Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 189



99 V 189

58. Urteil vom 21. September 1973 i.S. Eulenberger gegen Ausgleichskasse
des Kantons Bern Regeste

    Art. 137 lit. b OG.

    Zum Begriff des entscheidenden neuen Beweismittels.

Sachverhalt

    A.- Eulenberger hatte sich bei einem Unfall von 1964 eine
Rückenmarksschädigung mit Paraplegie zugezogen. Die Invalidenversicherung
kam jahrelang für medizinische Massnahmen und Hilfsmittel auf. Doch
verweigerte sie mit Kassenverfügung vom 5. Mai 1971 die Übernahme der
Kosten der Physiotherapie (einschliesslich Gehschulung), die wegen
Rekurvation in den Kniegelenken von Ende November 1970 bis Mitte Januar
1971 im Berner Inselspital durchgeführt worden war. Der Patient focht
jene Verfügung an, wurde aber von beiden Instanzen abgewiesen. Die
II. Kammer des Eidg. Versicherungsgerichts führte in ihrem Urteil vom
10. April 1972 hauptsächlich folgendes aus:

    "In den Akten fehlt ein ausführlicher und eindeutiger medizinischer
Bericht zu dem im Zentrum stehenden invalidenversicherungsrechtlichen
Problem. Wenn auch unbestritten sein mag, dass die Rekurvationstendenz in
den Kniegelenken als eindeutig labile sekundäre Erscheinung zu werten ist,
dürfte sie doch im Verhältnis zu den schmerzauslösenden Gegebenheiten von
sekundärer Bedeutung gewesen sein. Es wäre zu prüfen gewesen, ob sie Teil
des primären Lähmungsbildes ist, also eine unmittelbar zum Krankheitsbild
gehörende Begleiterscheinung. Könnte oder müsste das bejaht werden,
wäre eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung gegeben...

    Es ist somit lediglich zu prüfen, ob die Rekurvationstendenz in
den Kniegelenken in den Bereich des labilen pathologischen Geschehens
gehört. Bei diesem Leiden handelt es sich um die Überstreckung des
Knies (über 180 Grad) als sofort, meist aber später auftretende
Lähmungserscheinung. Wie aus den Akten zu entnehmen ist, scheint
anfänglich keine Rekurvation vorgelegen, sondern eine solche sich erst
im Laufe der Zeit entwickelt zuhaben. Die Überdehnung von Bändern ist
ein labiler pathologischer Zustand, weshalb eine Leistungspflicht der
Invalidenversicherung gestützt auf Art. 12 IVG entfällt."

    B.- Mit Revisionsgesuch vom 29. März 1973 beantragt Eulenberger dem
Eidg. Versicherungsgericht, gestützt auf Art. 137 lit. b OG das Urteil
vom 10. April 1972 aufzuheben und die Invalidenversicherung zum Ersatz der
Fr. 1831.10 zu verhalten, die er - laut Quittungen - für Physiotherapie
(einschliesslich Gehschulung) dem Inselspital bezahlt hat. Er beruft
sich aufein vom 2. Februar 1973 datiertes Zeugnis des Chefarztes Dr. W.,
das folgenden Wortlaut hat:

    "Eulenberger hat 1964 einen Taucherunfall erlitten, welcher zu einer
Rückenmarksschädigung mit Paraplegie führte. Ich habe ihn schon während
seines ersten Rehabilitationsaufenthalts im Loryspital kennengelernt
und seine ersten Gehversuche mitbeobachten können... Der Patient wies
initial eine paraspastische Lähmung der Beine auf, welche kompliziert war
durch Sensibilitätsausfälle, welche die gefühlsmässige Rückkontrolle der
Bewegungen der Beine stark erschwerten.

    Das Gehen erfolgte in der ersten Zeit ... unter Durchschlagen
und Überstrecken der Kniegelenke. Es bestand somit von Anfang an eine
ausgesprochene Tendenz zur Ausbildung eines Genu recurvatum. Diese ... für
das Kniegelenk sehr schädliche Fehlhaltungstendenz war, solange ich den
Patienten damals in der ersten Phase beobachten konnte, therapeutisch
nicht korrigierbar. Dies lag an der ungünstigen Kombination einer schweren
Spastik mit Störungen des Gefühls, insbesondere auch der Tiefensensibilität
im Bereich der Kniegelenke.

    In meinem Bericht vom 24.8.1966 an Prof. W. ... stellte ich folgendes
fest: 'Das paraspastische Syndrom, welches heute noch besteht, scheint
relativ konstant. Dagegen bildet sich offensichtlich die Sensibilität
immer noch etwas zurück.' Tatsächlich hat diese Besserungstendenz im Laufe
der Jahre offensichtlich dazu geführt, dass die sensible Rückkontrolle
wiederum einen derartigen Stand erreichte, dass eine krankengymnastische
Korrektur des Gehaktes, speziell der Genu-recurvatum-Tendenz, möglich
wurde und im Loryspital 1970/71 mit Erfolg durchgeführt werden konnte.

    Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass im vorliegenden
Fall die Genu-recurvatum-Tendenz bei der paraspastischen Gehstörung von
Anfang an vorhanden war und ein initial therapeutisch unlösbares Problem
stellte, welches erst später nach teilweiser Regeneration der Sensibilität
korrigiert werden konnte."

    Während Invalidenversicherungs-Kommission und Ausgleichskasse eine
Revision befürworten, pflichtet das Bundesamt für Sozialversicherung dem
angefochtenen Urteil bei.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Auf Grund der Art. 137 lit. b und 141 Abs. 1 lit. b in Verbindung
mit Art. 135 OG ist ein Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts revidierbar,
wenn eine Partei nachträglich neue erhebliche Tatsachen erfährt oder
entscheidende Beweismittel auffindet (trouve des preuves concluantes;
trova prove decisive), die sie im frühern Beschwerdeverfahren nicht
beibringen konnte, und binnen neunzig Tagen seit der Entdeckung des
Revisionsgrundes die Revision verlangt.

    Der Versicherte hat das Zeugnis des Chefarztes Dr. W. vom 2. Februar
1973 mitsamt dem Revisionsgesuch vom 29. März 1973 am 30. März zur
Post gegeben. Dass er eine solche Bescheinigung schon in einem früheren
Zeitpunkt hätte beibringen können, wird weder von der Ausgleichskasse
noch vom Bundesamt für Sozialversicherung geltend gemacht. Daher ist im
erwähnten ärztlichen Zeugnis ein innert der gesetzlichen Revisionsfrist
eingereichtes neues Beweismittel zu erblicken und auf das vorliegende
Revisionsgesuch einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Im Sinne des Art. 137 lit. b OG entscheidend ist eine neue
ärztliche Bescheinigung, wenn sie den rechtserheblichen medizinischen
Sachverhalt in einem derart neuen Lichte zeigt, dass anders zu entscheiden
gewesen wäre, wenn das nunmehr angerufene Beweismittel schon im
Beschwerdeverfahren vorgelegen hätte (EVGE 1959 S. 5 ff. und 1968 S. 37
Erw. 2 und 3; BGE 95 II 285 Erw. 2 lit. a; unveröffentlichtes Urteil
des Eidg. Versicherungsgerichts vom 4. Juli 1972 i.S. Schaffner, Erw. 1).

    Laut dem gründlichen Bericht des Dr. W. hat beim Gesuchsteller
von Anfang an eine typische Tendenz zur Bildung eines Genu recurvatum
bestanden, die hauptsächlich wegen einer Störung der Tiefensensibilität im
Bereich der Kniegelenke ursprünglich nicht korrigierbar gewesen ist. Doch
hat sich jene Sensibilität in der Folge allmählich dermassen regeneriert,
dass in den Jahren 1970 und 1971 "eine krankengymnastische Korrektur des
Gehaktes, speziell der Genu-recurvatum-Tendenz, mit Erfolg durchgeführt
werden konnte". Wäre dieser medizinische Sachverhalt schon im Jahre
1972 abgeklärt gewesen, so hätte das Eidg. Versicherungsgericht die am
16. Dezember 1971 bei ihm eingegangene Verwaltungsgerichtsbeschwerde des
Versicherten schützen müssen. Jedenfalls wird die Annahme der II. Kammer,
eine Rekurvation habe scheinbar anfänglich nicht bestanden, sondern
"sich erst im Laufe der Zeit entwickelt", durch die spezialärztlichen
Darlegungen vom 2. Februar 1973 in einleuchtender Weise widerlegt.

    Der in Art. 137 lit. b OG umschriebene Revisionsgrund liegt somit
vor. Weil die Rekurvationstendenz in den Kniegelenken ab initio am primären
Lähmungsbild beteiligt war, teilt sie das rechtliche Schicksal des
Grundleidens und muss die Invalidenversicherung auf Grund des Art. 12
IVG die Kosten der während der Jahre 1970 und 1971 durchgeführten
Physiotherapie übernehmen (BGE 98 V 98 Erw. 2)...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Das Revisionsgesuch
wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben und die
Invalidenversicherung verpflichtet, dem Gesuchsteller die Behandlungskosten
im Betrage von Fr. 1831.10 zu ersetzen.