Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 366/1998
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H 366/98 Ge

                         I. Kammer

Präsident Lustenberger, Bundesrichter Schön, Borella,
Bundesrichterinnen Widmer und Leuzinger; Gerichtsschreiber
Attinger

                 Urteil vom 17. April 2000

                         in Sachen

B.________, Beschwerdeführer,

                           gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Chutzenstrasse 10, Bern,
Beschwerdegegnerin,

                            und

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

     A.- Der 1933 geborene B.________ verheiratete sich
1956 mit H.________, welche im Jahre 1985 verstarb. Seit
1992 ist er in zweiter Ehe mit der 1938 geborenen
C.________ verheiratet. Mit Verfügung vom 17. Februar

1998 sprach ihm die Ausgleichskasse des Kantons Bern mit
Wirkung ab 1. Februar 1998 eine ordentliche Altersrente von
Fr. 1'815.- pro Monat sowie eine Zusatzrente für die Ehefrau
von monatlich Fr. 544.- zu. Diese Rente beruht auf einem
massgebenden durchschnittlichen Jahreseinkommen von
Fr. 58'506.- und der Vollrentenskala 44.

     B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die
hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher B.________ die
ungesplittete Anrechnung seiner während der ersten Ehe er-
zielten Erwerbseinkommen verlangt hatte, mit Entscheid vom
2. November 1998 ab.

     C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert
B.________ sein vorinstanzliches Rechtsbegehren.
     Sowohl die Ausgleichskasse als auch das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der Ver-
waltungsgerichtsbeschwerde.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- Vorliegend ist einzig streitig, ob dem Beschwerde-
führer im Rahmen der Altersrentenermittlung für die Kalen-
derjahre seiner ersten Ehe zu Recht bloss die Hälfte der
von ihm erzielten Erwerbseinkommen angerechnet wurde. Wäh-
rend Ausgleichskasse, Vorinstanz und BSV diese Frage beja-
hen, fordert der Versicherte die Berücksichtigung der unge-
teilten Einkommen.

     2.- Gemäss Ziff. 1 lit. c Abs. 1 Satz 1 der
Übergangsbestimmungen der 10. AHV-Revision vom 7. Oktober
1994 gelten die neuen Bestimmungen für alle Renten, auf die
der Anspruch nach dem 31. Dezember 1996 entsteht. Laut dem
am 1. Januar 1997 in Kraft getretenen Art. 29quinquies
Abs. 3 AHVG werden Einkommen, welche die Ehegatten während
der Kalenderjahre der gemeinsamen Ehe erzielt haben,
geteilt und je zur Hälfte den beiden Ehegatten angerechnet;
die Einkommensteilung wird vorgenommen, wenn beide
Ehegatten rentenberechtigt sind (lit. a), wenn eine
verwitwete Person Anspruch auf eine Altersrente hat
(lit. b) oder bei Auflösung der Ehe durch Scheidung
(lit. c).

     3.- Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wort-
laut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind ver-
schiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren
Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Aus-
legungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der
dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls
der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren,
d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur
ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn
triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht
den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe
können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung,
aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit
andern Vorschriften ergeben (BGE 125 II 196 Erw. 3a, 244
Erw. 5a, 125 V 130 Erw. 5, 180 Erw. 2a, je mit Hinweisen).

     4.- Wie die Verwaltung in ihrer letztinstanzlichen
Vernehmlassung zutreffend darlegt, erweist sich der Wort-
laut des hievor angeführten Art. 29quinquies Abs. 3 lit. b
AHVG, namentlich was den darin verwendeten Begriff "eine
verwitwete Person" ("une veuve ou un veuf", "una persona
vedova") anbelangt, als nicht ganz klar. Es stellt sich
nämlich die Frage, ob diese Bestimmung im Altersrentenfall
generell die während der Kalenderjahre einer früheren,
durch Tod aufgelösten Ehe erzielten Einkommen der damaligen
Ehegatten der hälftigen Teilung unterwirft oder aber ein
derartiges sog. Splitting nur vorsieht, wenn die rentenbe-
rechtigte Person im Zeitpunkt des Versicherungsfalls (noch
immer oder erneut) im Zivilstand der Verwitwung lebt.

     Der letztgenannten grammatikalischen Lesart stehen in-
dessen Sinn und Zweck der streitigen Vorschrift sowie deren
systematische Einordnung und Entstehungsgeschichte entge-
gen: Neben der Anrechnung von Erziehungs- und Betreuungs-
gutschriften (neue Art. 29sexies und 29septies AHVG) stellt
insbesondere der Übergang vom Ehepaarrenten- zum zivil-
standsunabhängigen Individualrentenkonzept (ersatzlose Auf-
hebung von alt Art. 22 AHVG) einen Schwerpunkt der 10. AHV-
Revision dar. Den Kern dieses neuen Rentenberechnungssys-
tems markiert das Einkommenssplitting gemäss Art. 29quin-
quies Abs. 3-5 AHVG. Nach dessen Grundgedanken - wie er im
ersten Satz von Abs. 3 der genannten Bestimmung zum Aus-
druck kommt - sollen die während der Ehe erzielten bei-
tragspflichtigen Einkommen hälftig geteilt und den beiden
Ehegatten gegenseitig im individuellen Konto gutgeschrieben
werden. Wie sich sodann aus den lit. a-c dieser Vorschrift
ergibt, ist die Einkommensteilung sowohl bei weiter beste-
hender als auch bei (durch Tod oder Scheidung) aufgelöster
Ehe vorzunehmen. Unter Berücksichtigung dieser Prinzipien
kann der - dem Zufall unterworfene - Zivilstand einer (frü-
her) verwitweten Person im Zeitpunkt des Altersrentenfalles
keine Rolle spielen. Nur diese Auslegung der lit. b von
Art. 29quinquies Abs. 3 AHVG entspricht der Regelungsab-
sicht des Gesetzgebers, wie sie durch die zugehörigen Mate-
rialien dokumentiert wird (Amtl. Bull. 1993 N 254 f., 1994
S 549, 559 und 597 sowie N 1355).

     5.- Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
Rechtsgleichheitsüberlegungen angestellt werden (zu deren
Massgeblichkeit bei der Auslegung vgl. BGE 119 V 130
Erw. 5b), lässt sich daraus ebenfalls nichts zu Gunsten des
Beschwerdeführers ableiten. Denn zeitigt die Interpretation
anhand der normunmittelbaren Kriterien, wie hier, ein
schlüssiges Ergebnis, bleibt im Rahmen von Art. 191 der am
1. Januar 2000 in Kraft getretenen neuen Bundesverfassung
vom 18. April 1999 für eine am Gleichbehandlungsgebot

orientierte Betrachtungsweise kein Raum (zu Art. 113
Abs. 3/114bis Abs. 3 der alten Bundesverfassung ergangene
Rechtsprechung, welche gemäss nicht veröffentlichtem Urteil
A. vom 21. Februar 2000, K 108/99, unter der Herrschaft der
neuen Bundesverfassung weiterhin Geltung beansprucht: BGE
123 V 322 Erw. 6b/bb, 122 V 93 Erw. 5a/aa, 120 V 3 Erw. 1b,
je mit Hinweisen).

     6.- Nach dem von der Ausgleichskasse in ihrer letztin-
stanzlichen Vernehmlassung angeführten, revidierten
Art. 35bis AHVG haben verwitwete Bezügerinnen und Bezüger
von Altersrenten Anspruch auf einen Zuschlag von 20 % zu
ihrer Rente; Rente und Zuschlag dürfen den Höchstbetrag der
Altersrente nicht übersteigen.
     Der Verwaltung ist darin beizupflichten, dass nach dem
Rechtssinn dieser Bestimmung, wie er sich eindeutig aus der
in den Materialien dokumentierten Regelungsabsicht des Ge-
setzgebers ableiten lässt (Amtl. Bull. 1994 S 552 f., 562
und 606 sowie N 1357 ff.), der sog. Verwitwetenzuschlag den
entsprechenden Zivilstand der rentenberechtigten Person
voraussetzt. Da der Beschwerdeführer (in zweiter Ehe) ver-
heiratet ist, wurde ihm zu Recht kein Zuschlag zu seiner
Altersrente gewährt.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

 II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsge-
     richt des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
     Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
     zugestellt.

Luzern, 17. April 2000

                                  Im Namen des
                     Eidgenössischen Versicherungsgerichts
                          Der Präsident der I. Kammer:

                             Der Gerichtsschreiber: