Sozialrechtliche Abteilungen H 290/1998
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H 290/98 Hm III. Kammer Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrich- ter Meyer; Gerichtsschreiberin Berger Urteil vom 13. Juli 2000 in Sachen B.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Thomas Schwarz, Marktgasse 23, Langenthal, gegen Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, Zürich, Beschwerdegegnerin, und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur A.- Am 12. Januar 1995 wurde über die Gesellschaft P.________ AG (nachfolgend: Gesellschaft), der Konkurs eröffnet. Im Konkursverfahren machte die Ausgleichskasse Zürich eine Forderung im Gesamtbetrag von Fr. 51'260.35 für unbezahlt gebliebene bundesrechtliche Sozialversicherungsbeiträge sowie Beiträge an die kantonale Familienausgleichs- kasse, einschliesslich Mahngebühren, Verzugszinsen sowie Betreibungs- und Verwaltungskosten, für den Zeitraum 1. Ja- nuar 1993 bis 31. Juli 1994 geltend. Das Konkursamt Z.________ teilte der Ausgleichskasse am 12. September 1995 auf Anfrage mit, dass sie mit der eingegebenen Forderung vermutlich voll zu Schaden kommen werde. Mit Verfügung vom 14. August 1996 forderte die Ausgleichskasse von B.________, der vom 16. November 1993 bis 27. Juni 1994 Mitglied des Verwaltungsrates der Gesellschaft gewesen war, von U.________ und S.________, welche ebenfalls dem Verwal- tungsrat der konkursiten Gesellschaft angehört hatten, sowie von M.________, der bis zur Konkurseröffnung Dele- gierter des Verwaltungsrates war, unter solidarischer Haft- barkeit Schadenersatz in der Höhe von Fr. 51'260.35. Gegen diesen Verwaltungsakt erhob B.________ am 3. September 1996 Einspruch. B.- Am 3. Oktober 1996 reichte die Ausgleichskasse beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Klage ein mit dem Begehren, B.________ sei zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 9'963.55 zu verpflichten. Das kantonale Gericht hiess die Klage vollumfänglich gut (Entscheid vom 8. September 1998). C.- B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, der angefochtene Entscheid sei auf- zuheben; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Ausgleichskasse und der als Mitinteressierter bei- geladene U.________ verzichten auf eine Vernehmlassung. Mit Eingabe vom 30. November 1998 nimmt der ebenfalls als Mit- interessierter beigeladene S.________ zur Verwaltungsge- richtsbeschwerde Stellung. Das Bundesamt für Sozialver- sicherung lässt sich nicht vernehmen. Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 1.- Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermes- sens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensicht- lich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesent- licher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 2.- Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden, als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Im vorliegenden Verfahren ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Umfang nicht einzutreten, als sie sich gegen die Schaden- ersatzforderung für entgangene Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet (vgl. BGE 119 V 80 Erw. 1b, 118 V 69 Erw. 1b mit Hinweis). 3.- In prozessualer Hinsicht stellt sich vorab die Frage, ob das kantonale Gericht auf eine öffentliche Ver- handlung verzichten durfte, nachdem der Beschwerdeführer in seiner Klageantwort vom 18. Dezember 1996 die Durchführung einer solchen beantragt hatte. 4.- a) Rechtfertigen es die Umstände, ist gestützt auf Art. 85 Abs. 2 lit. e AHVG im Verfahren vor der kantonalen Rekursbehörde grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen. Damit gewährleistet Art. 85 Abs. 2 lit. e AHVG die von Art. 6 Ziff. 1 EMRK geforderte Öffentlichkeit der Verhandlung (vgl. dazu BGE 122 V 47, in welchem sich das Eidgenössische Versicherungsgericht eingehend mit der von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Garantie der Öf- fentlichkeit der Verhandlung im Sozialversicherungsprozess auseinandergesetzt und insbesondere die Voraussetzungen für Ausnahmen des von der Konvention geforderten Öffentlich- keitsgrundsatzes im erstinstanzlichen Rechtsmittelverfahren näher konkretisiert). Dieser Rechtsschutzanforderung trägt auch das Gesetz über das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vom 7. März 1993 (LS 212.81) Rechnung, wel- ches in § 24 vorsieht, dass die Verhandlungen des Gerichts öffentlich sind. Davon kann indessen abgewichen werden, wenn es sich um rein rechtliche Fragen handelt, die Be- schwerde offensichtlich unbegründet ist, oder wenn es die im Sozialversicherungsprozess gebotene Einfachheit und Raschheit des Verfahrens erfordert (Kieser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundes- gesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung, S. 264, mit Hinweisen). b) Streitig und zu prüfen war im vorinstanzlichen Ver- fahren, ob der Beschwerdeführer gemäss Art. 52 AHVG durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vor- schriften einen Schaden verschuldet hatte, für welchen er der Ausgleichskasse ersatzpflichtig ist. Diese Thematik lässt sich nicht als hochtechnisch im Sinne der Rechtspre- chung bezeichnen (vgl. BGE 122 V 52 f. Erw. 2d und e und 57 f. Erw. 3b/ee, je mit Hinweisen), weshalb nicht gesagt wer- den kann, das schriftliche Verfahren sei dafür besser ge- eignet. Bei der Prüfung der Haftungsvoraussetzung des qua- lifizierten Verschuldens nach Art. 52 AHVG geht es zu einem wesentlichen Teil um eine Würdigung des vom in Pflicht genommenen Organ in der kritischen Zeit an den Tag gelegten Verhaltens. Wenn schon der innere Wille einer Partei als entscheidwesentliches Element für den Anspruch auf öffent- liche Verhandlung spricht (nicht veröffentlichtes Urteil L. vom 31. Mai 1996, C 269/94), dann gilt dies umso mehr für das von der beklagten Partei im Schadenersatzprozess unter Hinweis auf ihre getroffenen Massnahmen und beschränkten Möglichkeiten bestrittene Verschulden. Sodann lassen sich die in der vorinstanzlich eingereichten Klageantwort erho- benen Einwände gegen eine Schadenersatzpflicht des Be- schwerdeführers nicht als von vornherein aussichtslos be- zeichnen, noch erscheint mit der Durchführung einer öffent- lichen Verhandlung die im Sozialversicherungsprozess gebo- tene Einfachheit und Raschheit des Verfahrens als gefähr- det. Triftige Gründe, welche gegen eine öffentliche Ver- handlung sprechen, sind nicht ersichtlich und wurden im vorinstanzlichen Verfahren denn auch von keiner Seite nam- haft gemacht. Unter den gegebenen Umständen hatte der Be- schwerdeführer somit grundsätzlich Anspruch auf Durchfüh- rung der verlangten öffentlichen Verhandlung. c) Mit Schreiben vom 26. Mai 1998 teilte das kantonale Gericht dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers mit, auf Grund einer internen Aktenzirkulation bei den am Verfahren beteiligten Mitgliedern des Gerichts habe sich gezeigt, dass die von ihm im Einspruch vom 3. September 1996 und in der Klageantwort vom 18. Dezember 1996 vorgetragenen Ent- lastungsgründe glaubhaft seien, womit "keine Notwendigkeit einer Parteibefragung" bestehe und das Gericht nunmehr die rechtliche Würdigung des Sachverhalts vorzunehmen habe. Deshalb werde er angefragt, ob er "am Antrag auf Durchfüh- rung einer Verhandlung" festhalte. Daraufhin liess der Be- schwerdeführer am 27. Mai 1998 den Verzicht auf eine öf- fentliche Hauptverhandlung erklären. Nach Entgegennahme dieser Verzichtserklärung verurteilte das kantonale Gericht den Beschwerdeführer jedoch trotz der glaubhaft gemachten Entlastungsgründe zur Bezahlung des von der Ausgleichskasse eingeklagten Schadenersatzbetrages. Im angefochtenen Ent- scheid führte es dazu zusammenfassend aus, die Haftung des ehemaligen Verwaltungsrates der Gesellschaft sei zu beja- hen, da nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der all- gemeinen Lebenserfahrung sein pflichtwidriges Verhalten zum eingetretenen Schaden geführt habe. Dieses Vorgehen verletzt den allgemeinen, bisher aus Art. 4 der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 abgeleiteten Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben, welcher Behörden wie Privaten rechtsmissbräuchliches und widersprüchliches Ver- halten verbietet (BGE 124 II 269 Erw. 4a mit Hinweis). Auf den 1. Januar 2000 ist die neue Bundesverfassung vom 18. April 1999 (BV) in Kraft getreten (Art. 1 des entspre- chenden Bundesbeschlusses vom 28. September 1999 [AS 1999 2555]). Die - im vorliegenden Zusammenhang interessierende - Grundrechtsgarantie, von den staatlichen Organen nach Treu und Glauben behandelt zu werden, wird nunmehr durch Art. 9 BV gewährleistet. Daneben wurde im zum Einleitungs- titel (mit den allgemeinen Bestimmungen) zählenden Art. 5 Abs. 3 BV ein für die gesamte Rechtsordnung im Sinne einer grundlegenden Handlungsmaxime geltendes Prinzip von Treu und Glauben verankert (Botschaft über eine neue Bundesver- fassung vom 20. November 1996, BBl 1997 I 134). Die bis- herige Rechtsprechung zum verfassungsrechtlichen Grundsatz von Treu und Glauben gilt auch unter der Herrschaft von Art. 9 BV, weshalb offen bleiben kann, ob im hier zu beur- teilenden Fall bereits die neue oder noch die alte Bundes- verfassung anwendbar ist (unveröffentlichtes Urteil S. vom 9. Mai 2000, K 23/98). d) Da die Verzichtserklärung des Beschwerdeführers vom 27. Mai 1998 einzig auf Grund der - zumindest missverständ- lichen - Darlegungen des kantonalen Gerichts im Schreiben vom 26. Mai 1998 abgegeben wurde, hätte die Vorinstanz nach dem Gesagten von der Durchführung einer öffentlichen Ver- handlung nicht absehen dürfen. Die Sache geht deshalb an das kantonale Gericht, damit dieses die öffentliche Ver- handlung, in deren Rahmen dem Beschwerdeführer auch Gele- genheit zu einer mündlichen Stellungnahme einzuräumen sein wird, durchführe und hierauf neu entscheide. 5.- Bei diesem Ergebnis kann offen bleiben, wie es sich mit den in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geäusser- ten materiellen Rügen verhält. 6.- Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen geht, ist das Verfahren kosten- pflichtig (Art. 134 OG e contrario). Einem Kanton, der nicht Partei ist, dürfen grundsätz- lich keine Gerichtskosten und Parteientschädigungen über- bunden werden. In Anwendung von Art. 156 Abs. 2 OG sowie Art. 159 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 6 OG recht- fertigt sich vorliegend indessen eine Ausnahme von dieser Regel, weil der angefochtene Entscheid in qualifizierter Weise die Pflicht zur Justizgewährleistung verletzt und den Parteien Kosten verursacht hat (in diesem Sinne bereits die nicht veröffentlichten Urteile B. vom 24. November 1999, C 179/98, C. vom 3. November 1998, K 163/97, und H. vom 16. April 1998, K 9/97). Die Gerichtskosten und die Parteientschädigung für den anwaltlich vertretenen, teilweise obsiegenden Beschwerde- führer sind deshalb dem Kanton Zürich aufzuerlegen. Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, insoweit teilweise gutgeheissen, dass der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kan- tons Zürich vom 8. September 1998 hinsichtlich der Sozialversicherungsbeiträge kraft Bundesrecht aufgeho- ben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. II. Die Gerichtskosten von Fr. 1000.- werden dem Kanton Zürich auferlegt. III. Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 1000.- ist dem Beschwerdeführer zurückzuerstatten. IV. Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliess- lich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversiche- rungsgericht des Kantons Zürich, dem Bundesamt für Sozialversicherung, U.________ und S.________ zuge- stellt. Luzern, 13. Juli 2000 Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: