Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen C 286/1998
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C 286/98

Urteil vom 27. Oktober 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger und Bundesrichter Rüedi;
Gerichtsschreiber Ackermann

A.________, 1962, Beschwerdeführer,

gegen

Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Solothurn, Untere Sternengasse 2,
4500 Solothurn, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 24. August 1998)

Sachverhalt:

A.
A. ________, geboren 1962, ist seit längerer Zeit arbeitslos und bezieht seit
dem 1. Januar 1990 Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Die Öffentliche
Arbeitslosenkasse des Kantons Solothurn setzte für die vierte Rahmenfrist für
den Leistungsbezug (1. Januar 1996 bis 31. Dezember 1997) den versicherten
Verdienst auf Fr. 3'883.-- fest und richtete Taggelder aus. Nachdem sie
erfahren hatte, dass A.________ mit Wirkung ab dem 1. Dezember 1991 eine
halbe Rente der Invalidenversicherung erhält, forderte sie mit Verfügung vom
7. Januar 1998 für die Zeit vom 1. März bis zum 31. August 1997 zu viel
ausbezahlte Taggelder im Umfang von Fr. 7'122.15 zurück.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn mit Entscheid vom 24. August 1998 ab.

C.
A.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem sinngemässen Antrag,
den vorinstanzlichen Entscheid und die Verwaltungsverfügung aufzuheben.

Die Arbeitslosenkasse schliesst sinngemäss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Wirtschaft und
Arbeit (heute Staatssekretariat für Wirtschaft) auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

D.
Im Instruktionsverfahren zog das Eidgenössische Versicherungsgericht die -
A.________ bereits bekannten - Akten der Invalidenversicherung bei.

E.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat A.________ mit Schreiben vom 20.
Oktober 2004 auf die Möglichkeit einer Verschlechterung seiner Rechtslage und
eines Rückzugs der Verwaltungsgerichtsbeschwerde aufmerksam gemacht.

F.
Mit Brief vom 23. Oktober 2004 hält A.________ an seiner
Verwaltungsgerichtsbeschwerde fest.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

1.2 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Arbeitslosenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung des Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 7. Januar
1998) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im
vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen
anwendbar.

1.3 Gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 AVIG
hat der Versicherte Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, wenn er (unter
anderem) vermittlungsfähig ist, d.h. wenn er bereit, in der Lage und
berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen. Nach Art. 15 Abs. 2 AVIG
gilt der körperlich oder geistig Behinderte als vermittlungsfähig, wenn ihm
bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung seiner
Behinderung, auf dem Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt werden
könnte. Die Kompetenz zur Regelung der Koordination mit der
Invalidenversicherung ist in Art. 15 Abs. 2 Satz 2 AVIG dem Bundesrat
übertragen worden. Dieser hat in Art. 15 Abs. 3 AVIV festgelegt, dass ein
Behinderter, der unter der Annahme einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage
nicht offensichtlich vermittlungsunfähig ist, und der sich bei der
Invalidenversicherung angemeldet hat, bis zum Entscheid der anderen
Versicherung als vermittlungsfähig gilt.

1.4 Nach Art. 95 Abs. 1 AVIG muss die Kasse Leistungen der Versicherung, auf
die der Empfänger keinen Anspruch hatte, zurückfordern. Zu Unrecht bezogene
Geldleistungen können jedoch nur dann zurückgefordert werden, wenn die
Voraussetzungen einer prozessualen Revision oder Wiedererwägung gegeben sind
(vgl. BGE 122 V 368 Erw. 3 und ARV 1998 Nr. 15 S. 79 Erw. 3b). Gemäss einem
allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts kann die Verwaltung eine
formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller
richterlicher Beurteilung gebildet hat, in Wiedererwägung ziehen, wenn sie
zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE
127 V 469 Erw. 2c mit Hinweisen). Von der Wiedererwägung ist die so genannte
prozessuale Revision von Verwaltungsverfügungen zu unterscheiden. Danach ist
die Verwaltung verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung
zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden,
die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 127
V 469 Erw. 2c mit Hinweisen).

2.
Streitig ist, ob der Beschwerdeführer die durch Taggeldabrechnungen formlos
erbrachten Leistungen für die Monate März bis August 1997 (teilweise)
zurückzuerstatten hat. Es geht also nicht nur um die Frage der
Unrechtmässigkeit des erfolgten Leistungsbezuges (Art. 95 Abs. 1 AVIG),
sondern auch darum, ob die Rückkommensvoraussetzungen - Wiedererwägung oder
prozessuale Revision (vgl. Erw. 1.4 hievor) - gegeben sind. Nicht
Streitgegenstand ist demgegenüber der Erlass der Rückerstattung der
Taggelder.

2.1 Art. 95 Abs. 1 AVIG setzt für die Rückerstattung der Taggelder die
Unrechtmässigkeit des Leistungsbezuges voraus; weitere bereichsspezifische
Erfordernisse sind nicht notwendig (ARV 1998 Nr. 15 S. 81 Erw. 5a mit
Hinweis). Der Beschwerdeführer erhält mit Wirkung ab dem 1. Dezember 1991 bei
einem Invaliditätsgrad von 50% eine halbe Rente der Invalidenversicherung
(obwohl dies bereits am 20. Januar 1993 verfügt worden ist, hat die
Arbeitslosenkasse offenbar erst viel später davon Kenntnis erhalten).
Rechtsprechungsgemäss stellt die von der Invalidenversicherung ermittelte
Erwerbsunfähigkeit eine neue erhebliche Tatsache dar, deren Unkenntnis die
Arbeitslosenkasse nicht zu vertreten hat (ARV 1998 Nr. 15 S. 81 Erw. 5a mit
Hinweisen), so dass ein Zurückkommen auf die ausgerichteten Leistungen auf
dem Weg der prozessualen Revision grundsätzlich möglich ist.

2.2 Der Beschwerdeführer ist im Herbst 1998 von den Psychiatrischen Diensten
des Kantons Solothurn zuhanden der Invalidenversicherung untersucht worden
(Gutachten vom 29. September 1998; vorher hatte sich der Versicherte in den
Jahren 1996 und 1997 von der Invalidenversicherung resp. einem Strafgericht
angeordneten Begutachtungen noch widersetzt). In der Expertise von September
1998 wird klar festgehalten, dass aus psychischen Gründen eine vollständige
Arbeitsunfähigkeit besteht und der Versicherte keine Erwerbstätigkeit an
einem Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft ausüben kann; weiter wird von
einem "chronischen, langjährigen" Verlauf gesprochen und die
Arbeitsunfähigkeit als "seit längerem bestehend" erachtet. In der Folge hat
die Invalidenversicherung denn auch mit Wirkung ab dem 1. Juli 1995 die seit
1991 laufende halbe auf eine ganze Rente erhöht (wovon die Arbeitslosenkasse
offenbar keine Kenntnis hatte). Der in den Akten liegende Bericht des Dr.
med. L.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 21. November 1995, in welchem
von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit für leidensangepasste Tätigkeiten
ausgegangen wird, ändert nichts an der Arbeitsunfähigkeit aus psychischen
Gründen, denn dieser Arzt hat zuhanden der Invalidenversicherung mit Bericht
vom 4. Januar 1996 festgehalten, dass er sich auf "die Diagnose einer
allfällig vorliegenden psychischen Störung ... nicht hinauslassen" wolle,
aber "eine psychiatrische Begutachtung wahrscheinlich sinnvoll" wäre; damit
hat Dr. med. L.________ deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sich seine
Einschätzungen der Arbeitsfähigkeit nur auf die somatische Seite beziehen.
Weiter betrifft der - aufgrund eines Unfalles resp. der Behandlung seiner
Folgen erstellte - Bericht von November 1995 nicht den hier massgebenden
Zeitraum von März bis August 1997. Damit ist davon auszugehen, dass der
Beschwerdeführer während der Zeit des Leistungsbezuges von März bis August
1997 aus gesundheitlichen Gründen gar nicht in der Lage gewesen ist, eine
zumutbare Arbeit anzunehmen (Art. 15 Abs. 1 AVIG). Daran ändert nichts, dass
der Versicherte in seinem Schreiben vom 23. Oktober 2004 vorbringt, sein
damaliger Hausarzt habe ihm ab dem 1. Juli 1997 eine volle Arbeitsfähigkeit
attestiert, da sich dies offensichtlich nur auf einen im Sommer 1996
erlittenen Unfall bezieht. Auch vermag der Beschwerdeführer aus der Tatsache,
bis Frühjahr 1997 Teilzeitarbeit auf Abruf geleistet zu haben, nichts zu
seinen Gunsten abzuleiten, hat er doch im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses
jeweils bloss sehr geringe Beträge verdient (mit Ausnahme des Dezember 1996,
in welchem Monat Fr. 551.45 erzielt worden sind), so dass daraus keinerlei
Rückschlüsse auf die Vermittelbarkeit gezogen werden können.
In der Folge ist die Vermutung des Art. 15 Abs. 2 AVIG widerlegt worden,
wonach ein körperlich oder geistig Behinderter als vermittlungsfähig gilt,
wenn ihm bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung seiner
Behinderung, auf dem Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt werden
könnte. Damit hat der Versicherte die in den Monaten März bis August 1997
ausbezahlten Taggelder in vollem Umfang - und nicht nur zur Hälfte, wie
Vorinstanz und Verwaltung angenommen haben - zu Unrecht ausbezahlt erhalten.
Der Versicherte wurde rechtsprechungsgemäss (BGE 122 V 166) ausdrücklich auf
die Möglichkeit einer Verschlechterung seiner Rechtslage sowie auf die
Möglichkeit eines Beschwerderückzugs hingewiesen, wovon er keinen Gebrauch
gemacht hat. Damit sind auch die formellen Voraussetzungen für eine
reformatio in peius (Art. 132 lit. c OG) erfüllt. Die Sache ist daher an die
Kasse zurückzuweisen, damit sie den Umfang der Rückerstattung neu festlege.

2.3 Da es mangels Vermittelbarkeit bereits an der Anspruchsberechtigung als
solcher fehlt (Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG), erübrigt sich eine allfällige
Korrektur des versicherten Verdienstes.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

In Aufhebung des Entscheides des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 24. August 1998 und der Verfügung der Öffentlichen Arbeitslosenkasse des
Kantons Solothurn vom 7. Januar 1998 wird festgestellt, dass der
Beschwerdeführer in den Monaten März bis August 1997 keinen Anspruch auf
Taggelder der Arbeitslosenversicherung hatte, und es wird die Sache an die
Verwaltung zurückgewiesen, damit sie über die Rückforderung neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Solothurn und dem
Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.

Luzern, 27. Oktober 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: