Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 225



99 IV 225

52. Urteil des Kassationshofes vom 30. November 1973 i.S. W. gegen
Statthalteramt Uster. Regeste

    Art. 27 Abs. 2 SVG, Art. 16 Abs. 2 VRV. Freigabe der Fahrbahn
bedeutet nicht nur die Entfernung des eigenen Fahrzeugs aus dem Bereich
des Dienstwagens, sondern auch die Behebung oder Vermeidung der durch das
eigene Fahrzeug entstehenden Belästigungen, sei es durch Wasser, Schnee,
Staub oder Rauch.

Sachverhalt

    A.- W. steuerte am 21. November 1972 nach 20 Uhr auf der
Forch-Autostrasse seinen Porsche in Richtung Zürich. Er fuhr auf der
rechten Fahrspur mit 95-100 km/h. Da bemerkte er im Rückspiegel, dass
auf der Überholspur ein anderes Fahrzeug mit erheblich grösserer als der
erlaubten Geschwindigkeit von 100 km/h zu ihm aufholte. Er erhöhte seine
Geschwindigkeit auf 120-130 km/h. Als das Fahrzeug noch etwa 10 m hinter
ihm war, sah er, dass an diesem Blaulicht aufleuchtete. In der Annahme,
es handle sich um ein Polizeiauto, verlangsamte er seine Fahrt. Er
drosselte die Geschwindigkeit weiter auf 80-90 km/h, als er erkannte,
dass das nun neben ihm fahrende Fahrzeug ein Krankenwagen war. Dieser
setzte seine Geschwindigkeit ebenfalls herab und fuhr auf etwa 500 m
unmittelbar neben oder leicht gestaffelt hinter W., bis er schliesslich
überholte. Dem Ambulanzfahrer war durch Wasser, das der Porsche von der
regennassen Strasse aufwirbelte, die Sicht behindert worden.

    B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichtes Uster
erklärte W. am 11. April 1973 schuldig der Übertretung der Art. 27 Abs. 2,
32 Abs. 3 lit. b, 35 Abs. 7 SVG und des Art. 16 Abs. 1 VRV und auferlegte
ihm eine Busse von Fr. 70.-. Eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde
Ws. wies das Obergericht des Kantons Zürich am 15. Oktober 1973 ab,
soweit es darauf eintrat.

    C.- Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf
Freisprechung von der Anklage der Übertretung von Art. 27 Abs. 2 SVG und
Art. 16 Abs. 2 VRV und entsprechende Herabsetzung der Busse.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    Gemäss Art. 27 Abs. 2 SVG ist den Feuerwehr-, Sanitäts- und
Polizeifahrzeugen beim Wahrnehmen der besondern Warnsignale die Strasse
sofort freizugeben; Fahrzeuge haben nötigenfalls anzuhalten. Nach Art. 16
Abs. 2 VRV müssen die Fahrzeugführer mit der gebotenen Vorsicht auf
das Trottoir ausweichen, wenn es zur sofortigen Freigabe der Fahrbahn
unerlässlich ist.

    Es steht fest, dass der Angeklagte die rechte, der Krankenwagen die
linke Fahrspur befuhr. W. schliesst daraus, dass die Fahrbahn frei gewesen
sei und daher nicht habe freigegeben werden müssen.

    Wörtlich genommen würde der Ausdruck "Freigabe der Strasse" bedeuten,
dass jeder Fahrzeugführer beim Nahen eines vortrittsberechtigten
Fahrzeugs wenn möglich die Strasse zu verlassen habe. Diese Auslegung
wäre unsinnig. Welche Massnahmen nach Art. 27 Abs. 2 SVG und 16 Abs. 2
VRV zu ergreifen sind, hängt von den Umständen ab. Diesen Bestimmungen
liegt der Gedanke zugrunde, dass die Fahrzeuglenker die Fahrt der sich
als solche ankündigenden vortrittsberechtigten Fahrzeuge erleichtern
müssen und jedenfalls in keiner Weise behindern dürfen. Die Freigabe der
Fahrbahn bedeutet nicht nur die Entfernung des eigenen Fahrzeugs aus dem
Bereich des Dienstwagens, sondern auch die Behebung oder Vermeidung der
durch das eigene Fahrzeug entstehenden Belästigungen, sei es durch Wasser,
Schnee, Staub oder Rauch.

    Überholt ein nach Art. 27 Abs. 2 SVG privilegiertes Dienstfahrzeug auf
einer zweispurigen Fahrbahn, so genügt der Überholte in der Regel seinen
Pflichten, wenn er hart am rechten Strassenrand fährt. Indessen können
die Umstände weitere Massnahmen erfordern. Ist die Strasse so nass, dass
der Fahrer des Dienstfahrzeugs durch vom überholten Fahrzeug aufgeworfene
Gischt in der Sicht behindert wird oder das Überholmanöver wegen der bei
höherer Geschwindigkeit grösseren Gleitgefahr als gefährlich erscheint, so
hat der Überholte seine Fahrt derart zu verlangsamen, dass er unbehindert
und gefahrlos überholt werden kann. Das hat W. unterlassen. Dass er
sich an die rechte Strassenseite hielt und dass der Krankenwagen kein
Hindernis vor sich hatte, schliesst eine Widerhandlung gegen Art. 27
Abs. 2 SVG nicht aus.

    Der Beschwerdeführer behauptet, es sei technisch unmöglich gewesen,
dass sein Porsche die Windschutzscheibe des neben ihm fahrenden Fahrzeugs
besprühte. Damit stellt er eine tatsächliche Feststellung der Vorinstanz
in Frage, was mit Nichtigkeitsbeschwerde unzulässig ist (Art. 273 Abs. 1
lit. b, 277 bis Abs. 1 BStP). Es ist im übrigen nicht erstellt, dass
die beiden Fahrzeuge sich genau auf gleicher Höhe befanden. Nach dem
angefochtenen Urteil ist die Ambulanz auf 500 m ungefähr auf gleicher
Höhe oder leicht gestaffelt hinter dem Beschwerdeführer gefahren.

    Um Missverständnissen vorzubeugen, sei beigefügt, dass W. Art. 27
Abs. 2 SVG nicht verletzt hat, indem er beschleunigte, als er hinter sich
ein Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit nahen sah. In jenem Zeitpunkt
konnte er das Drehlicht noch nicht wahrnehmen, das erst eingeschaltet
wurde, als die beiden Fahrzeuge noch etwa 10 m voneinander entfernt waren.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.