Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 68



99 IV 68

14. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. April 1973
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden gegen Caluori. Regeste

    Bedingter Strafvollzug.

    1.  Art. 41 Ziff. 1 StGB. Beim Entscheid über die Gewährung des
bedingten Strafvollzugs ist die Wirkung gleichzeitig erteilter Weisungen
zu berücksichtigen (Praxisänderung).

    2.  Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB. Es steht nichts entgegen, in die
Prognose bezüglich des Widerrufs des bedingten Strafvollzugs die Wirkung
einer zweiten, zu vollziehenden Strafe einzubeziehen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    II. 2. - a) Das Kantonsgericht hat den Beschwerdeführer am 13. Dezember
1972 zu 45 Tagen Gefängnis verurteilt und ihm den bedingten Strafvollzug
deshalb verweigert, weil ihm 1970 für die Gefängnisstrafe von 12 Monaten
nur mit grössten Bedenken und in der bestimmten Erwartung einer "radikalen
Umkehr" der bedingte Strafvollzug gewährt worden sei, er aber trotzdem
wieder straffällig geworden sei, weshalb nicht erwartet werden könne, er
lasse sich durch eine neue bloss bedingte Strafe von 45 Tagen Gefängnis
von weiteren Straftaten abhalten.

    Anschliessend hat das Kantonsgericht davon abgesehen, den Vollzug der
1970 bedingt ausgesprochenen Gefängnisstrafe von 12 Monaten anzuordnen, mit
der Begründung, wenn Caluori eine Gefängnisstrafe von 45 Tagen zu verbüssen
habe und ihm weiterhin der Vollzug von 12 Monaten Gefängnis drohe, so
bestehe die vom Gesetz geforderte begründete Aussicht auf Besserung.

    b) Die Staatsanwaltschaft rügt den "krassen Widerspruch" zwischen
diesen beiden Entscheiden und beantragt, auch die Vorstrafe von 1970
vollziehbar zu erklären.

    Zur Entscheidung steht damit, ob der Richter in einem solchen Fall
beide Male im gleichen Sinn zu entscheiden hat. Auf den ersten Blick ruft
die Frage einer bejahenden Antwort, zumal die Entscheide über die Gewährung
des bedingten Strafvollzugs (Art. 41 Ziff. 1 StGB) und über seinen Widerruf
(Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB) nach den gleichen Kriterien zu treffen sind
(BGE 98 IV 76). Voraussetzung ist indessen weiter, dass die Grundlagen
für die Voraussage über das künftige Verhalten des Verurteilten dieselben
sind. Die Vorinstanz hat bei der Stellung der Prognose nach Art. 41 Ziff. 3
Abs. 2 nicht, wie bei jener nach Art. 41 Ziff. 1, auf die Verhältnisse im
Zeitpunkt des Entscheides abgestellt, sondern die Wirkung der nachher zu
vollziehenden neuen Strafe von 45 Tagen Gefängnis mitberücksichtigt. Das
ist sachlich gerechtfertigt.

    In BGE 83 IV 65 wurde freilich erklärt, dass der Täter die
Voraussetzungen des bedingten Strafvollzugs bereits nach Art. 41 Ziff. 1
erfüllen müsse, d.h. dass die Wirkung von gleichzeitig erteilten
Weisungen für den Entscheid darüber, ob der bedingte Strafvollzug zu
gewähren sei oder nicht, unbeachtet bleiben müsse. An dieser Auffassung
kann aber nach erneuter Prüfung nicht festgehalten werden. Weisungen und
Schutzaufsicht sind gerade dort erforderlich, wo ohne sie eine erhöhte
Möglichkeit erneuter Straffälligkeit bestände, mit andern Worten, wo die
Prognose allein nach Ziff. 1 keine günstige wäre (vgl. SCHULTZ, ZBJV 1965
S. 12). Wenn zudem der Gesetzgeber in der Novelle vom 18. März 1971 unter
den möglichen Weisungen solche über die Berufsausübung, den Aufenthalt, die
ärztliche Betreuung, den Verzicht auf alkoholische Getränke usw. erwähnt
hat, so ist das offensichtlich aus dem Gedanken heraus geschehen, dass
Vorleben und Charakter in gewissen Fällen nur dann eine günstige Prognose
gewährleisten, wenn der bedingte Strafvollzug mit solchen unterstützenden
Massnahmen verbunden wird (vgl. auch BGE 94 IV 12). Dann aber müssen diese
auch bei Wertung der Besserungsaussichten sowohl nach Ziff. 1 Abs. 1 wie
nach Ziff. 3 Abs. 2 von Art. 41 StGB mitberücksichtigt werden können.

    Ist dem aber so, steht auch nichts entgegen, in einem Fall wie dem
vorliegenden die Wirkung der zweiten, zu vollziehenden Strafe auf den Täter
in die Prognose bezüglich des Widerrufs der ersten Strafe einzubeziehen,
wie das in BGE 98 IV 76 geschehen ist und wie es die Vorinstanz im Fall
Caluori getan hat. Es ist in der Tat nicht ersichtlich, inwiefern dies
Sinn und Zweck des bedingten Strafvollzugs zuwiderlaufen sollte.