Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 183



99 V 183

56. Urteil vom 20. Dezember 1973 i.S. Taffurelli gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Regeste

    Art. 104 lit. a OG.

    -  Verhältnis zwischen materiellem Sozialversicherungsrecht des Bundes
und kantonalem Verfahrensrecht; Umfang der Überprüfungsbefugnis des Eidg.
Versicherungsgerichts (Erw. 1 und 2).

    - Eine kantonale Verfahrensbestimmung, wonach der Richter nicht über
die Parteibegehren hinausgehen darf, ist im Anwendungsbereich des Art. 121
KUVG nicht bundesrechtswidrig (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 17. August 1971 zog sich der bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) versicherte italienische Staatsangehörige
Peppino Taffurelli bei der Arbeit eine Verletzung des rechten Beins zu. Die
zurückgebliebenen Folgen führte die SUVA teilweise auf eine Fraktur
zurück, welche der Versicherte zwei Jahre vorher in Italien erlitten
hatte. Nachdem die SUVA die Behandlungskosten übernommen und Krankengeld
ausgerichtet hatte, das seit dem 7. Februar 1972 gemäss Art. 91 KUVG um 50%
gekürzt war (rechtskräftige Verfügung vom 9. Mai 1972), sprach sie dem
Versicherten am 27. März 1973 verfügungsweise eine Rente wegen 15%iger
Invalidität zu, die sie ebenfalls nach Art. 91 um die Hälfte herabsetzte.

    B.- Peppino Taffurelli beschwerte sich gegen die Verfügung vom März
1973 beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern. Er machte geltend,
der 1969 erlittene rechtsseitige Beinbruch sei im April 1970 vollständig
ausgeheilt gewesen, und bemerkte: "Non seulement l'incapacité de travail
estimée à 15% est insuffisante par rapport aux lourds travaux que nécessite
ma profession de sondeur, mais la réduction est encore moins acceptable."

    Hierauf ersuchte die Vorinstanz den Versicherten am 26. Juni 1973,
innert 30 Tagen seine Rechtsbegehren zu nennen und einen Kostenvorschuss
von Fr. 150.-- zu leisten. Damit verband sie die Androhung, dass
bei unbenütztem Fristablauf Verzicht auf die Beschwerde angenommen
und diese von der Geschäftskontrolle abgeschrieben werde. Peppino
Taffurelli leistete fristgemäss den verlangten Vorschuss, kam aber
der Aufforderung zur Bekanntgabe seiner Rechtsbegehren nicht nach. Das
kantonale Verwaltungsgericht trat daher auf die Beschwerde nicht ein und
überband dem Versicherten die Verfahrenskosten (Präsidialentscheid vom
7. August 1973).

    C.- Der Versicherte vertritt in der gegen diesen Entscheid
gerichteten Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Auffassung, seine
vorinstanzliche Beschwerde habe genaue Begehren enthalten: "il
réfutait l'application de l'art. 91"; ferner habe er die Überprüfung der
Invaliditätsschätzung verlangt. Diese beiden Anträge erneuert er vor dem
Eidg. Versicherungsgericht.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen die Weigerung
des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, auf die Beschwerde in einer
Streitigkeit um Leistungen der SUVA einzutreten. Angefochten ist. also ein
kantonaler Nichteintretensentscheid im Sinn des Art. 5 Abs. 1 lit. a VwG
(Art. 128 in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG).

    Nach der Rechtsprechung ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die
Anwendung kantonalen Rechtes durch den vorinstanzlichen Richter zulässig,
wenn dieser damit sozialversicherungsrechtliche Vorschriften des Bundes
verletzt hat. Ein Nichteintretensentscheid, der sich auf kantonales
Prozessrecht stützt, kann durch Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten
werden, wenn dieser Entscheid irrtümlich die Anwendung materiellen
Bundesrechts verunmöglicht (BGE 99 V 55).

    Das Eidg. Versicherungsgericht kann indessen die Anwendung des
kantonalen Verfahrensrechts nicht frei überprüfen. Denn einmal ist es an
die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung gebunden, wenn diese nicht
offensichtlich mangelhaft ist (Art. 105 Abs. 2 OG). Sodann beschränkt
Art. 104 lit. a OG die Überprüfungsbefugnis des Eidg. Versicherungsgerichts
auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, das heisst also sehr oft auf die Verletzung von
Art. 4 BV (vgl. BGE 99 V 55 und 98 Ib 336). Letzteres trifft vor allem
auf dem Gebiete der obligatorischen Unfallversicherung zu, wo Art. 121
Abs. 1 KUVG den Kantonen nur ganz wenige Verfahrensregeln vorschreibt.

Erwägung 2

    2.- § 133 Abs. 1 des auch im Bereich des Sozialversicherungsrechts
des Bundes anwendbaren luzernischen Gesetzes vom 3. Juli 1972 über
die Verwaltungsrechtspflege schreibt vor, dass die Rechtsmittelschrift
einen bestimmten Antrag und dessen Begründung enthalten muss. Enthält
die Rechtsschrift, insbesondere die Beschwerde, nicht alle notwendigen
Angaben, so setzt die Behörde bzw. der Richter dem Beschwerdeführer eine
angemessene Frist zur Verbesserung oder Ergänzung; werden die gerügten
Mängel nicht behoben, so tritt der Richter auf die Beschwerde nicht ein
(§ 135 Abs. 2 und 3 des genannten Gesetzes)...

    Diese Regeln sind nicht bundesrechtswidrig. Sie entsprechen auf
kantonaler Ebene jenen Grundsätzen, die auch im ganzen Bereich der
Verwaltungsgerichtsbarkeit des Bundes gelten (vgl. Art. 52 VwG und
Art. 108 OG).

Erwägung 3

    3.- Sind diese verfahrensrechtlichen Normen somit nicht zu beanstanden,
so hat das Eidg. Versicherungsgericht - im Rahmen der ihm zustehenden,
in Erwägung 1 umschriebenen Kognitionsbefugnis - zu prüfen, ob sie von
der Vorinstanz richtig angewendet worden sind.

    In seiner Beschwerdeschrift gab Peppino Taffurelli klar zu verstehen,
was er vom Versicherungsgericht des Kantons Luzern verlangte: Er wollte,
dass die hälftige Rentenkürzung aufgehoben und der Invaliditätsgrad
höher als auf 15% festgesetzt werde. Der vorinstanzliche Richter hielt
beide Begehren für unklar, wie seinem Schreiben vom 26. Juni 1973 an
den Beschwerdeführer entnommen werden muss, differenzierte er doch nicht
zwischen der Leistungskürzung einerseits und der Invaliditätsschätzung
anderseits. Indessen war der Vorwurf mangelhafter Rechtsbegehren
bezüglich der Leistungskürzung unbegründet. Das Verwaltungsgericht
hätte mindestens auf diesen Punkt eintreten müssen, zumal sich
die Rechtmässigkeit der Kürzung ohne Rücksicht auf den - ebenfalls
streitigen - Invaliditätsgrad hätte beurteilen lassen. Anders verhält
es sich mit der Invaliditätsschätzung. Das kantonale Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege verbietet in seinem § 155 dem Verwaltungsgericht,
über die Anträge der Parteien hinauszugehen. Das Bundesrecht sieht
zwar für die meisten Gebiete des Sozialversicherungsrechts vor, dass
der kantonale Richter nicht an die Begehren der Parteien gebunden ist
(vgl. Art. 30bis Abs. 3 lit. d KUVG, Art. 85 Abs. 2 lit. d AHVG, Art. 69
IVG, Art. 7 Abs. 2 ELG und Art. 24 EOG). Art. 121 KUVG enthält aber
keine derartige Regel für das kantonale Verfahren in SUVA-Streitsachen,
weshalb eine kantonalrechtliche Bestimmung, wonach der Richter nicht über
die Parteibegehren hinausgehen darf, zulässig ist.

    Es scheint deshalb, dass das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern sich nicht mit dem generellen Begehren um höhere Bewertung
des Invaliditätsgrades als 15% begnügen konnte, wenn es sich an die
kantonalrechtlich vorgeschriebene Bindung an die Parteianträge halten
wollte. Es war deshalb befugt und verpflichtet, vom Beschwerdeführer
zu verlangen, dass er - wenn auch nicht den frankenmässigen Betrag der
verlangten Leistung, so doch - mindestens den Invaliditätsgrad angebe, der
seines Erachtens für die Rentenbemessung den Ausschlag hätte geben sollen.

Erwägung 4

    4.- Wenn nun die Vorinstanz den Versicherten am 26. Juni 1973 unter
Androhung des Nichteintretens aufgefordert hätte, sein Rentenbegehren genau
zu beziffern, so müsste der angefochtene Entscheid jedenfalls in diesem
Punkt geschützt werden, nachdem der Beschwerdeführer die Aufforderung
missachtet hat. Aber der kantonale Richter beschränkte sich darauf,
vom Beschwerdeführer einfach die Einreichung der Rechtsbegehren ("Ihre
Rechtsbegehren") zu verlangen, ohne die Art der verlangten Ergänzung zu
präzisieren. Um den Sinn dieser richterlichen Anordnung zu verstehen, hätte
der Versicherte notwendigerweise die kantonalen Verfahrensvorschriften
kennen, ja sogar ihre rechtliche Tragweite erkennen müssen. Indessen
geht es nicht an, einen in prozessualen Fragen unerfahrenen und zudem der
Gerichtssprache nicht mächtigen Versicherten die Folgen tragen zu lassen,
die sich daraus ergeben, dass er die Bedeutung der Verfahrensvorschriften
eines Kantons nicht kennt, zu dem er überdies nie je die geringste
Beziehung gehabt hat. Obschon niemand aus der eigenen Unkenntnis des
Gesetzes Rechte abzuleiten vermag, käme eine solche Lösung doch einem
Formalismus gleich, welcher mit dem Rechtsschutzgedanken des Art. 4 BV und
insbesondere auch mit der in Art. 121 Abs. 1 KUVG enthaltenen Forderung
nach Einfachheit und Raschheit des Verfahrens unvereinbar wäre.

    Der Beschwerdeführer hätte freilich auf das Schreiben vom 26. Juni
1973 antworten oder sich mindestens erkundigen müssen. Aber nachdem er
fristgemäss den verlangten Kostenvorschuss geleistet hatte, konnte er
annehmen, die andere vorinstanzliche Anordnung, welche auf die Angabe der
Rechtsbegehren gerichtet und der nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch schon
in der Beschwerdeschrift Genüge getan war, sei hinfällig. Die Missachtung
der richterlichen Aufforderung, deren Sinn der Versicherte nicht verstehen
konnte, ermächtigte somit die Vorinstanz nicht, die Beschwerde von der
Hand zu weisen.

    Demzufolge ist die Sache in Aufhebung des angefochtenen Entscheides
an das kantonale Verwaltungsgericht zurückzuweisen. Dieses wird sich
materiell mit der Beschwerde zu befassen haben, allenfalls unter der
Bedingung, dass der Versicherte einer neuen, genaueren richterlichen
Aufforderung, sein Rechtsbegehren betreffend Invaliditätsgrad zu ergänzen,
ordnungsgemäss nachkommt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 7. August 1973 aufgehoben
und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese im Sinn der
Erwägungen das kantonale Verfahren fortsetze.