Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 28



99 V 28

7. Auszug aus dem Urteil vom 21. März 1973 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Sch. und Rekursbehörde für die Sozialversicherung
des Kantons Basel-Landschaft Regeste

    Invaliditätsbegriff (Art. 4 Abs. 1 IVG).

    Rauschgiftsucht erfüllt an sich diesen Begriff nicht; sie kann jedoch
invalidierende Gesundheitsschäden zur Folge haben oder ihrerseits Symptom
einer geistigen Störung mit K rankheitswert sein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- ... Wie in ständiger Rechtsprechung bezüglich der Trunksucht
entschieden worden ist, begründet diese, für sich allein betrachtet,
keine Invalidität im Sinne des Gesetzes (EVGE 1968 S. 278 Erw. 3 a),
ebensowenig wie der suchtbedingte Missbrauch von Medikamenten (ZAK 1964 S.
122). Dem Bundesamt für Sozialversicherung ist in der Feststellung
beizupflichten, dass von der Rauschgiftsucht gleiches gilt; denn es gibt
keinen entscheidenden Grund, diese Sucht invalidenversicherungsrechtlich
anders zu behandeln. Dagegen wird eine solche Sucht im Rahmen der
Invalidenversicherung relevant, wenn sie eine K rankheit oder einen
Unfall bewirkt hat, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger, die
Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender Gesundheitsschaden eingetreten ist,
oder wenn sie selber Folge eines geistigen Gesundheitsschadens ist,
dem Krankheitswert zukommt.

    Krankheitswert haben geistige Gesundheitsschäden grundsätzlich nur
dann, wenn sie die Erwerbsfähigkeit (bzw. die Ausbildung) bleibend oder
längere Zeit zu beeinträchtigen vermögen. Allgemein wird für die Abgrenzung
der versicherten von den nichtversicherten Gesundheitsschäden geistiger
Art auf die Begriffe der Zumutbarkeit im Sinne des Art. 28 Abs. 2 IVG
und der längeren bzw. bleibenden Dauer im Sinne des Art. 4 Abs. 1 IVG
abgestellt. So genügt es für die Annahme einer leistungsbegründenden
Abwegigkeit nicht, dass der Versicherte nicht hinreichend erwerbstätig
ist (bzw. sich seiner Ausbildung nicht widmet); entscheidend ist
vielmehr, ob anzunehmen sei, die Verwertung der Arbeitsfähigkeit
(bzw. Ausbildungsfähigkeit) sei sozial-praktisch nicht mehr zumutbar
und sogar für die Gesellschaft untragbar (vgl. EVGE 1961 S. 164 f.
Erw. 3, 1963 S. 34 Erw. 1, 1964 S. 157 Erw. 3, 1968 S. 278 Erw. 3 a
sowie zahlreiche unveröffentlichte Urteile). Folglich bedeutet kaum
je eine fachärztlich festgestellte psychische Krankheit ohne weiteres
auch das Vorliegen einer Invalidität. In jedem Einzelfall muss eine
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit - bzw. der Ausbildung -, unabhängig
von der Diagnose und grundsätzlich unbesehen der Aetiologie, ausgewiesen
und in ihrem Ausmass bestimmt sein (vgl. das grundsätzliche Gutachten
von Prof. Dr. E. P. und PD Dr. C. H. über die Behandlung geistiger
Gesundheitsschäden in der Invalidenversicherung vom 18. September 1961,
S. 24, im übrigen zusammengefasst in EVGE 1961 S. 327/328).

Erwägung 3

    3.- a) Im vorliegenden Fall wird - in Übereinstimmung mit der gesamten
Aktenlage - von keiner Seite geltend gemacht, der missbräuchliche
Drogenkonsum des Beschwerdegegners habe körperliche oder geistige
Gesundheitsschäden bewirkt, welche die Intensität einer Invalidität im
Sinne des Gesetzes erreichten, welche also die (künftige) Erwerbsfähigkeit
des Beschwerdegegners bleibend oder während längerer Zeit fühlbar zu
beeinträchtigen vermöchten. Das wäre nach dem Gesagten dann zu bejahen,
wenn schon heute feststünde, dass der Beschwerdegegner voraussichtlich
mit einer bleibend verminderten Erwerbsfähigkeit in das Erwerbsleben
eintreten oder dass er erst mit einer "längere Zeit dauernden" Verspätung
die normale Erwerbstätigkeit aufnehmen wird. Jedoch ist weder das eine
noch das andere dargetan: Während eine bleibende (also im wesentlichen
auch irreversible) Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit im vorneherein
ausgeschlossen werden kann, ergibt ein Vergleich der ursprünglichen
Ausbildungsdauer mit der unter den gegenwärtigen Umständen zu erwartenden
Lehrzeit eine Verzögerung von einem Jahr. Das stellt noch keine längere
Zeit dauernde Beeinträchtigung dar (unveröffentlichtes Urteil i.S.
Lautenschlager vom 9. Oktober 1972), zumal nur hypothetisch angenommen
wird, die andere Ausbildung (zum Maschinenzeichner) wäre ein Jahr früher
beendet gewesen; denn nicht wenige Kinder und Jugendliche müssen aus
verschiedensten Gründen eine einjährige Verlängerung ihrer Ausbildung
auf sich nehmen, ohne dass die Invalidenversicherung für den dadurch
bewirkten Erwerbsausfall aufzukommen hätte.

    b) Bewirkte somit der Drogenkonsum selbst keinen Gesundheitsschaden,
welcher eine leistungsbegründende Invalidität darstellt, so bleibt
gemäss der Fragestellung des Bundesamtes offen, ob die Rauschgiftsucht
ihrerseits Symptom einer geistigen Störung mit Krankheitswert sei. Diese
Frage ist zu verneinen, ohne dass im Sinne des bundesamtlichen Antrages ein
weiteres fachärztliches Gutachten eingeholt zu werden braucht. Wenn auch
nicht mit Sicherheit, so kann doch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
angenommen werden, den beim Beschwerdegegner vorhandenen psychiatrischen
Befunden sei nicht Krankheitswert im Sinne des Invaliditätsbegriffes
beizumessen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass der Beschwerdegegner
infolge der festgestellten Steuerungsschwäche und der bestehenden
Verwahrlosungsstruktur suchtgefährdeter war als ein Jüngling ohne diese
Störungen. Aber da - wie dargelegt - die Drogenabhängigkeit selbst
nicht zu einem Gesundheitsschaden geführt hat, der eine Invalidität im
Sinne des Art. 4 Abs. 1 IVG begründet, kann den psychischen Störungen
als Ursache oder Mitursache der Sucht kaum Invaliditätscharakter
zukommen. Denn das würde bedeuten, dass dem Beschwerdegegner infolge
seines geistigen Gesundheitsschadens eine seinen intellektuellen
Fähigkeiten entsprechende Berufsausbildung unzumutbar wäre und er selbst
als für die Gesellschaft untragbar erschiene. Er müsste daher, auch ohne
der Rauschgiftsucht verfallen zu sein, infolge Beeinträchtigung seiner
geistigen bzw. psychischen Gesundheit als invalid gelten und es auch nach
Entwöhnung von der Abhängigkeit bleiben. Davon kann aber nicht die Rede
sein. Er bedurfte neben der Entwöhnung und der weitern Suchtprophylaxe
vor allem der Nacherziehung; dies waren die Hauptzwecke der Plazierung
in der Pestalozzi-Jugendstätte. Die begleitende Berufsausbildung tritt
dabei - wie das Bundesamt zutreffend bemerkt - in den Hintergrund. Hätte
die Invalidenversicherung in diesem Fall gestützt auf Art. 16 Abs. 1
IVG für die Mehrkosten aufzukommen, so müsste sie an die erstmalige
Berufsausbildung aller Jugendlichen Beiträge leisten, die infolge
Erziehungsschwierigkeiten, Schulversagens, Charakteranomalien oder
Verwahrlosung in Heime eingewiesen und dort auf eine Erwerbstätigkeit
vorbereitet werden. Das kann aber nicht Aufgabe der Invalidenversicherung
sein.