Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 148



99 V 148

46. Urteil vom 23. November 1973 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Rudolf und Rekurskommission für die Ausgleichskassen des Kantons
Basel-Stadt Regeste

    Hilfsmittelbezug im Ausland (Art. 9 Abs. 1 IVG).

    Voraussetzungen (Erw. 1). Die Invalidenversicherung, die während
Jahren den Bezug im Ausland bewilligt hat, darf nicht ohne jede
vorgängige Mitteilung die Bezahlung einer wiederum im Ausland bestellten
Ersatzprothese verweigern (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Gérald Rudolf, geboren 1945, leidet an den Folgen
von Poliomyelitis. Im Jahre 1965 liess er sich wegen schwerer
Zirkulationsstörungen den linken Unterschenkel amputieren. Die
Invalidenversicherungs-Kommission des Kantons Basel-Land gewährte
ihm verschiedene Leistungen. Unter anderem verhielt sie die
Invalidenversicherung zur Abgabe einer Unterschenkelprothese
"nach Anleitung von Herrn Prof. Dr. med. N., sofern diese in der
Schweiz hergestellt wird" (Verfügung der Ausgleichskasse des Basler
Volkswirtschaftsbundes vom 9. August 1965). Der Versicherte machte
indessen geltend, dass er auf Empfehlung von Prof. N., Leiter der Abteilung
des Bürgerspitals Basel für Chirurgie des Bewegungsapparates, seit sieben
Jahren zu seiner vollen Zufriedenheit durch den Orthopädisten B., Rottweil
BRD, prothetisch versorgt werde. Hieraufwurde die erwähnte Verfügung
mit dem Einverständnis des Bundesamtes für Sozialversicherung dahin
abgeändert, dass die Prothese durch B. hergestellt werden dürfe (Verfügung
vom 17. Dezember 1965). Später bewilligte die Verwaltung dem Versicherten
noch mehrere vom selben Orthopädisten hergestellte Ersatzprothesen mit
den notwendigen Reparaturen, letztmals mit Verfügung vom 11. August 1971.

    B.- Als Gérald Rudolf im Herbst 1972 um die Übernahme der Kosten
einer weitern durch B. zu liefernden Prothese ersuchte, unterbreitete
die Invalidenversicherungs-Kommission den Fall erneut dem Bundesamt für
Sozialversicherung. In seinem Antwortschreiben vom 27. November 1972 wies
das Amt darauf hin, dass in Basel sechs Mitglieder des Schweizerischen
Verbandes der Orthopädisten und Bandagisten tätig seien, mit denen
eine Tarifabmachung bestehe. Deshalb habe der Gesuchsteller wie andere
Versicherte seine Unterschenkelprothese in der Schweiz zu beziehen. Es
bestehe kein Grund zur Annahme, dass die Verbandsmitglieder ausserstande
sein sollten, ihm eine einwandfreie Prothese anzufertigen.

    Deshalb verfügte die Ausgleichskasse am 9. Januar 1973, dass die
Invalidenversicherung keine im Ausland bezogenen Unterschenkelprothesen
mehr bewillige.

    C.- Der Versicherte beschwerte sich gegen diese Verfügung bei der
Basler Rekurskommission für die Ausgleichskassen. Diese erachtete es
angesichts der "Besonderheit des Falles des Rekurrenten" als "geradezu
unverständlich, weshalb ein seit Jahren zur Zufriedenheit arbeitender
Hersteller gewechselt werden sollte, um erneut in der Schweiz zu versuchen,
was seinerzeit nicht gelungen ist". Die Rekurskommission verpflichtete
deshalb die Invalidenversicherung, die Kosten einer neuen, von der Firma
B. hergestellten Unterschenkelprothese zu übernehmen (Entscheid vom
26. April 1973).

    D.- Das Bundesamt erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Unter Hinweis
auf die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts zu Art. 9 Abs. 1
IVG bekräftigt es seine schon im erwähnten Schreiben vom November 1972
geäusserte Auffassung, dass Gérald Rudolf die Möglichkeit habe, sich eine
zweckmässige und gute Prothese in der Schweiz zu verschaffen. Daraus, dass
das Amt im Jahre 1965 dem Bezug der Prothese aus Deutschland zugestimmt
habe, könne der Beschwerdegegner keine weitern Rechte ableiten. Zudem
seien die Herstellungskosten in der Bundesrepublik bedeutend höher als
in der Schweiz. Das Bundesamt beantragt demnach die Wiederherstellung
der Kassenverfügung vom 9. Januar 1973.

    Gérald Rudolf beantragt die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die Prothese sei inzwischen durch die
Firma B. bereits hergestellt worden. - In einer Zuschrift an das Gericht
vom 20. August 1973 bemerkt Prof. N., es handle sich nicht um einen
"gewöhnlichen", sondern "um einen recht schwierigen Einzelfall". Es gehe
daher auch nicht um eine gewöhnliche prothetische Versorgung, sondern um
eine Spezialanfertigung.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 9 Abs. 1 IVG werden die Eingliederungsmassnahmen
in der Schweiz, ausnahmsweise auch im Ausland gewährt. Ein solcher
Ausnahmefall ist nach der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts
gegeben, wenn die Massnahme mangels geeigneter Einrichtungen oder wegen
ihrer Besonderheit und Seltenheit in der Schweiz nicht oder noch nicht
durchgeführt werden kann. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, beurteilt
sich nach objektiven Gesichtspunkten; blosse Vorzüge im Einzelfall genügen
nicht (EVGE 1966 S. 102 und 1967 S. 248, BGE 97 V 158).

Erwägung 2

    2.- Nach erfolgter Beinamputation hat der Beschwerdegegner seine
erste Unterschenkelprothese im Jahre 1965 durch den Orthopädisten B. in
Rottweil anfertigen lassen, nachdem er wegen schlechter Erfahrungen mit
schweizerischen Firmen vorher schon während sieben Jahren sich durch den
deutschen Lieferanten erfolgreich hatte prothetisch versorgen lassen. Die
Verwaltung hatte sich ausdrücklich damit einverstanden erklärt, dass diese
Prothese im Ausland bezogen würde. In den folgenden Jahren, zum letzten Mal
1971, bewilligte ihm die Invalidenversicherungs-Kommission drei weitere,
durch B. herzustellende Prothesen. - Bei diesen Gegebenheiten musste der
Beschwerdegegner nicht damit rechnen, dass die Ausgleichskasse auf sein
am 17. Oktober 1972 neu eingereichtes Begehren hin ihre Praxis ändern
und ihm zumuten würde, den bisher offenbar bestbewährten Lieferanten zu
wechseln, obschon er vorher von der Verwaltung nie auf diese Möglichkeit
aufmerksam gemacht worden war. Daher widerspricht es Treu und Glauben,
wenn am 9. Januar 1973, somit rund drei Monate nach der neuen Anmeldung
bei der Invalidenversicherung, verfügt wurde, dass die Anschaffungskosten
der Prothese nur übernommen würden, wenn der Versicherte das Kunstbein
in der Schweiz herstellen lasse.

    Aus der Tatsache, dass die Verwaltung seit 1965 wiederholt
die Kosten einer im Ausland hergestellten Prothese übernommen hat
und heute ein weiteres Mal übernehmen muss, vermag der Versicherte
freilich keine Rechte für die Zukunft abzuleiten. Vielmehr wird die
Invalidenversicherungs-Kommission im Hinblick auf ein späteres neues
Gesuch des Beschwerdegegners zu prüfen haben, ob die den Verfügungen
vom 17. Dezember 1965, 5. Mai 1966, 1. Dezember 1970 und 11. August
1971 zugrunde gelegene Annahme immer noch zutreffe, in der Schweiz könne
eine Prothese von der Art, wie sie vom Versicherten benötigt wird, nicht
hergestellt werden. Sie wird dabei beachten, dass Prof. N. selber erklärt,
es handle sich nicht um einen "normalen Fall", weil die Amputation an einem
"poliogelähmten Bein mit Paresen der Hüft- und Oberschenkelmuskulatur"
erfolgt und zudem "auch eine Sympathectomie wegen der anfänglich schlechten
Blutzirkulation durchgeführt" worden sei. Prof. N. spricht ausdrücklich von
einem "Sonderfall" und von "Spezialanfertigung" der Prothese, was sich auf
die Herstellungskosten auswirken dürfte. Müsste nach erfolgter Abklärung
die Notwendigkeit des Hilfsmittelbezuges aus dem Ausland objektiv verneint
werden, so könnte der Beschwerdegegner künftig nicht mehr damit rechnen,
dass die Invalidenversicherung im Ausland entstandene Herstellungs-
und Reparaturkosten übernehmen wird.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.