Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 57



99 IV 57

12. Urteil des Kassationshofes vom 19. Januar 1973 i.S. Schweizerische
Bundesanwaltschaft gegen Überweisungsbehörde des Kantons Baselland
und Gass. Regeste

    Art. 18 Abs. 2 und 204 StGB. Unzüchtige Veröffentlichung.

    Das zum Vorsatz gehörende Wissen um die Unzüchtigkeit einer
Veröffentlichung ist schon gegeben, wenn der Täter sich bewusst ist,
dass dieselbe auf das Geschlechtliche Bezug hat und deren schriftliche
oder bildhafte Darstellung nach landläufiger Auffassung geeignet ist,
das natürliche Sittlichkeits- und Schamgefühl des durchschnittlichen
Lesers oder Betrachters möglicherweise empfindlich zu verletzen.

Sachverhalt

    A.- Gass ist Geschäftsführer der Kinos "Morgarten" in Basel und
"Roxy" in Birsfelden. Als solcher ist er verantwortlich für die Auswahl
und Aufführung der Filme. In der Zeit vom 26. Dezember 1971 bis 2.
Januar 1972 zeigte er im Kino "Roxy" den Film "Blutjunge Verführerinnen"
in der vom Verleiher bezogenen ungekürzten Originalfassung. Der Film
wird im Reklametext des Verleihers als Darstellung eines "explosiven und
harten Stoffes über die skrupellosen Sexspiele minderjähriger Mädchen"
geschildert, die "ohne jede Scham die Hüllen fallen lassen, um den Mann zu
verführen, der ihnen gefällt", und die "auf der Badematte, im D-Zug oder
Autobus, im Kollektiv in Scheunen, mit Mann und Frau Liebe machen". Er
besteht denn auch in einer ununterbrochenen Folge geschmackloser und
derber Episoden eines angeblichen "Schülerinnen-Reports", in welchen
als minderjährig vorgegebene, von ihrem Geschlechtstrieb beherrschte
Mädchen sich hemmungslos als Verführerinnen an ihre Opfer heranmachen,
um mit ihnen schliesslich nach aufreizenden Entkleidungsszenen in allen
möglichen Stellungen und an zum Teil ausgefallenen Orten den Beischlaf
zu vollziehen oder sich der lesbischen Liebe hinzugeben.

    B.- Ein gegen Gass wegen unzüchtiger Veröffentlichungen nach Art. 204
StGB eingeleitetes Strafverfahren wurde am 21. Juni 1972 durch die
Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Landschaft mangels subjektiven
Tatbestandes eingestellt.

    Auf Beschwerde der Schweizerischen Bundesanwaltschaft hin bestätigte
das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft am 19. September 1972
den vorgenannten Einstellungsentscheid. Es bejahte zwar mit der ersten
Instanz den objektiv unzüchtigen Charakter des Filmes, verneinte jedoch
den Vorsatz.

    C.- Die Schweizerische Bundesanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, der Beschluss des Obergerichtes sei aufzuheben und die
Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Staatsanwaltschaft
anweise, gegen den Beschwerdegegner Anklage wegen Widerhandlung gegen
Art. 204 StGB zu erheben.

    D.- Gass trägt auf Abweisung der Beschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zur Entscheidung steht die Frage, ob der Beschwerdegegner
vorsätzlich gehandelt habe. Die Vorinstanz hat sie verneint. Gass habe
das Wissen um die Unzüchtigkeit des Films bestritten. Er sei auf Grund
des feststellbaren allgemeinen Wandels in der Einstellung zur Sexualität
und der Tatsache, dass der Film in Basel unbeanstandet gezeigt worden
sei, der Auffassung gewesen, dass er sich mit dessen Vorführung noch im
Rahmen des moralisch Verantwortbaren bewege. Er habe also darauf vertraut,
dass der Film nicht unzüchtig sei.

    a) Nach der Rechtsprechung gehört zum Vorsatz gemäss Art.  18 Abs. 2
StGB nur das auf die objektiven Merkmale des Deliktstatbestandes bezogene
Wissen und Wollen, nicht aber auch das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit
oder gar dasjenige der Strafbarkeit (BGE 75 IV 29 E. 3, 43 E. 4, 82 E. 5,
152 E. 2; 80 IV 21, 89 E. d; 82 IV 16; 90 IV 49; 91 IV 29 E. 2). Das
fehlende Unrechtsbewusstsein schliesst deshalb den Vorsatz ebenso wenig aus
wie eine unrichtige rechtliche Subsumtion des Sachverhalts (BGE 50 I 327).

    Das zum Vorsatz gehörende Wissen soll dem Täter den Sinn seines
Handelns deutlich machen. Dieses Verständnis erlangt der Täter bei
Merkmalen, die beschreibender Natur sind (z.B. Mensch, Tier), unmittelbar
mit der sinnlichen Wahrnehmung der Tatsachen. Anders verhält es sich bei
den sog. normativen Tatbestandsmerkmalen (z.B. Unzüchtigkeit einer Handlung
oder einer Veröffentlichung). Hier reicht die blosse Tatsachenkenntnis
nicht aus. Das zum Vorsatz gehörende Wissen verlangt zusätzlich eine
Wertung durch den Täter, die indes mit der im Gesetz liegenden Wertung
bzw. vom Richter geforderten exakten juristischen Subsumtion nicht
übereinstimmen muss. Dem subjektiven Erfordernis des Wissens ist hier
vielmehr Genüge getan, wenn der Täter den Tatbestand so verstanden hat, wie
es der landläufigen Anschauung eines Laien entspricht (sog. Parallelwertung
in der Laiensphäre). Er muss also die Wertung bloss in dem Umfang
vollziehen, der ihm als Nichtjuristen möglich ist. Mehr verlangen hiesse
die Begehung vorsätzlicher Delikte Juristen und solchen Laien vorbehalten,
die mehr oder weniger zufällig juristische Kenntnisse besitzen. Das aber
kann nicht der Sinn des Gesetzes sein (Leipziger Kommentar, 8. Auflage,
N. 3 b und 10 zu § 59 StGB; SCHÖNKE/SCHRÖDER, 16. Auflage, N. 10 und 38
zu § 59 StGB; MEZGER, Strafrecht, 3. Auflage, S. 328 Ziff. 3; HAFTER,
Allg. Teil S. 124 Ziff. IV; SCHULTZ, Bundesgerichtliche Rechtsprechung
über den Sachverhaltsirrtum, ZStR 1961, S. 81 Anm. 23).

    b) Was das normative Tatbestandsmerkmal der Unzüchtigkeit im Sinne
des Art. 204 StGB betrifft, so verlangt es ein gewisses Mindestmass
rechtswidriger Einwirkung, wie es beispielsweise auch im Falle der
grausamen Behandlung nach Art. 134 Ziff. 1 StGB, des grossen Schadens
im Sinne von Art. 145 Abs. 2 StGB oder der schweren Drohung bei der
Erpressung oder nach Art. 180 StGB gefordert wird. Der Täter muss die
rechtswidrige Wirkung nach seiner Laienvorstellung erfassen. Die im Begriff
der Unzüchtigkeit liegende rechtliche Toleranzgrenze braucht er nicht zu
kennen. Es genügt, dass die Wirkung, so wie er sie erkannt und gewollt oder
in Kauf genommen hat, den nach Gesetz strafbaren Grad erreicht hat. Das
zum Tätervorsatz gehörende Wissen ist also schon gegeben, wenn der Täter
sich bewusst ist, dass die Veröffentlichung auf das Geschlechtliche Bezug
hat und deren schriftliche oder bildhafte Darstellung nach landläufiger
Auffassung geeignet ist, das natürliche Sittlichkeits- und Schamgefühl
des durchschnittlichen Lesers oder Betrachters möglicherweise empfindlich
zu verletzen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass das zum Eventualvorsatz
gehörende Bewusstsein, eine Veröffentlichung sei möglicherweise unzüchtig,
auch derjenige haben kann, der nach seinem eigenen Empfinden nichts
Unzüchtiges daran findet. Es genügt zur Erfüllung des Wissenselementes,
dass er die objektive Bedeutung in laienhafter Sicht kennt (Leipziger
Kommmentar, N. 3 zu § 184 StGB). Wollte man nämlich das für massgebend
erachten, was der Täter persönlich für unzüchtig hält, so hätte das zur
Folge, dass ein jeder nach dem Strafrecht zu beurteilen wäre, das er
sich vorgestellt hat. So müsste mangels Vorsatz beispielsweise derjenige
freigesprochen werden, der zu einer unzüchtigen Handlung im Sinne von Art
188 und 191 StGB nötigt, die nach seiner falschen Auffassung noch geduldet
wird; gleicherweise ginge straflos aus, wer die dem Kinde zugefügte
Behandlung noch nicht für "grausam" hält (Art. 134 StGB). Eine derartige
Subjektivierung müsste sich umgekehrt auch zu Ungunsten desjenigen
auswirken, der irrtümlich annimmt, die Strafbarkeit sei in einem Falle
gegeben, wo dies in Wirklichkeit nicht zutrifft (z.B. bei der Annahme,
Unzüchtigkeit werde schon bei einem geringeren Grade von Unsittlichkeit
bejaht oder für eine strafbare Erpressung genüge auch eine geringfügige
Drohung). Aus dem Gesagten erhellt, dass die Frage, von welchem Moment an
das Strafgesetz eingreift, eine solche der rechtlichen Subsumtion ist,
welche vom Vorsatz des Täters nicht erfasst sein muss. Es genügt, dass
der Täter die dem betreffenden Tatbestand eigenen objektiven Tatumstände
und deren tatbestandstypische Bedeutung in laienhafter Sicht kennt.

    c) Im vorliegenden Fall lässt sich den Erwägungen der Vorinstanz
nicht entnehmen, dass sie bei ihrer Annahme, wonach der Vorsatz auch das
Merkmal der Unzüchtigkeit umfassen müsse und diese Voraussetzung bei Gass
nicht erfüllt gewesen sei, den hievor umschriebenen Wissensbegriff zugrunde
gelegt hat. Nach dem Zusammenhang der im angefochtenen Entscheid gemachten
Ausführungen liegt vielmehr der Schluss nahe, dass das Obergericht
bloss von dem zum Tätervorsatz gehörenden Wissen ausgegangen ist und
dem Angeklagten zugute gehalten hat, er habe irrtümlich die rechtliche
Toleranzgrenze verkannt. Dafür spricht einmal der Umstand, dass die
Vorinstanz sich mit dem Wissensinhalt bei normativen Tatbestandsmerkmalen
im angefochtenen Urteil überhaupt nicht auseinandergesetzt hat. Sie
hat gegenteils an die Würdigung des objektiven Tatbestandes, welcher
der Gesetzesbegriff des Unzüchtigen im Sinne der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung zugrunde gelegt wurde, unmittelbar ihre Ausführungen
zum subjektiven Tatbestand angeschlossen und dabei den Begriff des
Unzüchtigen ohne erkennbaren Unterschied zu den vorausgegangenen Erwägungen
verwendet. Der angefochtene Beschluss enthält auch keine Ausführungen
darüber, dass Gass auch nicht etwa eventualvorsätzlich gehandelt hätte. Die
grundlegende Feststellung der Vorinstanz, wonach der Vorsatz nur dann
bejaht werden könne, wenn der Beschwerdegegner sich der Unzüchtigkeit
des Films bewusst gewesen sei, macht deutlich, dass sie sich einzig die
Frage nach dem direkten Vorsatz gestellt und das Wissen um die Möglichkeit
des unzüchtigen Charakters des Films ausser acht gelassen hat; denn wie
bereits in Ziff. 1b oben dargetan worden ist, kann das zum Eventualvorsatz
gehörende Bewusstsein jener Möglichkeit auch derjenige haben, der
nach eigenem Empfinden nichts Unzüchtiges an der Veröffentlichung
findet. Zudem konnte der Beschwerdegegner feststellen, dass der Film
sich in aufreizenden und Abscheu und Widerwillen erregenden Darstellungen
erschöpft, die den Menschen ausschliesslich als begehrliches, völlig von
seinem Geschlechtstrieb beherrschtes Wesen erscheinen lassen. Entsprechend
wies schon der Reklametext des Verleihers unmissverständlich darauf hin,
dass es sich um die Darstellung eines "explosiven und harten Stoffes
über die skrupellosen Sexspiele minderjähriger Mädchen" handelte, die
"ohne jede Scham die Hüllen fallen lassen, um den Mann zu verführen, der
ihnen gefällt". Der Beschwerdegegner bestreitet nicht, dass er um jene
Wirkung des Films wusste. Auch macht das Obergericht keine gegenteiligen
Feststellungen, die darauf schliessen liessen, dass Gass die vom fraglichen
Streifen ausgehende Wirkung irrtümlich geringer eingeschätzt hätte.

    Angesichts dieser Umstände und in Anbetracht der offensichtlichen
Unzüchtigkeit des Films sowie der persönlichen Erfahrung des
Beschwerdegegners auf dem fraglichen Gebiet hätte die Vorinstanz nicht
mit solcher Sicherheit, wie das im angefochtenen Urteil geschehen
ist, den Vorsatz von Gass verneinen dürfen, wenn sie von dem in der
vorangehenden Erwägung umschriebenen Vorsatzbegriff ausgegangen wäre. Am
Gesagten ändert der im angefochtenen Urteil gemachte Hinweis auf den
allgemein eingetretenen Wandel in der Einstellung zur Sexualität so
wenig wie der Umstand, dass der Film andernorts unbeanstandet aufgeführt
worden ist. Dass ein gleicher Einwand in BGE 97 IV 103 und namentlich
in dem nicht veröffentlichten Teil dieses Urteils (S. 12) lediglich im
Zusammenhang mit der Einziehung eines unzüchtigen Films als unerheblich
bezeichnet wurde, besagt keineswegs, dass die entsprechenden Erwägungen
nicht darüber hinaus für die Beurteilung des subjektiven Tatbestandes des
Art. 204 StGB Geltung haben. Vielmehr ist auch hier durchaus beachtlich,
dass die Vorführung eines unzüchtigen Films wegen der möglicherweise
zu lässigen Haltung der zuständigen Aufsichtsorgane oder deswegen
unbeanstandet bleibt, weil Kinobesucher, selbst wenn sie am Film Anstoss
genommen haben, von der Erstattung einer Strafanzeige wegen der damit
verbundenen Unzukömmlichkeiten oder aus der Befürchtung heraus absehen,
sich der öffentlichen Kritik auszusetzen. Diese Erfahrungstatsache ist
jedoch Filmverleihern und Kinobesitzern sehr wohl bekannt.

    Soweit der Beschwerdegegner übrigens auch das Wollen bestreitet, was
er im kantonalen Verfahren nicht ausdrücklich getan hat, begründet er seine
Behauptung nicht näher. Immerhin ist diesem Einwand entgegenzuhalten, dass
bei Bejahung des Wissens um die Unzüchtigkeit des Films im vorliegenden
Fall aus diesem ohne weiteres auch auf das Wollen geschlossen werden
kann. Denn bei der offensichtlichen Unzüchtigkeit des Films kann das
Handeln des Beschwerdegegners vernünftigerweise nicht anders denn als
Billigung der vom Gesetz verpönten Vorführung ausgelegt werden (BGE 92
IV 67 E. 4 a; 80 IV 191 E. 1 d mit Verweisungen).

Erwägung 2

    2.- Ist aber nach diesen Ausführungen die Annahme begründet, dass die
Vorinstanz von einem unrichtigen Wissensbegriff ausgegangen ist und den
Vorsatz deswegen verneint hat, weil der Beschwerdegegner die Unzüchtigkeit
des Films im Rechtssinne nicht in Kauf genommen habe, so liegt darin bloss
die Feststellung eines Irrtums in der Auslegung des Gesetzesbegriffs des
Unzüchtigen, also eines Subsumtionsirrtums, der jedoch den Vorsatz nicht
ausschliesst. Dann aber kann keine Rede davon sein, dass ein Freispruch
des Beschwerdegegners als sicher angesehen werden müsse, wie das nach der
Praxis des Obergerichts für die Bestätigung eines Einstellungsbeschlusses
erforderlich wäre. Der angefochtene Entscheid ist deshalb aufzuheben
und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen mit der Auflage, die
Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung gegen Gass wegen Widerhandlung
gegen Art. 204 StGB zu veranlassen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss
des Obergerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 19. September 1972
aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen
an die Vorinstanz zurückgewiesen.