Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 106



99 V 106

35. Urteil vom 3. Juli 1973 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Zug gegen
Ausgleichskasse des Kantons Tessin und Versicherungsgericht des Kantons
Tessin betreffend R. Regeste

    Art. 1 Abs. 3 ELG.
   -  Begriff des zivilrechtlichen Wohnsitzes (Erw. 2-4).

    - Provisorische Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistung,
wenn die Frage des leistungspflichtigen Kantons längere Zeit ungelöst
bleibt: Bemerkung de lege ferenda (Erw. 5).

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    A.- Gottlieb R. (geb. 1887) von Zürich und seine Ehefrau Nelly
(geb. 1897) waren in Lugano ansässig. Wegen depressiver Störungen
verbrachte Nelly R. von 1953 bis 1961 bloss rund drei Jahre bei ihrem
Manne und die übrige Zeit in der psychiatrischen Privatklinik Sanatorium
Kilchberg (Zürich). Am 9. Januar 1962, als die Patientin wieder einmal
daheim weilte, starb Gottlieb R.

    Am 30. Januar 1962 hob der in Baar ZG wohnende Bruder Alfred F. den
Heimatschein der Schwester Nelly R. in Lugano ab, hinterlegte ihn in Baar
und besorgte der Patientin ein Zimmer bei ihrer Schwester in Baar. Dort
wohnte die Witwe bis zum 7. Februar 1962 und trat tags daraufwieder ins
Sanatorium Kilchberg ein.

    In der Folge lebte Nelly R. bis anfangs Juli 1967 noch rund ein
Jahr und drei Monate bei ihrer Schwester in Baar und die übrige Zeit im
Sanatorium Kilchberg. Seit dem 19. Juli 1967 weilt sie ununterbrochen
in jener Klinik.

    B.-Am 25. Mai 1971 verlangte Alfred F. bei der Ausgleichskasse
des Kantons Zug für seine Schwester Nelly eine Ergänzungsleistung zur
einfachen Altersrente.

    Die Zuger Kasse überwies das Gesuch der Ausgleichskasse des Kantons
Tessin. Doch bestritt diese am 5. Oktober 1971 ihre Zuständigkeit mit der
Begründung, der Wohnsitz der Versicherten befinde sich seit dem 30. Januar
1962 in Baar.

    C.- Die Zuger Kasse schrieb am 2. November 1971 dem Bruder der
Versicherten und der Tessiner Ausgleichskasse, sie betrachte sich als
unzuständig, und focht gleichentags die Verfügung der Tessiner Kasse vom
5. Oktober 1971 beim Tessiner Versicherungsgericht an.

    Am 27. November 1972 teilte die Zuger Kasse dem Tessiner Gericht mit,
seit dem 19. April 1972 sei Nelly R. nunmehr bei der Einwohnerkontrolle
ihrer Heimatstadt Zürich angemeldet.

    D.- Mit Urteil vom 18. Dezember 1972 pflichtete das Tessiner
Versicherungsgericht der Verfügung der Tessiner Ausgleichskasse bei und
wies die Beschwerde der Zuger Kasse ab.

    E.- Die Ausgleichskasse des Kantons Zug führt rechtzeitig
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und wiederholt, die Versicherte habe ihren
Wohnsitz nach wie vor in Lugano.

    Die Ausgleichskasse des Kantons Tessin hält das kantonale Urteil
für richtig. Hingegen beantragen Nelly R. und das Bundesamt für
Sozialversicherung, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zuständig für die Festsetzung und Auszahlung einer
Ergänzungsleistung zu einer Rente der AHV oder der Invalidenversicherung
ist nach Art. 1 Abs. 3 ELG der Kanton, in dessen Gebiet der Rentenbezüger
seinen zivilrechtlichen Wohnsitz hat. Welcher Kanton das ist, muss im
Streitfalle der Sozialversicherungsrichter entscheiden (EVGE 1969 S. 178
Erw. 2).

    Im vorliegenden Fall ist die Verfügung der Zuger Ausgleichskasse
vom 2. November 1971 unmassgeblich, obschon sie weder von Alfred F. noch
von der Tessiner Ausgleichskasse angefochten worden ist. Weil die Zuger
Kasse am gleichen Tag die Verfügung der Tessiner Kasse vom 5. Oktober
1971 an das Tessiner Versicherungsgericht weitergezogen hat, ist nämlich
die Kompetenz, den für Nelly R. zuständigen Kanton zu bezeichnen, von den
Verwaltungsorganen auf den Richter übergegangen (EVGE 1958 S. 47 Erw. 2,
1960 S. 89 Erw. 4 und 1962 S. 159 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- Auf Grund der Art. 23 und 24 ZGB befindet sich der Wohnsitz einer
Person an dem Orte, den sie für kürzere oder längere Zeit zum Mittelpunkt
ihrer Lebensbeziehungen macht. Anjenem Ort ist der Wohnsitz selbst dann,
wenn sie ihn - zum Beispiel krankheitshalber - vorübergehend verlässt.
Und dort bleibt er so lange erhalten, bis allenfalls anderswo ein neuer
Wohnsitz begründet wird. Das Eidg. Versicherungsgericht verweist auf BGE
69 I 12 und 79, 69 II 277 ff., 89 III 8 Erw. 2, 97 II 3 Erw. 3, 98 V 204
Erw. 2 sowie auf EVGE 1957 S. 97 Erw. 2 und 1958 S. 96.

Erwägung 3

    3.- Nelly R. hatte seit dem 20. Oktober 1961 wieder einmal bei ihrem
Ehemann in Lugano geweilt. Nachdem dieser am 9. Januar 1962 gestorben
war und Alfred F. ihren Heimatschein in Lugano abgehoben hatte, hat sie
Ende Januar 1962 bei ihrer Schwester in Baar Wohnung genommen. Sie ist
am 8. Februar 1962 dann wieder ins Sanatorium Kilchberg zurückgekehrt und
hat am 28. März 1962 der Tessiner Ausgleichskasse persönlich geschrieben,
man solle die Altersrente an ihre Wohnadresse in Baar überweisen. Im
ganzen hat Witwe R. in der Folge bis anfangs Juli 1967 noch die rund
fünfzehn Monate, während welcher sie als aus der Klinik entlassen galt,
und zudem wahrscheinlich auch kurzfristige Urlaube bei der Schwester in
Baar zugebracht. Ununterbrochen hospitalisiert ist die Patientin erst
seit Mitte Juli 1967, wie sich einem Bericht des Sanatoriums Kilchberg
vom 24. November 1972 an die Vorinstanz entnehmen lässt.

    Würdigt man all diese Umstände, so hat die Versicherte mit dem Umzug
von Lugano zu ihrer Schwester den Wohnsitz nach Baar verlegt, wie der
kantonale Richter mit einleuchtender Begründung darlegt.

Erwägung 4

    4.- Demnach muss der Kanton Zug die Ergänzungsleistung festsetzen
und auszahlen, die der Versicherten gestützt auf das Gesuch vom 25.
Mai 1971 allenfalls gebührt. Anscheinend ist die Rente der AHV ihr einziges
Einkommen und hat sie kein Vermögen, wie ihr Bruder Alfred am 27. September
1972 der Vorinstanz geschrieben hat.

    In Kilchberg hat Nelly R. kraft des Art. 26 ZGB nie Wohnsitz zu
begründen vermocht, wie die Vorinstanz zutreffend ausführt. Auch behauptet
weder die Beschwerdeführerin noch der heutige Vertreter der Versicherten,
dass diese seit dem 19. April 1972 ihren Wohnsitz in der Stadt Zürich
habe. Solches ist in der Tat unwahrscheinlich, weil die Patientin sich
seit dem 19. Juli 1967 ununterbrochen im Sanatorium Kilchberg aufhält.

Erwägung 5

    5.- Übrigens klafft in der geltenden gesetzlichen Ordnung eine sozial
unerfreuliche Lücke. Wie der vorliegende Fall zeigt, lässt diese es
geschehen, dass ein Rentenbezüger unter Umständen jahrelang warten muss,
bis auf sein Gesuch um eine Ergänzungsleistung überhaupt eingetreten wird.

    Es obläge dem Gesetzgeber, diese Lücke durch eine entsprechende
Ergänzung des ELG zu schliessen. Denkbar wäre etwa, den vom Rentenbezüger
zuerst angegangenen Kanton zur vorläufigen Festsetzung und vorschussweisen
Auszahlung der Ergänzungsleistung zu verhalten, sofern der laut
Art. 1 Abs. 3 ELG massgebende Wohnsitz umstritten und solange er nicht
rechtskräftig ermittelt ist. Das Eidg. Versicherungsgericht verweist
in diesem Zusammenhang auf Art. 26 Abs. 4 KUVG in Verbindung mit den
Art. 18 und 19 der Verordnung III über die Krankenversicherung sowie auf
die Art. 45bis IVG und 88quinquies IVV.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.