Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 200



99 V 200

60. Urteil vom 21. Dezember 1973 i.S. Hemmi gegen Ausgleichskasse des
Schweizerischen Baumeisterverbandes und Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden Regeste

    Rentenanspruch der verwitweten Pflegemutter.

    Witwen, welche die Bedingungen des Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG bereits
vor Inkrafttreten dieser Bestimmung erfüllt haben, steht der Anspruch auf
Witwenrente ab 1. Januar 1973 zu (unechte Rückwirkung des neuen Rechts).

Sachverhalt

    A.- Die kinderlosen Eheleute Hemmi nahmen in den Jahren 1962 und
1964 zwei Kinder unentgeltlich zur Pflege auf. Am 16. April 1965 starb
Jakob Hemmi. Die Witwe Klara Hemmi adoptierte am 21. Februar 1970
die beiden Kinder, nachdem sie die hiefür geltenden zivilrechtlichen
Voraussetzungen erfüllt hatte. Mit Verfügungen vom 21. Juni 1965
sprach die Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes der
Versicherten eine einmalige Witwenabfindung im Betrage von Fr. 7104.--
sowie zwei einfache Waisenrenten für die Pflegekinder von je Fr. 99.-
im Monat zu. Die Ausrichtung einer Witwenrente wurde abgelehnt, weil
die massgebenden Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Eine hiegegen
erhobene Beschwerde wies die Rekurskommission des Kantons Graubünden für
Sozialversicherung mit Entscheid vom 11. Oktober 1965 ab.

    B.- Anfangs 1973 gelangte Klara Hemmi erneut an die Ausgleichskasse
mit dem Gesuch um Ausrichtung einer Witwenrente. Sie stützte sich
dabei auf die im Rahmen der 8. AHV-Revision geänderte Bestimmung über
den Rentenanspruch der Witwe. Die Ausgleichskasse wies das Begehren
entsprechend einer Weisung des Bundesamtes für Sozialversicherung wiederum
ab, da das neue, auf den 1. Januar 1973 in Kraft getretene Recht nicht
rückwirkend Anwendung finde.

    C.- Gegen diese Verfügung erhob die Versicherte Beschwerde, die vom
Versicherungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 2. März 1973
jedoch abgewiesen wurde. In den Urteilserwägungen führte das Gericht aus,
die von der Verwaltungsrechtsprechung an die ausnahmsweise Rückwirkung
von Gesetzesbestimmungen gestellten Voraussetzungen seien im vorliegenden
Falle nicht erfüllt. Eine rückwirkende Anwendung von Art. 23 Abs. 1 lit. c
AHVG sei ausgeschlossen, da sie weder im Gesetz angeordnet sei noch sich
aus dem Sinnzusammenhang klar ergebe. Es seien keine triftigen Gründe
ersichtlich, die eine Rückwirkung rechtfertigen würden. Zudem wäre auch
das Erfordernis der zeitlichen Beschränkung der Rückwirkung nicht erfüllt.

    D.- Klara Hemmi erhebt rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde. In
der Begründung macht sie geltend, im Gegensatz zur Annahme der Vorinstanz
verlange sie nicht eine rückwirkende Anwendung von Art. 23 Abs. 1 lit. c
AHVG, sondern lediglich dessen Anwendung ab Inkrafttreten. Im Falle des
Wiederauflebens der Witwenrente bei Scheidung sei die Anwendbarkeit des
neuen Rechts auf die vor seinem Inkrafttreten eingetretenen Tatbestände
anerkannt worden. Dies müsse auch für Witwen mit Pflegekindern Geltung
haben, deren Rentenanspruch sich nach der gleichen Gesetzesbestimmung
richte.

    Während die Ausgleichskasse auf eine weitere Stellungnahme
verzichtet, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Amt teilt die Auffassung der Vorinstanz,
wonach die Voraussetzungen für eine rückwirkende Anwendung des neuen Rechts
nicht erfüllt seien. Dass im Falle des Wiederauflebens der Witwenrente
bei Scheidung eine Rückwirkung vorgesehen worden sei, bedeute keinen
Verstoss gegen den Gleichheitsgrundsatz, da die Verhältnisse nicht die
gleichen seien wie bei Witwen mit Pflegekindern.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Anlässlich der 8. AHV-Revision hat der Gesetzgeber den Anspruch
auf Witwenrente insofern erweitert, als mit Wirkung ab 1. Januar 1973 nun
auch Witwen mit Stiefkindern des verstorbenen Ehemannes und Witwen mit
Pflegekindern unter bestimmten Voraussetzungen rentenberechtigt sind. Für
Witwen mit Pflegekindern besteht ein Anspruch, sofern im Zeitpunkt der
Verwitwung eines oder mehrere Pflegekinder im gemeinsamen Haushalt leben,
die durch den Tod des Ehemannes Anspruch auf eine Waisenrente erwerben,
und sofern der Ehemann unmittelbar vor dem Tode im Sinne von Art. 1 oder 2
AHVG versichert war und das oder die Pflegekinder von der Witwe an Kindes
Statt angenommen werden (Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG).

    Im vorliegenden Fall lebten im Zeitpunkt der Verwitwung zwei
Pflegekinder im gemeinsamen Haushalt, die Anspruch auf eine Waisenrente
hatten. Unmittelbar vor seinem Tode war der Ehemann versichert im Sinne von
Art. 1 Abs. 1 AHVG. Die Pflegekinder wurden von der Witwe am 21. Februar
1970 adoptiert. Somit sind die Voraussetzungen zur Ausrichtung einer
Witwenrente nach Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG an sich erfüllt. Jedoch sind
sowohl die Verwitwung wie auch die Adoption vor Inkrafttreten der neuen
Gesetzesbestimmung erfolgt. Ein Anspruch auf Witwenrente besteht daher
nur, falls das neue Recht auch auf die vor dem 1. Januar 1973 verwitweten
Frauen Anwendung findet.

Erwägung 2

    2.- Die Änderungserlasse zur 8. AHV-Revision enthalten keine
Übergangsbestimmung bezüglich des Rentenanspruchs von Witwen mit
Pflegekindern. Es blieb daher zunächst der Verwaltung überlassen, eine
diesbezügliche Regelung zu treffen. Mit Kreisschreiben vom 12. Oktober
1972 wies das Bundesamt für Sozialversicherung die Ausgleichskassen an,
Witwenrenten nach neuem Recht nur auszurichten, wenn der Tod des Ehemannes
nach dem 31. Dezember 1972 eingetreten ist (Rz. 50 des Kreisschreibens
II über die Durchführung der 8. AHV-Revision auf dem Gebiete der
Renten). Das Bundesamt stützte sich dabei auf die in Lehre und Praxis
umschriebenen Voraussetzungen einer (ausnahmsweisen) Rückwirkung von
Verwaltungsgesetzen. Danach ist eine rückwirkende Anwendung neuen Rechts
ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage nur möglich, wenn sich die
Rückwirkung aus dem Gesetzesinhalt als klar gewollt ergibt und wenn sie
durch triftige Gründe veranlasst und zeitlich beschränkt ist (vgl. IMBODEN,
Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. Auflage, Band I S. 160
ff., BGE 94 I 5, 92 I 233; EVGE 1968 S. 64). An diesen Grundsätzen ist
festzuhalten. Es gilt jedoch zu beachten, dass von einer Rückwirkung im
eigentlichen Sinne nur gesprochen werden kann, wenn das neue Recht auf
Sachverhalte angewendet wird, die sich abschliessend vor Inkrafttreten
dieses Rechtes verwirklicht haben. Anders verhält es sich dagegen, wenn
das neue Recht - gestützt auf Sachverhalte, die früher eingetreten sind -
lediglich für die Zeit seit Inkrafttreten (ex nunc et pro futuro) Anwendung
findet. Eine in dieser Weise beschränkte, sog. unechte Rückwirkung ist
grundsätzlich als zulässig zu erachten, sofern ihr nicht wohlerworbene
Rechte entgegenstehen (GRISEL, Droit administratif suisse, S. 189; BGE 96
I 555, 92 I 233; Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden, Heft 26, 1956,
Nr. 12). Keine Bedenken ergeben sich, falls sich die Gesetzesänderung
in einer Verbesserung des Rechtszustandes zu Gunsten der Normadressaten
erschöpft. Dies bedeutet jedoch nicht, dass den Betroffenen unter diesen
Umständen generell ein Anspruch auf rückwirkende Anwendung des neuen
Rechts zustehen würde.

    Im Falle der Gesetzesnovelle von Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG steht
keine eigentliche Rückwirkung zur Diskussion. Es stellt sich lediglich
die Frage, ob Leistungen nach neuem Recht vom Zeitpunkt des Inkrafttretens
an auch in Fällen zu erbringen seien, in welchen der anspruchsbegründende
Sachverhalt bereits vor der Geltung des neuen Rechts eingetreten ist. Da
eine diesbezügliche gesetzliche Regelung fehlt, ist vom Richter zu prüfen,
welche übergangsrechtliche Ordnung sich als richtig erweist. Er hat dabei
zu berücksichtigen, welche intertemporale Regelung die Normadressaten
unter den ihnen erkennbaren Umständen erwarten durften.

Erwägung 3

    3.- a) Der Zweck einer Gesetzesänderung kann darin bestehen, den
geltenden Rechtszustand für die Zukunft zu Gunsten jener Normadressaten zu
verbessern, deren Anspruch unter der Herrschaft und nach Massgabe des neuen
Rechts entstehen wird. Sie kann aber auch auf die Beseitigung bestehender
Lücken im Leistungssystem gerichtet sein, mit dem Ziel, die Ausrichtung von
Leistungen in Fällen zu ermöglichen, in welchen sie nach bisherigem Recht
verweigert werden mussten. Namentlich im Sozialversicherungsrecht liegt
Gesetzesrevisionen häufig dieses zweite Motiv zu Grunde. Die Beispiele
für Gesetzesänderungen, bei welchen das neue Recht ohne ausdrückliche
Übergangsbestimmung auch auf Sachverhalte, die sich vor Inkrafttreten
ereignet haben, angewendet wurden, sind denn auch zahlreich.

    So wurde mit Bundesgesetz vom 4. Oktober 1968 die Bestimmung
des Art. 43bis AHVG eingeführt, welche mit Wirkung ab 1. Januar 1969
Altersrentnern Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit
schweren Grades gibt. Obgleich eine diesbezügliche Übergangsbestimmung
fehlt, wurde diese Leistung auch den vor Inkrafttreten der Gesetzesnovelle
in schwerem Grade hilflos gewordenen Altersrentnern ausgerichtet.

    Anlässlich der 8. AHV-Revision wurde Art. 46 AHVV unter anderem in dem
Sinne geändert, dass die wegen Wiederverheiratung erloschene Witwenrente
nicht nur wie bisher bei Ungültigerklärung, sondern auch bei Scheidung
der neuen Ehe unter bestimmten Voraussetzungen wieder auflebt. Diese
Neuregelung wurde vom Bundesamt für Sozialversicherung ausdrücklich auch
auf Fälle anwendbar erklärt, bei denen die Scheidung vor dem 1. Januar
1973 ausgesprochen worden ist (Rz. 131 der AHV-Mitteilung Nr. 50 vom
12. Februar 1973; vgl. auch ZAK 1973 S. 161 Ziff. 9), nachdem das Amt
anfänglich die gegenteilige Auffassung vertreten hatte (vgl. Rz. 59 des
Kreisschreibens II über die Durchführung der 8. AHV-Revision auf dem
Gebiete der Renten vom 12. Oktober 1972).

    Ferner ist auf das Änderungsgesetz vom 27. September 1973
zum KUVG hinzuweisen, mit welchem unter anderem der Anspruch auf
Hinterlassenenrenten der Unfallversicherung auf Pflegekinder ausgedehnt
worden ist. Aus den Übergangsbestimmungen dieser Novelle (Ziffer III:
Inkrafttreten) geht implicite der Wille des Gesetzes hervor, dass
Leistungen an Pflegekinder gemäss revidiertem Art. 85 Abs. 2 KUVG auch
in Fällen zu erbringen sind, in denen sich der Versicherungsfall vor
Inkrafttreten der neuen Bestimmung ereignet hat (vgl. auch Amtl.Bull. der
Bundesversammlung 1973, NR S. 1085 ff., SR S. 524 f.).

    b) Die Erweiterung des Witwenrentenanspruches auf Witwen
mit Pflegekindern stellte ein von verschiedener Seite erhobenes
Postulat dar, welches im Vorfeld der 8. AHV-Revision auch zu einem
parlamentarischen Vorstoss geführt hatte (Motion Duvanel vom 16. März
1971). Die Bestrebungen waren darauf gerichtet, die als unbefriedigend
erachtete ungleiche versicherungsrechtliche Behandlung von Witwen mit
Pflegekindern und Witwen mit leiblichen oder adoptierten Kindern zu
beseitigen. Esdarfals sichergelten, dass das Begehren auf Gleichstellung
der beiden Versichertenkategorien zu einem wesentlichen Teil im Hinblick
auf die nach bisherigem Recht abgewiesenen Begehren gestellt worden ist,
in der Meinung, dass gestützt auf die zu schaffende gesetzliche Grundlage
auch in diesen Fällen Leistungen zu erbringen seien. Die Betroffenen
durften daher zu Recht erwarten, dass Leistungen auch dann ausgerichtet
würden, wenn die hiefür geltenden Anspruchsvoraussetzungen bereits vor
Inkrafttreten des neuen Rechts erfüllt waren. Tatsächlich müsste es als
stossend betrachtet werden, wenn gerade in den Fällen, die Anlass zur
Änderung des Gesetzes gegeben haben, die Leistungen weiterhin verweigert
würden. Witwen, welche die Voraussetzungen gemäss Art. 23 Abs. 1 lit. c
AHVG bereits vor Inkrafttreten erfüllt haben, steht daher mit Wirkung ab
1. Januar 1973 ein Anspruch auf Witwenrente der AHV zu.

Erwägung 4

    4.- Es bleibt zu prüfen, ob und inwieweit die nachträglich in den
Genuss einer Witwenrente gelangende Witwe rückerstattungspflichtig
ist in Bezug auf die ihr ausgerichtete einmalige Witwenabfindung. Es
rechtfertigt sich hiebei, die von der Verwaltung bei der nachträglichen
Entstehung eines Invalidenrentenanspruches befolgte Praxis sinngemäss
anzuwenden. Danach ist die Abfindung in dem Masse zurückzufordern,
als sie den Gesamtbetrag der Rentenbetreffnisse übersteigt, welche die
Witwe vom Zeitpunkt der Verwitwung bis zur Entstehung des Anspruches
auf die Invalidenrente hätte beziehen können, sofern sie die für den
Anspruch auf eine Witwenrente erforderlichen Voraussetzungen erfüllt
hätte (Rz. 567 der Rentenwegleitung vom 1. Januar 1971). Dem Grundsatze
nach bedeutet dies, dass von einer Rückforderung abzusehen ist, wenn
die für die Berechnung der einmaligen Abfindung nach Art. 36 Abs. 2
AHVG massgebende Dauer des Rentenanspruches im Zeitpunkt des effektiven
Anspruchsbeginns bereits abgelaufen ist. Praktisch wird die Summe der
Rentenbetreffnisse den Abfindungsbetrag wegen der in der Zwischenzeit
eingetretenen Rentenerhöhungen oft schon früher erreichen.

    Im vorliegenden Fall erhielt die Witwe nach dem am 16. April
1965 erfolgten Tod des Ehemannes eine einmalige Witwenabfindung
von Fr. 7104.--, entsprechend dem dreifachen Jahresbetreffnis
der Witwenrente. Im Zeitpunkt der Adoption (21. Februar 1970),
als sie die Anspruchsvoraussetzungen für die Witwenrente nach
neuem Recht erfüllte, hätten die Rentenbetreffnisse den Betrag der
Witwenabfindung bereits überschritten. Die Beschwerdeführerin ist daher
nicht rückerstattungspflichtig hinsichtlich der im Jahre 1965 bezogenen
Witwenabfindung. Mit Wirkung ab 1. Januar 1973 steht ihr folglich eine
ungeschmälerte Witwenrente gemäss Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG zu, deren
Höhe von der Ausgleichskasse festzulegen ist.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. In Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Graubünden vom 2. März 1973 und die Verfügung der
Ausgleichskasse vom 23. Januar 1973 aufgehoben.

    II.  22 Es wird festgestellt, dass Klara Hemmi ab 1. Januar 1973
Anspruch auf eine Witwenrente der AHV hat.