Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 169



99 V 169

53. Urteil vom 21. Dezember 1973 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Luzern
gegen Stöckli und Versicherungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Höchstbetrag der Abzüge vom anrechenbaren Einkommen (Art. 3 Abs. 4
ELG). Der Gesamtbetrag der Abzüge darf das anrechenbare Jahreseinkommen
nicht übersteigen; dies gilt namentlich auch für die Krankheitskosten
(lit. e).

Sachverhalt

    A.- Stöckli, der sich dauernd in der Pflegeanstalt Muri AG aufhält,
ist Bezüger einer Invalidenrente, einer Hilflosenentschädigung
der Invalidenversicherung und (seit 1. Januar 1966) einer
Ergänzungsleistung. Die anerkannten Pflege- bzw. Krankheitskosten
sind sehr hoch und belaufen sich ab 1. Januar 1972 auf jährlich
Fr. 8395.--. Seit diesem Datum wird ihm daher - unter Berücksichtigung
sowohl der Invalidenrente als auch der abziehbaren Krankheitskosten -
eine Ergänzungsleistung von monatlich Fr. 400.-- ausgerichtet (Verfügung
vom 19. Mai 1972).

    B.- Beschwerdeweise machte der Vater des Versicherten geltend, die
Ergänzungsleistung reiche nicht aus, um die von seinem Sohne verursachten
Kosten zu decken.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Luzern hiess durch Entscheid
vom 16. April 1973 die Beschwerde gut, hob die angefochtene Verfügung
auf und wies die Sache in dem Sinne an die Ausgleichskasse zurück,
dass bei der Berechnung der Ergänzungsleistung auch die durch die
hohen Krankheitskosten entstehende negative Einkommensdifferenz zu
berücksichtigen sei. Das Gericht ging davon aus, das Gesetz lege weder
ausdrücklich noch stillschweigend fest, welcher Betrag als anrechenbares
Jahreseinkommen für den Fall zu gelten habe, dass die abziehbaren
Aufwendungen die anrechenbaren Einkommensbestandteile übersteigen.
Diese Lücke gelte es auszufüllen, damit trotz hoher Krankheitskosten
der Leistungsbezüger die zur Bestreitung des ordentlichen Unterhaltes
notwendigen Mittel zur Verfügung habe.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die
Ausgleichskasse des Kantons Luzern, der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Luzern vom 16. April 1973 sei aufzuheben.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung stellt den Antrag, die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei in dem Sinne gutzuheissen, dass der
kantonale Entscheid aufgehoben und die Sache an die Ausgleichskasse
zurückgewiesen werde zwecks neuer Ermittlung der ab 1. Januar 1972 - unter
Berücksichtigung der Leistungen der Krankenkasse - abzugsberechtigten
Krankheitskosten sowie zur Rückforderung allfällig zuviel bezahlter
Ergänzungsleistungen.

    Der Vater des Versicherten schliesst sinngemäss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wie das Eidg. Versicherungsgericht mehrmals auf dem Gebiete der
Ergänzungsleistungen ausgeführt hat, sind insbesondere die Bestimmungen
von Art. 3 Abs. 4 ELG zwingendes Recht und als solches für die Kantone,
welche Bundessubventionen beanspruchen, verbindlich (EVGE 1968 S. 66,
128, 136, 139; ZAK 1970 S. 134, nicht publiziertes Urteil i.S. Dörrwächter
vom 4. März 1971).

    Abzüge und Krankenpflegekosten im Sinne der zitierten Vorschriften
sind deshalb bundesrechtliche Begriffe, deren Inhalt für das gesamte
Anwendungsgebiet des ELG einheitlich bestimmt werden muss.

Erwägung 2

    2.- a) Laut Art. 5 Abs. 1 ELG hat die jährliche Ergänzungsleistung dem
Unterschied zwischen der nach diesem Gesetz massgebenden Einkommensgrenze
und dem anrechenbaren Jahreseinkommen zu entsprechen. Dieses
Jahreseinkommen ergibt sich, indem von der Summe der Einnahmen im Sinne
des Art. 3 Abs. 1-3 ELG die Summe der Ausgaben gemäss Abs. 4 abgezogen
wird. Nach Meinung der Vorinstanz kann infolge Unbestimmtheit des
gesetzlichen Wortlautes und im Lichte des Gesetzeszweckes das laut Art. 3
ELG zu ermittelnde Jahreseinkommen auch einen Minusbetrag darstellen;
denn das Gesetz bestimme weder ausdrücklich noch indirekt, dass die Abzüge
das anrechenbare Bruttoeinkommen nicht übersteigen dürfen.

    b) Dieser Auffassung kann indessen nach dem in EVGE 1969 S. 236
ff. Gesagten, woran festzuhalten ist, nicht beigepflichtet werden (nicht
publiziertes Urteil i.S. Fehrlin vom 29. Oktober 1970). Namentlich
würde es dem Zweck des Gesetzes widersprechen, wenn einerseits als
Folge der vorinstanzlichen Argumentation neben den Krankheitskosten auch
Gewinnungskosten, Schuldzinsen und Gebäudeunterhaltskosten (Art. 3 Abs. 4
lit. a-c ELG) in vollem Ausmass abgezogen werden könnten, anderseits
aber die Versicherungsprämien gemäss Art. 3 Abs 4 lit. d ELG nur bis
zum jährlichen Höchstbetrag von 300 bzw. 500 Franken als abzugsberechtigt
erklärt werden.

    c) Allerdings trifft es zu, dass zwischen den Krankheitskosten und
beispielsweise den Schuldzinsen ein Unterschied besteht; jene sind meist
unabwendbar. Unter diesem Gesichtspunkt ist es tatsächlich stossend,
dass das durch die Ergänzungsleistungen garantierte Mindesteinkommen
in gewissen Fällen zur Bestreitung der Krankheitskosten dienen soll und
unter Umständen sogar dazu nicht ausreicht. Das System der auf 5 Jahre
befristeten Vorbehalte in der Krankenversicherung und der Umstand, dass die
Krankenkassen nicht für alle Leistungen aufzukommen haben, die laut Art. 3
Abs. 4 lit. e ELG in Verbindung mit der ELKV als Krankheitskosten abgezogen
werden können, bewirken, dass namentlich Alte und Invalide unter Umständen
mit Kosten belastet werden, die nicht durch Versicherungsleistungen gedeckt
sind. Es könnte deshalb durchaus sinnvoll sein, wenn der Gesetzgeber die
Abziehbarkeit der Krankheitskosten in der Weise regeln würde, dass diese
Kosten unbesehen ihrer Höhe vorweg erstattet würden. Der Richter dagegen
ist an die geltende Ordnung gebunden, die die Krankheitskosten nicht
anders behandelt wissen will als die andern in Art. 3 Abs. 4 angeführten
Aufwendungen. Der Gesamtbetrag der Abzüge gemäss Art. 3 Abs. 4 ELG darf
somit das anrechenbare Jahreseinkommen nicht übersteigen.

Erwägung 3

    3.- a) Laut Art. 27 Abs. 1 ELV sind unrechtmässig bezogene
Ergänzungsleistungen vom Bezüger oder seinen Erben zurückzuerstatten. Für
die Rückerstattung solcher Leistungen und den Erlass der Rückforderungen
sind die Vorschriften des AHVG sinngemäss anwendbar. Die Kantone ordnen
unter Vorbehalt von Art. 6 Abs. 3 ELG das Verfahren der Festsetzung und
Auszahlung sowie der Rückerstattung von Ergänzungsleistungen (Art. 4
Abs. 2 ELG).

    b) Da dem Versicherten nur die ihm tatsächlich erwachsenen,
ausgewiesenen Krankheitskosten vergütet werden können (EVGE 1967
S. 50, ZAK 1968 S. 486), wird die Ausgleichskasse, an welche die Sache
zurückgewiesen wird, zu prüfen haben, inwieweit die von der Krankenkasse
seit 1. Januar 1972 erbrachten Leistungen die Ergänzungsleistungen für
das Jahr 1972 beeinflussten (Art. 25 Abs. 1 lit. d ELV); allenfalls wird
sie eine entsprechende Rückforderung veranlassen müssen unter Beachtung
der Eingabe des Vertreters des Beschwerdeführers vom 24. Oktober 1973.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Luzern vom 16. April 1973 aufgehoben.

    II. Die Akten werden im Sinne der Erwägung 3 an die Ausgleichskasse
des Kantons Luzern zurückgewiesen.