Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 138/1998
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I 138/98 Vr

                         I. Kammer

Präsident Lustenberger, Bundesrichter Schön, Spira, Bundes-
richterin Widmer und Bundesrichter Ferrari; Gerichtsschrei-
berin Fleischanderl

                Urteil vom 31. Januar 2000

                         in Sachen

P.________, 1966, Beschwerdeführer, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. K.________,

                           gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13,
Frauenfeld, Beschwerdegegnerin,

                            und

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

     A.- Der 1966 geborene P.________ absolvierte nach
Abschluss der obligatorischen Schulzeit eine dreijährige
kaufmännische Lehre, welche er 1985 erfolgreich abschloss.
Auf Grund der seit 1983 bestehenden Heroinabhängigkeit
konnte er den erlernten Beruf nur bis 1989, zuletzt noch
temporär, ausüben. Nach mehreren Klinikaufenthalten sowie
Entzugs- und Therapieversuchen begann er im Februar 1995
ein Methadonprogramm.

     Am 31. Juli 1995 meldete sich P.________ mit dem
Begehren um berufliche Eingliederungsmassnahmen bei der
Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau
holte unter anderem die Arztberichte des Dr. med.
B.________, Innere Medizin FMH, vom 18. September 1995
sowie des Dr. med. I.________, Praxis für systemische
Therapie und Beratung, vom 1. und 15. Dezember 1995 ein. Im
Weiteren veranlasste sie eine Untersuchung im psychiat-
rischen Ambulatorium X.________ (Gutachten vom 31. Oktober
1996). Gestützt auf die beigezogenen Unterlagen wies die
IV-Stelle das Leistungsbegehren nach Durchführung des Vor-
bescheidverfahrens ab (Verfügung vom 20. März 1997).

     B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wurde mit Ent-
scheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom
25. Februar 1998 abgewiesen.

     C.- P.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
führen und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Ent-
scheids sowie der Verfügung vom 20. März 1997 sei festzu-
stellen, dass er Anspruch auf berufliche Eingliederungs-
massnahmen habe; die Sache sei zur entsprechenden Abklärung
und Durchführung der Massnahmen an die IV-Stelle zurück-
zuweisen. Ferner wird um Gewährung der unentgeltlichen
Verbeiständung ersucht.
     Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsge-
richtsbeschwerde schliesst, hat sich das Bundesamt für So-
zialversicherung nicht vernehmen lassen.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdefüh-
rer Anspruch auf berufliche Massnahmen hat.

     2.- a) Gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG haben invalide oder
von einer Invalidität unmittelbar bedrohte Versicherte

Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese not-
wendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit wiederher-
zustellen, zu verbessern, zu erhalten oder ihre Verwertung
zu fördern. Dabei ist die gesamte noch zu erwartende Ar-
beitsdauer zu berücksichtigen.

     b) Nach Art. 4 Abs. 1 IVG gilt als Invalidität die
durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden
als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall
verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit
dauernde Erwerbsunfähigkeit.
     Zu den geistigen Gesundheitsschäden, welche in glei-
cher Weise wie die körperlichen eine Invalidität im Sinne
von Art. 4 Abs. 1 IVG zu bewirken vermögen, gehören neben
den eigentlichen Geisteskrankheiten auch seelische Abwegig-
keiten mit Krankheitswert. Nicht als Auswirkungen einer
krankhaften seelischen Verfassung und damit invalidenver-
sicherungsrechtlich nicht als relevant gelten Beeinträch-
tigungen der Erwerbsfähigkeit, welche die versicherte Per-
son bei Aufbietung allen guten Willens, Arbeit in ausrei-
chendem Masse zu verrichten, zu vermeiden vermöchte, wobei
das Mass des Forderbaren weitgehend objektiv bestimmt wer-
den muss. Es ist somit festzustellen, ob und in welchem
Masse eine versicherte Person infolge ihres geistigen Ge-
sundheitsschadens auf dem ihr nach ihren Fähigkeiten offen
stehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein
kann. Dabei kommt es darauf an, welche Tätigkeit ihr zuge-
mutet werden darf. Zur Annahme einer durch einen geistigen
Gesundheitsschaden verursachten Erwerbsunfähigkeit genügt
es also nicht, dass die versicherte Person nicht hinrei-
chend erwerbstätig ist; entscheidend ist vielmehr, ob anzu-
nehmen ist, die Verwertung der Arbeitsfähigkeit sei ihr so-
zial-praktisch nicht mehr zumutbar oder - als alternative
Voraussetzung - sogar für die Gesellschaft untragbar (BGE
102 V 165; AHI 1996 S. 302 Erw. 2a, S. 305 Erw. 1a, S. 308
Erw. 2a; ZAK 1992 S. 170 Erw. 2a mit Hinweisen).

     Wie in ständiger Rechtsprechung bezüglich der Drogen-
sucht entschieden worden ist, begründet diese, für sich al-
lein betrachtet, keine Invalidität im Sinne des Gesetzes.
Dagegen wird eine solche Sucht im Rahmen der Invalidenver-
sicherung bedeutsam, wenn sie eine Krankheit oder einen Un-
fall bewirkt hat, in deren Folge ein körperlicher oder
geistiger, die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender Gesund-
heitsschaden eingetreten ist, oder wenn sie selber Folge
eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens ist,
dem Krankheitswert zukommt (BGE 99 V 28 Erw. 2; AHI 1996
S. 303 Erw. 2a, S. 305 Erw. 1a und S. 309 Erw. 2a mit wei-
teren Hinweisen; bestätigt im nicht veröffentlichten Urteil
J. vom 21. Oktober 1999, I 569/98).

     c) Unmittelbarkeit liegt nach der Rechtsprechung nur
vor, wenn eine Invalidität in absehbarer Zeit einzutreten
droht; sie ist dagegen nicht gegeben, wenn der Eintritt
einer Erwerbsunfähigkeit zwar als gewiss erscheint, der
Zeitpunkt ihres Eintritts aber ungewiss ist (BGE 124 V 269
Erw. 4 mit Hinweisen).

     3.- Gemäss Aussage der beteiligten Ärzte leidet der
Beschwerdeführer seit 1983 an einer Opiatabhängigkeit. Dr.
med. I.________ stellt in seinem Bericht vom 1. Dezember
1995 ferner die Diagnose einer "Persönlichkeitsstörung
(dependent-narzisstische Mischform)", welche im Gutachten
des psychiatrischen Ambulatoriums X.________ vom
31. Oktober 1996 als "Verdacht auf narzisstische
Persönlichkeitsstörung" angegeben wurde. Die Vorinstanz hat
unter Bezugnahme auf die medizinischen Akten erwogen, die
beim Beschwerdeführer festgestellten gesundheitlichen
Beeinträchtigungen, insbesondere auch die gutachtlich
erhobenen Befunde einer Wesensveränderung im Sinne einer
Erniedrigung der Frustrationstoleranz sowie einer leichten
intellektuellen Niveausenkung stellten keinen invalidi-
sierenden geistigen Gesundheitsschaden mit Krankheitswert
gemäss Rechtsprechung dar.

     4.- a) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird hie-
gegen zunächst vorgebracht, an der bisherigen Rechtspre-
chung, wonach die Drogensucht für sich allein keine Inva-
lidität nach Art. 4 IVG begründen kann, sei nicht festzu-
halten. Erwiesenermassen stelle die Drogensucht "in aller
Regel" bereits die Folge eines körperlichen oder geistigen
Gesundheitsschadens mit Krankheitswert dar oder bewirke
ihrerseits eine Krankheit oder einen Unfall, in deren Folge
ein körperlicher oder geistiger, die Erwerbsfähigkeit be-
einträchtigender Gesundheitsschaden eingetreten sei. Dieser
Umstand werde im Übrigen durch die Gerichtspraxis bestä-
tigt, welche unter Bezugnahme auf die genannte Rechtspre-
chung letztlich nur in wenigen Fällen eine Leistungspflicht
der Invalidenversicherung verneint habe.

     b) Als Invalidität im Sinne des Gesetzes gilt - wie
erwähnt - die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit
dauernde Erwerbsunfähigkeit, welche durch einen körper-
lichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von
Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursacht wurde.
Mit Blick auf diese Umschreibung kann die Drogensucht an
sich, d.h. die ärztliche Diagnose einer Drogensucht, noch
keine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG begründen.
Abgesehen davon, dass die Begriffe der Drogensucht und der
Drogenabhängigkeit in der Medizin nicht einheitlich verwen-
det werden (vgl. MSD-Manual der Diagnostik und Therapie,
5. Auflage, München 1993, S. 2979) und es an einer all-
gemein verbindlichen Definition fehlt, lässt die Diagnose
einer Drogensucht oder -abhängigkeit nicht schon darauf
schliessen, dass der versicherten Person eine Drogenabs-
tinenz nicht mehr möglich ist; ebenso wenig ist Drogen-
abhängigkeit notwendigerweise mit Arbeits- oder Erwerbs-
unfähigkeit verbunden (vgl. AHI 1996 S. 307). Im Lichte
dieser Ausführungen ist die langjährige Rechtsprechung,
welche Drogensucht nur in Zusammenhang mit den in Art. 4
Abs. 1 IVG genannten Faktoren als invalidisierend erklärt,
lediglich eine Konkretisierung des Invaliditätsbegriffs.

Selbst wenn auf die in Erw. 2b hievor zitierte Formulierung
verzichtet würde, wären die entsprechenden Kriterien im
Rahmen der allgemeinen Prüfung nach Art. 4 Abs. 1 IVG zu
beurteilen. Da es sich mithin nicht um eine die generellen
Invaliditätsvoraussetzungen einschränkende, sondern diese
verdeutlichende Rechtsprechung handelt, ist kein Grund
ersichtlich, weshalb davon abzugehen wäre. Namentlich
zeigen bereits eine beträchtliche Anzahl der zu dieser
Problematik publizierten Urteile auf, dass es entgegen der
Behauptung des Beschwerdeführers sehr wohl Fälle gibt, in
welchen Drogensüchtigen der Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung abgesprochen wurde (vgl. unter ande-
ren BGE 99 V 28; AHI 1996 S. 301, 304 und 307; ZAK 1987
S. 437).

     5.- Zu prüfen ist im Weiteren, ob die Drogensucht -
wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht -
die Folge eines bereits vorbestandenen geistigen Gesund-
heitsschadens mit Krankheitswert darstellt.
     Diese Frage ist zu verneinen. Mit der Vorinstanz, de-
ren Beurteilung auf einer einlässlichen und sorgfältigen
Würdigung sämtlicher medizinischen Unterlagen beruht, muss
davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer vor Be-
ginn seiner Opiatabhängigkeit nicht an schwerwiegenden pa-
thologischen Befunden litt. Obgleich nicht verkannt werden
darf, dass der Versicherte infolge seiner Kindheitsbiogra-
fie (Pflegekind; überbehütende, verwöhnende leibliche Mut-
ter; keine emotionale Bindung zum leiblichen Vater) sowie
Persönlichkeitsstruktur (mangelnde Motivation und Eigenver-
antwortung sowie fehlendes Durchhaltevermögen) suchtgefähr-
deter war als andere Jugendliche, sind den ärztlichen Stel-
lungnahmen keine Hinweise auf daraus resultierende, den
Drogenkonsum verursachende psychische Störungen mit Krank-
heitswert zu entnehmen.

     6.- Fraglich bleibt ferner, ob die Drogensucht des
Beschwerdeführers ihrerseits eine Gesundheitsstörung mit

Invaliditätscharakter verursacht hat, welche die (künftige)
Erwerbsfähigkeit bleibend oder während längerer Zeit zu be-
einträchtigen vermöchte.
     Dr. med. I.________ kommt in seinem Bericht vom
1. Dezember 1995 zu folgendem Schluss: "Unter der über zehn
Jahre dauernden Drogenkarriere ist die schon bereits in der
Kindheit durch das Wechselbad 'emotionaler Entzug und dann
Verwöhnung' geprägte Persönlichkeit seit der Pubertät in
der Reifung stark beeinträchtigt geblieben". Er empfiehlt,
den Beschwerdeführer vor Durchführung einer Umschulung
während einem bis zwei Jahren in einer beliebigen beruf-
lichen Tätigkeit einzusetzen, um dessen Durchhaltevermögen
und soziale Vernetzung aufzubauen. Das Gutachten des
psychiatrischen Ambulatoriums X.________ vom 31. Oktober
1996 führt aus, die lange Geschichte der Heroinabhängigkeit
habe die "Schwelle für Frustrationstoleranz" herabgesetzt
sowie eine leichte intellektuelle Niveausenkung bewirkt.
Ein invalidisierender geistiger Gesundheitsschaden mit
Krankheitswert wird indes mit der Begründung verneint, die
erwähnte Wesensveränderung sei höchstens im Sinne einer
Erniedrigung der Frustrationstoleranz fassbar. Der bis-
herige Verlauf des Methadonprogrammes sowie das Praktikum
im Pflegeheim Y.________ im Rahmen des Nothelferkurses
zeigten im Weiteren auf, dass ein beruflicher Wieder-
eingliederungsversuch erfolgreich sein könne. Auf diese
vollständigen, widerspruchsfreien und schlüssigen Beur-
teilungen ist ohne weiteres abzustellen (vgl. BGE 122 V 160
Erw. 1c). Sie erhellen, dass die mehrjährige Opiatabhängig-
keit zwar die bereits vorbelastete Persönlichkeitsent-
wicklung des Beschwerdeführers zusätzlich gehemmt hat und
die Bearbeitung der daraus resultierenden Konflikte zurzeit
noch in Gange ist; doch von einer invalidenversicherungs-
rechtlich relevanten Gesundheitsstörung im Sinne einer
hirnorganischen Schädigung oder einer die Erwerbsfähigkeit
bleibend oder während längerer Zeit beeinträchtigenden
suchtbedingten Wesensveränderung kann nicht gesprochen
werden. Die Aussichten für eine berufliche Eingliederung

sind noch intakt. Zumindest bis zum Zeitpunkt der Verfügung
der IV-Stelle vom 20. März 1997, welche die zeitliche
Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet (BGE
116 V 248 Erw. 1a), ist demnach keine Invalidität gemäss
Art. 4 IVG ausgewiesen. Ebenso liegt keine unmittelbar
drohende Invalidität im Sinne der in Erw. 2c hievor
genannten Rechtsprechung vor, fehlt es doch insbesondere an
einem bestimmbaren Zeitpunkt für den allfälligen Eintritt
einer solchen.

     7.- Bei den beantragten Massnahmen geht es im Wesent-
lichen einzig um Therapie und soziale Rehabilitation. Bei
aller Wünschbarkeit derartiger Bestrebungen handelt es sich
dabei nicht um selbstständige Zielsetzungen der Invaliden-
versicherung, für die gesetzlich umschriebene Leistungen
gewährt werden können (vgl. zum Ganzen AHI 1996 S. 304
Erw. 3 mit Hinweis). Verfügung und vorinstanzlicher Ent-
scheid lassen sich daher im Ergebnis nicht beanstanden.

     8.- Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungs-
leistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichts-
kosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Verbeistän-
dung kann gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit
Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Be-
schwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Ver-
tretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a mit Hinweisen).
Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG auf-
merksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Ge-
richtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später
dazu im Stande ist.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung
     wird Rechtsanwalt Dr. K.________ für das Verfahren vor
     dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der
     Gerichtskasse eine Entschädigung (einschliesslich
     Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- ausgerichtet.

 IV. Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskom-
     mission des Kantons Thurgau, der Ausgleichskasse des
     Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversiche-
     rung zugestellt.

Luzern, 31. Januar 2000

                    Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
            Der Präsident der I. Kammer:

             Die Gerichtsschreiberin: