsrationalisie- rung, der Produktions- oder Ertragssteigerung dienen, nicht als invaliditätsbedingt zu bezeichnen; Geräte, die wegen Invalidität zur Erleichterung der Arbeit angeschafft wer- den, gehen nur dann zu Lasten der Invalidenversicherung, wenn sie zur Eingliederung unbedingt notwendig sind. Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im unveröffentlich- ten Urteil L. vom 8. Juli 1999 (I 515/98) festgestellt hat, fällt ein Braille Lite-Gerät grundsätzlich unter Ziff. 13.01* HVI Anhang. 2.- a) Dem Beschwerdeführer wurde ein Convertibraille abgegeben. Dieses Gerät ist für den mobilen Einsatz konzi- piert (Gewicht ca. 6 kg; Einsatzdauer mit Akku: ca. 2 Stun- den). Die beantragte Braille Lite ist eine Art elektroni- sches Notizbuch (Gewicht: ca. 750 g; Einsatzdauer mit Akku: ca. 30 Stunden). Streitig ist, ob die Invalidenversicherung auch für die Kosten dieses weiteren Hilfsmittels aufzukom- men hat. b) Die Vorinstanz erwog, dass Versicherte im Rahmen der Eingliederungsmassnahmen Anspruch auf einfache und zweckmässige Hilfsmittel hätten. Die Benutzung der Conver- tibraille sei auch während des Praktikums möglich und zu- mutbar. Die Handhabung sei zwar gegenüber der Braille Lite etwas komplizierter. Doch bestehe weder eine erhöhte Repa- raturanfälligkeit, noch sei die Inbetriebnahme mit einem übermässigen Zeitaufwand verbunden. Es gebe in jedem Patientenzimmer eine Abstellfläche und einen Stroman- schluss. Das elektronische Notizbuch könne die Arbeit einzig erleichtern und erscheine daher als bestmögliche Massnahme, deren Kosten in keinem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Zweck stünden. c) Der Beschwerdeführer hält dieser Auffassung entge- gen, dass die Convertibraille sich in keiner Weise für die Arbeit in den praktischen Ausbildungssituationen (Ausbil- dungskonzept mit häufigem und relativ raschem Wechsel des Ausbildungsortes) eigne. Sie sei zwar transportabel, müsse jedoch jedesmal in einen Rücksack oder eine Tragtasche ver- staut werden. Nach jedem Ortswechsel müsse das Gerät ausge- packt, eine entsprechende Arbeitsfläche gesucht, ans Netz angeschlossen und wieder aufgestartet werden. Ein derarti- ger Aufwand könne einer blinden Person in einer Ausbil- dungssituation nicht zugemutet werden. Im Verhältnis zu den gesamten Kosten sei der zusätzliche finanzielle Aufwand überdies auch verhältnismässig. 3.- Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer zur Absolvierung seiner Ausbildung eines elektronischen Hilfs- mittels bedarf, das er als Notizblock verwenden kann. Aus der Begründung des Leistungsbegehrens einerseits und den Stellungnahmen verschiedener Personen und Stellen anderer- seits ergibt sich, dass sowohl die Convertibraille als auch die streitige Braille Lite diesen Zweck erfüllen und funk- tional diesbezüglich keine wesentlichen Unterschiede auf- weisen. Beide Geräte gehören zur Gruppe der tragbaren PCs (Laptop, Notebook), die für die Benutzung durch sehbehin- derte Personen angepasst worden sind. Die Invalidenversicherung bewilligte dem Beschwerde- führer am 5. Dezember 1991 als Hilfsmittel am Ausbildungs- platz (Hilfsmittel Ziff. 13.01* HVI Anhang) die leihweise Abgabe einer Convertibraille. Im Januar 1994 war wegen verschiedener Mängel (Transportschäden) ein Update er- forderlich. Nach einem Feuchtigkeitsschaden, der das Gerät zerstörte, bewilligte die Invalidenversicherung einen Komplettaustausch (Verfügung vom 17. August 1995). Es muss aber davon ausgegangen werden, dass dieses "Ersatz"gerät, welches heute noch vom Beschwerdeführer verwendet wird, nach wie vor auf dem technischen Stand der frühen 90er-Jahre basiert. Mit Blick auf die rasante Entwicklung der Computer-Hardware zu jener Zeit gilt es festzuhalten, dass es sich heute um ein veraltetes Gerät handelt. Viele Komponenten eines PCs wurden nicht nur ganz erheblich ver- kleinert (und damit beispielsweise entscheidend leichter), sondern auch gleichzeitig in zahlreichen Bereichen um ein Mehrfaches leistungsfähiger. Diese Entwicklung hat u.a. dazu geführt, dass die Abschreibungszeiten für EDV-Geräte im Wirtschafts- und Privatbereich erheblich verkürzt sind. Dies kann nicht spurlos an der Invalidenversicherung vor- beigehen. Auch wenn ein Versicherter nach Gesetz nur An- spruch auf eine zweckmässige, nicht aber auf eine best- mögliche Versorgung hat, kann nicht mehr einfach dahin- gehend argumentiert werden, es sei bereits ein Gerät ab- gegeben worden, weshalb kein Anspruch auf ein weiteres bestehe. Vorliegend hat man vom einem Grenzfall auszugehen. Trotzdem erscheint in Würdigung der gesamten Umstände ein Anspruch auf die leihweise Abgabe eines Gerätes der neueren technischen Generation (Braille Lite) als ausgewiesen, wes- halb die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen ist. Nicht weiter zu prüfen ist an dieser Stelle, ob der Be- schwerdeführer beide Geräte benötigt oder ob allenfalls das bisher benutzte der Invalidenversicherung zurückzugeben wäre. 4.- Da der anwaltschaftlich vertretene Beschwerde- führer obsiegt, hat er Anspruch auf eine Parteientschädi- gung. Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wer- den der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 24. Februar 1998 und die Verfügung der IV- Stelle Bern vom 4. Juni 1997 aufgehoben, und es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf das beantragte Hilfsmittel hat. II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. III. Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliess- lich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsge- richt des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. Luzern, 29. Januar 2001 Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: