Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 212



99 V 212

62. Urteil vom 12. Oktober 1973 i.S. Tschopp gegen Ausgleichskasse VATI
und Rekursbehörde für die Sozialversicherung des Kantons Basel-Landschaft
Regeste

    Haftung für das Eingliederungsrisiko (Art. 11 Abs. 2 IVG).  Anspruch
auf die erweiterte Risikodeckung haben auch die gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG
von einer Invalidität unmittelbar bedrohten Versicherten.

Sachverhalt

    A.- Die 1942 geborene Verena Tschopp wies eine angeborene
Beinverkürzung rechts auf, die zu einem Beckenschiefstand und damit
verbundenen Rückenbeschwerden führte. Am 19. Oktober 1966 meldete sie
sich bei der Invalidenversicherung an mit dem Gesuch um Kostenübernahme
für einen operativen Ausgleich der Beinverkürzung. Mit Beschluss
vom 5. Dezember 1966 leistete die Invalidenversicherungs-Kommission
Kostengutsprache für die Operation samt Nachbehandlung. Im Verlaufe des am
4. Februar 1967 im Krankenhaus B. durchgeführten Eingriffs zeigte sich,
dass die ursprünglich vorgesehene Verkürzungsosteotomie von 4,5 cm nicht
durchführbar war. Der operierende Arzt Dr. F. entschloss sich daher,
ein links gewonnenes Knochensegment von 1,5 cm am rechten Schienbeinkopf
einzufügen.

    Mit Bericht vom 17. Mai 1967 teilte Dr. F. der
Invalidenversicherungs-Kommission mit, im Anschluss an die Operation
sei es zu einer schweren Staphylokokken-Infektion gekommen, die zu einer
Nekrotisierung des am rechten Schienbein eingesetzten Knochenstückes und
praktisch zu einer völligen Abstossung der Muskulatur am Unterschenkel
geführt habe. In der Folge trat eine Peronaeus-Lähmung rechts mit Hängefuss
und Krallenzehen auf.

    In Ergänzung ihres früheren Beschlusses leistete die
Invalidenversicherungs-Kommission am 22. Januar 1968 Kostengutsprache für
eine plastische Operation am rechten Unterschenkel sowie für konsiliarische
Abklärungen. Zudem wurde am 16. Juni 1969 Kostenübernahme für die Korrektur
der Fussfehlstellung beschlossen.

    Mit Eingabe vom 14. Juli 1971 machte Advokat Dr. S. namens der
Versicherten eine Schadenersatzforderung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 IVG
für bereits erlittenen und künftigen Erwerbsausfall von insgesamt Fr. 81
906.65 geltend.

    Gestützt auf einen weiteren Bericht von Dr. F. und eine
Stellungnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung wies die
Invalidenversicherungs-Kommission das Begehren mit Beschluss vom 31. Januar
1972 ab.

    B.- Gegen die entsprechende Kassenverfügung vom 9. Februar 1972 erhob
Dr. S. Beschwerde bei der kantonalen Rekursbehörde. In der Begründung wird
ausgeführt, das Gesetz sage nicht ausdrücklich, in welchem Zeitpunkt der
Rentenanspruch bestehen müsse. Da aber nach Art. 8 Abs. 1 IVG die von einer
Invalidität unmittelbar Bedrohten den Invaliden gleichgestellt seien, lasse
es sich nicht rechtfertigen, sie hinsichtlich des Eingliederungsrisikos
schlechter zu behandeln. Mit Rücksicht auf den Grundsatz "Eingliederung
vor Rente" könne es zudem nicht darauf ankommen, ob der Versicherte
zunächst selbst medizinische Massnahmen verlangt oder ob Antrag auf
Rente gestellt ist, aufGrund dessen die Invalidenversicherungs-Kommission
vorerst medizinische Eingliederungsmassnahmen anordnet.

    Die Rekursbehörde für die Sozialversicherung des Kantons
Basel-Landschaft wies die Beschwerde mit Entscheid vom 23. November 1972
ab. Aus dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 2 IVG ergebe sich klar, dass der
volle Schaden nur zu ersetzen sei, wenn die Invalidenversicherung - statt
einem Rentenbegehren zu entsprechen - vom Versicherten verlangt, dass er
sich zunächst Eingliederungsmassnahmen unterzieht. Ob für die Anwendbarkeit
von Art. 11 Abs. 2 IVG auch eine unmittelbar drohende Invalidität im
Sinne von Art. 8 Abs. 1 IVG genüge, könne offen gelassen werden, da es
sich vorliegend jedenfalls nicht um eine von der Invalidenversicherung
zugemutete Eingliederungsmassnahme handle.

    C.- Gegen diesen Entscheid erhebt der Rechtsvertreter der Versicherten
rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Er macht erneut geltend, eine
Haftung der Invalidenversicherung für das volle Eingliederungsrisiko
sei schon dann gegeben, wenn der Versicherte ohne Durchführung von
Eingliederungsmassnahmen in absehbarer Zeit als Rentenbezüger in Betracht
fallen würde. Indem die Invalidenversicherung den Eingriff als medizinische
Eingliederungsmassnahme angeordnet habe, sei anerkannt worden, dass die
Versicherte von einer Invalidität unmittelbar bedroht gewesen sei. Die
Invalidenversicherung sei daher haftbar für die Folgen des gegen den
Willen der Versicherten durchgeführten Eingriffs.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung lässt sich mit dem Antrag auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 11 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
Ersatz der Heilungskosten für Krankheiten und Unfälle, die durch
Eingliederungsmassnahmen verursacht werden. Die entsprechende Haftung
besteht grundsätzlich nur, wenn eine von der Invalidenversicherung
angeordnete Eingliederungsmassnahme die adäquate Ursache einer den
Versicherten schädigenden Krankheit oder eines diesen beeinträchtigenden
Unfalles ist. Die Haftung der Invalidenversicherung ist auch zu bejahen,
wenn die in Frage stehende Eingliederungsmassnahme lediglich eine adäquate
Teilursache der Krankheit oder des Unfalles ist (EVGE 1968 S. 199, 1965
S. 77).

    Erfüllt der Versicherte hinsichtlich der Invalidität
die Voraussetzungen für den Rentenanspruch, werden ihm jedoch
Eingliederungsmassnahmen zugemutet, so erstreckt sich der Anspruch auch
auf den Ersatz des nach Art. 11 Abs. 1 IVG nicht gedeckten Schadens
(Art. 11 Abs. 2 IVG).

Erwägung 2

    2.- Es ist unbestritten, dass die Invalidenversicherung gemäss Art. 11
Abs. 1 IVG für die Heilungskosten bezüglich der im Anschluss an die
Operation aufgetretenen Folgeerscheinungen aufzukommen hatte. Fraglich
ist dagegen, ob eine Haftung auch für den über die Heilungskosten
hinausgehenden Schaden besteht.

    Die Beschwerdeführerin möchte Art. 11 Abs. 2 IVG in dem Sinne
verstanden wissen, dass die Invalidenversicherung für den über die
Heilungskosten hinausgehenden Schaden auch dann aufzukommen hat,
wenn keine Rente beantragt worden ist, jedoch ohne Durchführung der
Eingliederungsmassnahme mit einer künftigen rentenbegründenden Invalidität
im Sinne von Art. 8 Abs. 1 IVG in absehbarer Zeit gerechnet werden müsste.

Erwägung 3

    3.- Auf die Anmeldung eines Versicherten hin hat die
Invalidenversicherungs-Kommission von Amtes wegen abzuklären, ob vorgängig
der Gewährung einer Rente Eingliederungsmassnahmen durchzuführen sind,
selbst wenn solche vom Versicherten nicht verlangt werden. Daher ist der
Beschwerdeführerin darin beizupflichten, dass das Ausmass der Risikodeckung
nicht davon abhängig ist, ob der Versicherte primär eine Rente oder aber
Kostenübernahme für eine Eingliederungsmassnahme beantragt. Vielmehr
muss objektiv festgestellt werden, ob nach den gegebenen Umständen
eine Invalidität von rentenbegründendem Ausmass bestanden hat, die
Anlass zu vorgängigen Anordnungen von Eingliederungsmassnahmen geben
musste. Andernfalls würde derjenige Versicherte schlechter gestellt,
der, obwohl mindestens zu 50% invalid, gemäss der gesetzlichen Ordnung
vorerst die Gewährung von Eingliederungsmassnahmen beantragt, gegenüber
demjenigen Versicherten, der auf einer Rentengewährung beharrt, obwohl
vorgängig Eingliederungsmassnahmen am Platze sind.

Erwägung 4

    4.- Art. 11 Abs. 2 IVG setzt unter anderem voraus, dass dem
Versicherten Eingliederungsmassnahmen "zugemutet" werden. Aus
dieser Formulierung darf nicht geschlossen werden, die erweiterte
Risikodeckung bestehe nur, wenn die Eingliederungsmassnahme gegen den
Willen des Versicherten angeordnet würde. Wie den Erläuterungen in der
Botschaft des Bundesrates vom 24.Oktober 1958 (BBl 1958 II S. 1174;
Separatausgabe S. 38) zu entnehmen ist, wollte mit der Verwendung des
Ausdrucks "zumuten" lediglich festgehalten werden, dass es sich auch
im Rahmen dieser Spezialnorm nur um zumutbare Eingliederungsmassnahmen
handeln kann. Sinngemäss will also die genannte Bestimmung besagen,
dass die erweiterte Risikodeckung gewährt wird, wenn zumutbare
Eingliederungsmassnahmen angeordnet werden.

    Etwas anderes lässt sich auch aus dem Wort "jedoch" im erwähnten
Satzteil nicht ableiten. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend dartut,
wird damit lediglich auf die gesetzliche Ordnung hingewiesen, wonach die
Eingliederungsmassnahmen vor den Renten stehen.

Erwägung 5

    5.- Weitere Voraussetzung für die erweiterte Risikodeckung ist nach
Art. 11 Abs. 2 IVG, dass der Versicherte hinsichtlich der Invalidität
die Voraussetzungen für den Rentenanspruch erfüllt.

    Der Wortlaut dieser Bestimmung lässt darauf schliessen, dass die
Voraussetzungen für den Rentenanspruch in dem Zeitpunkt gegeben sein
müssen, da - anstelle der Rentenzusprechung - Eingliederungsmassnahmen
angeordnet werden. Die Beschwerdeführerin macht jedoch geltend,
dass nach Art. 8 Abs. 1 IVG nicht nur der Invalide, sondern auch der
von einer Invalidität unmittelbar bedrohte Versicherte Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen hat. In analoger Weise müsse im Rahmen des Art. 11
Abs. 2. IVG der Fall behandelt werden, wo der Rentenanspruch unmittelbar
bzw. in absehbarer Zeit bevorstehe, falls keine Eingliederungsmassnahmen
durchgeführt würden. Dies habe auch der Bundesrat in der Botschaft vom
24. Oktober 1958 (BBl 1958 II S. 1174 und 1256; Separatausgabe S. 38 und
120) klar zum Ausdruck gebracht.

    Der Auffassung der Beschwerdeführerin ist beizupflichten. Der
Grundsatz des Art. 8 Abs. 1 IVG ist auch im Rahmen von Art. 11 Abs. 2 IVG
anwendbar. Es macht daher keinen Unterschied aus, ob die Voraussetzungen
des Rentenanspruchs im Zeitpunkt der Eingliederungsmassnahme bereits
erfüllt sind oder ob der Rentenanspruch unmittelbar bevorsteht.

    Zum Begriff der Unmittelbarkeit im Sinne des Art. 8 Abs. 1 IVG hat
das Eidg. Versicherungsgericht in BGE 96 V 76 festgestellt, dass er
gegeben ist, wenn eine Invalidität in absehbarer Zeit einzutreten droht,
nicht aber, wenn der Eintritt der Invalidität zwar als gewiss erscheint,
der Zeitpunkt dieses Eintrittes aber ungewiss ist. Diese Grundsätze sind
auch im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 IVG anwendbar.

Erwägung 6

    6.- Im vorliegenden Falle ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin
im Zeitpunkt der Kassenverfügung, welche die Eingliederungsmassnahme
anordnete, nicht in rentenbegründendem Ausmass invalid war. Ob damals eine
rentenbegründende Invalidität in absehbarer Zeit einzutreten drohte, ergibt
sich aus den Akten nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit. Dr. F. teilte
der Invalidenversicherungs-Kommission im November 1966 mit, durch den
Eingriff würden künftig auftretende Kreuzschmerzen behoben, welche die
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sicher beeinträchtigen würden. Aber es
steht nicht fest, ob damals anzunehmen war, diese Beeinträchtigung werde
ein rentenbegründendes Ausmass erreichen, und ob der Zeitpunkt ihres
Eintrittes absehbar war oder noch ungewiss.

    Hierüber wird die Invalidenversicherungs-Kommission noch nähere
Abklärungen zu treffen haben. Sollte sie darnach die Voraussetzungen
des Art. 11 Abs. 2 IVG als erfüllt erachten, dann hätte sie weiter das
Massliche der Schadenersatzforderung abzuklären. Die Ausgleichskasse wird
alsdann in jedem Falle eine neue beschwerdefähige Verfügung erlassen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird insoweit gutgeheissen, als der
vorinstanzliche Entscheid und die angefochtene Kassenverfügung aufgehoben
werden und die Sache zu weiterer Abklärung im Sinne der Erwägungen und
zu neuer Verfügung an die Ausgleichskasse VATI zurückgewiesen wird.