Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 177



99 V 177

55. Urteil vom 6. November 1973 i.S. Moumène gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Bern
Regeste

    Art. 104, 105 und 132 OG.

    Umfang der Überprüfungsbefugnis des Eidg. Versicherungsgerichts
im Prozess um Versicherungsleistungen, den die Vorinstanz durch
Nichteintretensentscheid erledigt hat (Erw. 2 b).

    Art. 11 VwG.
   -  Form der Vertretungsvollmacht (Erw. 3).

    - Bedeutung des Abs. 3 dieser Bestimmung (Erw. 3).

    Art. 38 VwG.

    Zustellung einer beschwerdefähigen Verfügung an die Partei persönlich
statt an ihren Vertreter: Mangel, aus dem der Partei kein Nachteil
erwachsen darf (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Das Versicherungsgericht des Kantons Bern trat mit Entscheid
vom 6. April 1973 auf eine vom seinerzeitigen Anwalt von Amar
Moumène, Dr. R. S., gegen die Rentenverfügung der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) vom 6. April 1972 erhobene Beschwerde
wegen Verspätung nicht ein. Gemäss Laufzettel sei die Verfügung dem
Beschwerdeführer persönlich am 7. April 1972 als eingeschriebene Sendung
per Post zugestellt worden. Die Klagefrist von 6 Monaten sei somit vom
8. April 1972 bis 8. Oktober 1972, bzw. weil dieses Datum auf einen Sonntag
gefallen sei, bis 9. Oktober 1972 gelaufen. Die Behauptung von Dr. S.,
die Zustellung sei nicht vor dem 10. April 1972 erfolgt, sei falsch und
die am 10. Oktober 1972 der Post übergebene Beschwerde somit verspätet.

    B.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Amar
Moumène durch seinen neuen Anwalt, Fürsprecher R., beantragen, der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 6. April 1973
sei aufzuheben und es sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Zur Begründung wird geltend gemacht, Dr. S. habe sich
darüber ausweisen können, dass ihm die Rentenverfügung vom 6. April 1972
erst durch Postsendung vom 10. April 1972 eröffnet worden sei. Da dieser
Anwalt den Versicherten schon in den vorhergehenden Verhandlungen vertreten
habe, habe er in guten Treuen die Eröffnung an ihn für massgebend erachten
können. Da durch Moumène Prozessdomizil bei seinem Anwalt verzeigt worden
sei, habe dieser nicht damit rechnen müssen, dass eine den Fristenlauf
in Gang setzende Verfügung an die Partei selbst und überdies zu einem
früheren Zeitpunkt erfolgen würde. Als massgebend müsse deshalb die
Zustellung vom 10. April 1972 an Dr. S. betrachtet werden.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Bern weist darauf hin, dass
Dr. S. nicht habe annehmen können, die Beschwerdefrist beginne mit der
Zustellung einer Photokopie der Verfügung an ihn; dies um so weniger,
als gemäss der Begleitnotiz die Übermittlung lediglich zu Handen der Akten
erfolgt und die Anwaltsvollmacht erst vom 24. April 1972 (also nach Erlass
der Verfügung) datiert sei; zudem sei auf dem Vollmachtsformular nicht
ausdrücklich ein Zustellungsdomizil beim Anwalt vermerkt.

    Die SUVA stellt den Antrag, auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen und der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 6. April 1973 sei
zu bestätigen. Zur Begründung wird im wesentlichen ausgeführt:
Beim vorinstanzlichen Entscheid handle es sich um eine anfechtbare
Zwischenverfügung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 und Art. 45 VwG, indem
er "einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil" bewirke, nämlich die
Feststellung der Klageverwirkung. Die hiefür geltende Beschwerdefrist von
10 Tagen sei vom Beschwerdeführer nicht eingehalten worden. Auch enthalte
der Entscheid eine zutreffende und ausreichende Rechtsmittelbelehrung. In
der Sache selbst treffe es zu, dass sich Dr. S. schon vor der
Rentenzusprechung für die Interessen des Beschwerdeführers eingesetzt
habe. Die von ihm eingereichte Vollmacht datiere aber vom 28. April
1972 und sei erst nach Zustellung der angefochtenen Rentenverfügung
ausgefertigt und eingereicht worden. Der Agenturdienst der SUVA bei
der PTT habe daher den Rentenbescheid richtigerweise dem Versicherten
selber eröffnet. Dr. S. sei eine Kopie zugestellt worden, weil er
telephonisch eine Photokopie verlangt habe. Er habe sich darüber im
klaren sein müssen, dass die Eröffnung an seinen Klienten erfolgt und die
Zustellung der Photokopie an ihn selber lediglich orientierungshalber
geschehen sei. Anders wäre es nach Art. 11 Abs. 3 VwG nur, wenn sich
Dr. S. schon vor der Rentenfestsetzung als bevollmächtigter Vertreter des
Beschwerdeführers ausgewiesen hätte. Auch sei ferner das Zustellungsdomizil
beim Anwalt an die Vorweisung einer rechtsgültigen Bevollmächtigung des
Vertreters geknüpft. Das gehe aus dem Inhalt der Vollmacht hervor, wonach
der Anwalt unter anderem ermächtigt werde, "Domizil zu erwählen". Ein
Zustellungsdomizil beim Anwalt sei aber weder auf der Vollmacht noch in
der vorhergehenden Korrespondenz ausdrücklich erwähnt. Die Beschwerde
sei somit verspätet.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Auffassung der Beschwerdegegnerin, beim angefochtenen
Nichteintretensentscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern
handle es sich um eine Zwischenverfügung im Sinne von Art. 45 VwG, kann
nicht beigepflichtet werden. Zwischenverfügungen sind prozessleitende
Verfügungen, "die das Verfahren bestimmend vorantreiben, aber nur mittelbar
den Streitgegenstand angehen, diesen jedenfalls nicht abschliessend
durch Rechtsspruch erledigen" (GYGI, Verwaltungsrechtspflege und
Verwaltungsverfahren im Bund, S. 89). Der Nichteintretensentscheid wegen
Verspätung des Rechtsmittels ist keine solche Zwischenverfügung, sondern
vielmehr - im Sinne eines Prozessurteils - der instanzabschliessende
Entscheid darüber, dass überhaupt kein Sachurteil zu ergehen hat.

    Die Beschwerdefrist beträgt somit nach Art. 106 Abs. 1 OG
30 Tage. Sie wurde im vorliegenden Fall eingehalten. Auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher einzutreten.

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe zu
Unrecht angenommen, die bei ihr eingereichte Beschwerde sei verspätet
erfolgt. Damit erhebt er die nach Art. 104 lit. a OG zulässige Rüge der
Verletzung von Bundesrecht, denn die SUVA ist eine autonome eidgenössische
Anstalt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 lit. c VwG und untersteht insoweit
diesem Gesetz. Die Frist zur Beschwerde gegen die Verfügungen der Anstalt
ist eine bundesrechtliche Frist.

    b) Obschon die vorinstanzliche Beschwerde auf
Versicherungsleistungen gerichtet war, geht es bei der Überprüfung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde um eine prozessrechtliche Frage, weshalb
das Eidg. Versicherungsgericht nur zu prüfen hat, ob der vorinstanzliche
Richter Bundesrecht verletzt, sein Ermessen überschritten oder es
missbräuchlich gehandhabt hat oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung
mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall ist streitig, ob die in der
Rechtsmittelbelehrung erwähnte 6monatige Frist zur Einreichung der
Beschwerde mit der Zustellung der angefochtenen Verfügung an den
Versicherten persönlich oder erst an seinen Vertreter zu laufen begann.

    Aus den Akten ergibt sich, dass die Beschwerdegegnerin bzw. ihre
Agentur für das PTT-Personal schon lange Zeit vor Erlass der
Rentenverfügung vom 6. April 1972 mit Dr. S. verkehrt hatte. Die
schriftlich eingereichte Vollmacht datiert allerdings vom 28. April 1972.

    Die Einreichung einer schriftlichen Vollmacht ist indessen
keine notwendige formelle Voraussetzung dafür, dass jemand im
Verwaltungsverfahren als Parteivertreter auftreten und von der Verwaltung
als solcher anerkannt werden kann. Art. 11 Abs. 2 VwG erteilt der Behörde
lediglich die Befugnis, den Vertreter aufzufordern, sich durch schriftliche
Vollmacht auszuweisen. Grundsätzlich ist somit auch eine mündliche oder
durch konkludentes Handeln erteilte Vertretungsvollmacht gültig.

    Nach dem Gesagten kann nicht zweifelhaft sein, dass die
Beschwerdegegnerin bzw. ihr Agenturdienst Dr. S. als bevollmächtigten
Vertreter des Beschwerdeführers betrachtete, obwohl eine schriftliche
Vollmacht weder eingereicht noch verlangt worden war. Hätte die SUVA dies
nicht vorausgesetzt, so hätte sie namentlich die erteilten medizinischen
Auskünfte gar nicht geben und auch keine Akten edieren dürfen. Ebensowenig
hätte sie Veranlassung gehabt, von Dr. S. Photokopien des Schriftenwechsels
mit der Invalidenversicherung zu verlangen (Brief vom 24. Oktober 1969)
und ihm eine Kopie der Rentenverfügung zu Handen der Akten zuzustellen
(Begleitnotiz vom 10. April 1972).

    Gemäss Art. 11 Abs. 3 VwG macht die Behörde ihre Mitteilungen an
den Vertreter, solange die Partei die Vollmacht nicht widerruft. Dieser
Vorschrift ist die Beschwerdegegnerin nicht nachgekommen, wenn sie sich
mit der Vorinstanz auf den Standpunkt stellt, die für den Fristenlauf
massgebende Eröffnung sei jene vom 7. April 1972 an den Beschwerdeführer
persönlich. Art. 11 Abs. 3 VwG ist nicht eine blosse Ordnungsvorschrift,
von deren Einhaltung allenfalls ohne weitere Rechtsfolgen abgesehen werden
darf. Vielmehr dient diese Bestimmung - im Interesse der Rechtssicherheit -
dazu, allfällige Zweifel darüber zum vorneherein zu beseitigen, ob die
Mitteilungen an die Partei selber oder an ihren Vertreter zu erfolgen
haben, sowie um klarzustellen, welches die für einen Fristenlauf
massgebenden Mitteilungen sein sollen.

    Die Zustellung einer beschwerdefähigen Verfügung an die Partei
persönlich anstatt an ihren Vertreter stellt somit eine mangelhafte
Eröffnung dar, aus der laut Art. 38 VwG einer Partei kein Nachteil
erwachsen darf. Als massgebliches Zustellungsdatum hat daher dasjenige
der Zustellung der Verfügungskopie an Dr. S. zu gelten. Mithin ist die
Beschwerde fristgemäss eingereicht worden.

    Unerheblich ist, ob Dr. S. seinerzeit erkannt hat, bzw. nach den
Umständen hätte erkennen müssen, dass die Beschwerdegegnerin die Zustellung
an den Beschwerdeführer persönlich als die massgebende Eröffnung der
Verfügung betrachtete und dass die Zustellung einer Kopie an ihn lediglich
orientierungshalber erfolgte. Als Vertreter des Beschwerdeführers brauchte
er sich die daraus für ihn resultierende Verkürzung der Beschwerdefrist
nicht gefallen zu lassen...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Bern vom 6. April 1973 aufgehoben und die Sache zur materiellen
Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.