Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 141



99 V 141

44. Auszug aus dem Urteil vom 19. Oktober 1973 i.S. Camerotto gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des
Kantons Luzern

Regeste

    Überversicherung bei Krankengeldbezug (Art. 74 Abs. 3 KUVG).

    Über die gesetzlichen Vorschriften (Art. 324 lit. b OR) hinausgehende,
arbeitsvertraglich geschuldete Leistungen des Arbeitgebers können zu
Kürzungen des Krankengeldes führen.

Sachverhalt

    A.- Liliana Camerotto erlitt am 13. September 1968 einen
Betriebsunfall, bei dem ihr durch einen Warenlift der linke#NEW_SECT
Arm oberhalb des Ellbogengelenkes abgetrennt wurde. Die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam für die Krankenpflege auf
und gewährte der Versicherten bis Ende 1970 das Krankengeld und ab
l. Januar 1971 eine Invalidenrente. Zudem bezog Liliana Camerotto ab
l. September 1969 eine (ausserordentliche) ganze einfache Rente der
Invalidenversicherung von Fr. 200.-- im Monat. Die Genossenschaft Migros
als Arbeitgeberin entschädigte Liliana Camerotto für 11/2 Karenztage
sowie für die 20%ige Differenz zwischen dem SUVA-Krankengeld und dem
vollen Lohn während der ganzen Dauer des Krankengeldbezuges, d.h. vom
16. September 1968 bis 31. Dezember 1970. Im Juli 1971 stellte die
SUVA der Versicherten eine "Krankengeldabrechnung" und "Berechnung
der Überversicherung" zu. Danach betrug die Krankengeldleistung Fr.
19 205.10, abzüglich Verpflegungskostenanteil für 275 Spitaltage
à Fr. 3.-, somit Fr. 18 380.10. Die Überversicherung wurde wie
folgt ermittelt: colspec colnum="2" colname="sqcolumn2">

    C.- Die Versicherte lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben
unter Wiederholung der vor der Vorinstanz gestellten Anträge. Nach
dem klaren Wortlaut von Art. 74 Abs. 3 KUVG könne eine Kürzung
der Krankengeldleistungen nur erfolgen, wenn die Leistungen anderer
Versicherer zu einer Deckung führe, welche grösser sei als der effektive
Lohnausfall. Der Arbeitgeber könne jedoch nicht einem Versicherer
gleichgestellt werden. Zudem seien dessen Leistungen vorliegend freiwillig
erfolgt, was eine Anrechnung ausschliesse...

    Die SUVA beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die
Leistungen der Arbeitgeberin seien nicht freiwillig erfolgt; vielmehr habe
die Versicherte einen obligatorischen Rechtsanspruch hierauf gehabt. lm
Umfange der von der SUVA nicht gedeckten 20% liege daher kein entgehender
Verdienst im Sinne von Art. 74 Abs. 3 KUVG vor. Demnach ergebe sich
aus den Leistungen der Invalidenversicherung eine Überversicherung,
für welche die Versicherte unter Abzug der anerkannten Nebenkosten
rückerstattungspflichtig sei.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    1. -...

Erwägung 2

    2.- Materiell ist zu prüfen, ob die während der Ausrichtung des
SUVA-Krankengeldes von der Arbeitgeberin erbrachten Leistungen bei der
Beurteilung der Überversicherungsfrage zu berücksichtigen seien oder nicht.
Der massgebende Art. 74 Abs. 3 KUVG bestimmt, dass das Krankengeld der
SUVA in Fällen, in denen Leistungen auch von anderen Versicherern für
denselben Unfall ausgerichtet werden, den von diesen nicht gedeckten Teil
des entgehenden Verdienstes nicht überschreiten darf.

    Aus dem Umstand, dass die Gesetzesbestimmung von "Leistungen... von
anderen Versicherern" spricht, schliesst die Beschwerdeführerin,
dass Leistungen des Arbeitgebers bei der Überversicherung nicht zu
berücksichtigen seien.

    Es trifft zu, dass die Arbeitgeberin im vorliegenden Fall nicht
Versicherer im Sinne von Art. 74 Abs. 3 KUVG ist. Massgebend ist aber,
dass nach dieser Bestimmung ein Vergleich anzustellen ist zwischen den
Leistungen der verschiedenen Versicherer einerseits und dem entgehenden
Verdienst andererseits. Letzterer wird durch die Leistungen des
Arbeitgebers bestimmt, wobei zu prüfen ist, inwieweit diese im Rahmen
von Art. 74 Abs. 3 KUVG anzurechnen sind.

Erwägung 3

    3.- In seinem Urteil vom 21. Juni 1971 i.S. Kretschmann (BGE 97 V
94 ff.) hat das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, dass freiwillige
Leistungen des Arbeitgebers nicht als Verdienst im Sinne von Art. 74 Abs. 3
KUVG gelten und daher für die Berechnung einer allfälligen Bereicherung
aus Doppelversicherung ausser Betracht fallen.

    a) Nach Art. 12 des Reglementes über die Anstellungsbedingungen des
Filialpersonals der Genossenschaft Migros vom 1. Juli 1966 ergänzt
die Arbeitgeberin bei den von der SUVA anerkannten Betriebsunfällen
die Versicherungsleistungen bis zur Grenze des vollen Lohnes. Die
Zusatzleistung wird während der ganzen Dauer der Arbeitsverhinderung
erbracht; sie endigt mit der Festsetzung einer Rente durch die SUVA
oder mit der Auflösung des Dienstverhältnisses. Das Reglement wird
den Angestellten bei der Anstellung ausgehändigt und bildet einen
integrierenden Bestandteil des Dienstvertrages.

    Die Beschwerdeführerin begründet den freiwilligen Charakter dieser
Leistungen damit, dass die Arbeitgeberin weder nach Art. 130 KUVG noch nach
dem heute gültigen Art. 324 lit. b OR zu Lohnzuschüssen der vorliegenden
Art verpflichtet sei. Diese könnten durch Änderung oder Aufhebung des
Reglementes jederzeit eingeschränkt oder aufgehoben werden. Die Leistungen
erfolgten aus sozialen Gründen oder um der Person des Arbeitnehmers willen,
also jedenfalls um diesen zu begünstigen und nicht die Unfallversicherung.

    Es trifft zu, dass die Arbeitgeberin von Gesetzes wegen nicht
gehalten ist, Zuschüsse zum SUVA-Krankengeld zu erbringen. Wenn sie
eine entsprechende Bestimmung in ihr Anstellungsreglement aufnahm, so
tat sie dies, rechtlich gesehen, freiwillig. Hierauf kommt es jedoch
ebensowenig an wie auf die Umstände, welche die Arbeitgeberin zu dieser
Regelung veranlasst haben. Entscheidend ist allein, dass im Rahmen des
einzelnen Dienstvertragsverhältnisses ein entsprechender obligatorischer
Rechtsanspruch des Arbeitnehmers besteht, solange der Dienstvertrag nicht
rechtskonform abgeändert wird. Bei den fraglichen Lohnzuschüssen handelt
es sich demnach nicht um freiwillige, sondern um vertraglich festgelegte
Leistungen. Dieser Auffassung ist auch die Arbeitgeberin, wie sich aus
einer Äusserung ihres Personalchefs gegenüber der SUVA ergibt.>

    b) Im erwähnten Urteil Kretschmann hat das Eidg.  Versicherungsgericht
entschieden, "freiwillige, auf keiner Rechtspflicht beruhende
Zahlungen" seien bei der Bestimmung des entgehenden Verdienstes nicht
zu berücksichtigen. Daraus zieht die SUVA - per argumentum e contrario -
den Schluss, im Falle dienstvertraglicher Leistungen habe keine Anrechnung
zu erfolgen. Demgegenüber vertritt die Beschwerdeführerin den Standpunkt,
das Eidg. Versicherungsgericht habe im genannten Entscheid lediglich den
konkreten Fall einer freiwilligen Leistung des Arbeitgebers beurteilt,
sich jedoch nicht darüber ausgesprochen, wie es sich mit vertraglich
vereinbarten Lohnzuschüssen verhält.

    Im Falle Kretschmann hat sich das Gericht zwar nicht ausdrücklich
zur Frage geäussert, wie vertraglich vereinbarte Lohnzuschüsse im Rahmen
von Art. 74 Abs. 3 KUVG zu beurteilen sind. Aus dem Entscheid geht jedoch
hervor, dass das Gericht der Unterscheidung zwischen freiwilligen und auf
einer Rechtspflicht beruhenden Leistungen des Arbeitgebers grundlegende
Bedeutung beimessen wollte. Diese Differenzierung rechtfertigt sich im
Rahmen von Art. 74 Abs. 3 KUVG in gleicher Weise wie z.B. im zivilen
Schadenersatzrecht, wo Lehre (OFTINGER, Haftpflichtrecht I, S. 161 f.) und
Praxis (BGE 97 II 264 f., 62 II 290) folgende Fälle auseinanderhalten:
Gewährt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer, obwohl dieser nicht arbeitsfähig
ist, dennoch Lohn, so ist diese Leistung ausser acht zu lassen, falls sie
freiwillig erfolgt; sie ist dagegen anzurechnen, d.h. von der Forderung
gegen den Schadenersatzpflichtigen abzuziehen, falls der Arbeitgeber auf
Grund des Dienstvertrages oder der Art. 335 bzw. 324 lit. b OR zu dieser
Leistung verpflichtet war.

    In Ergänzung der bisherigen Praxis ist somit festzuhalten, dass vom
Arbeitgeber auf Grund einer dienst- bzw. arbeitsvertraglichen Vereinbarung
ausgerichtete Leistungen zu dem für die Beurteilung der Überversicherung
massgebenden Verdienst gehören.

Erwägung 4

    4.- Die im vorliegenden Fall zum Verdienst zu rechnende Leistung
der Arbeitgeberin entspricht dem Gesamtbetrag des nicht durch das
SUVA-Krankengeld gedeckten Lohnausfalles. Die Versicherte hat somit während
der fraglichen Zeit keine finanzielle Einbusse erlitten, so dass sich im
Umfange der Rente der Invalidenversicherung eine Überversicherung ergibt.>

    Vom entsprechenden Betrag von Fr. 3200.-- hat die SUVA einen solchen
von Fr. 1344.-- für unfallbedingte Nebenkosten abgezogen. Hiefür
besteht zwar keine gesetzliche Grundlage; es entspricht jedoch
ständiger Praxis der SUVA, aus Billigkeitsgründen derartige Abzüge
vorzunehmen. Das Eidg. Versicherungsgericht sieht sich nicht veranlasst,
hierauf näher einzutreten, zumal die Beschwerdeführerin diesbezüglich
nichts vorbringt. Demnach ergibt sich ein Rückforderungsbetrag wegen
Überversicherung von Fr. 1856.--.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.